01. März 2023
Der senegalesische Regisseur Ousmane Sembène ist als Vater des afrikanischen Kinos in die Geschichte eingegangen. Sein Werk verschrieb sich unverhohlen der Befreiung der afrikanischen Arbeiterklasse. Bis heute zeugen seine Filme vom Potenzial politischer Kunst.
Ousmane Sembène am Set von »Guelwaar«, 1992.
IMAGO / Ronald GrantDieses Jahr wäre der senegalesische Filmemacher Ousmane Sembène einhundert Jahre alt geworden. Er wird zu Recht als »Vater des afrikanischen Kinos« bezeichnet, auch wenn er selbst Vorbehalte gegen diesen Titel hegte. Sembènes Einsatz für die senegalesische Bevölkerung und für das Wohlergehen aller afrikanischer Menschen machte ihn unbestreitbar zu einem der bedeutendsten Regisseure der Filmgeschichte.
Sembènes hatte sich der Aufgabe verschrieben, das Leben der Menschen im Senegal authentisch wiederzugeben, wobei er dem Kapitalismus, dem Kolonialismus und dem Patriarchat stets kritisch gegenüberstand. Der Sohn eines Fischers verbrachte seine späte Jugend und sein frühes Erwachsenenalter zunächst als Hilfsarbeiter, nachdem er vorzeitig von der Schule verwiesen wurde, weil er angeblich handgreiflich gegen einen Lehrer geworden war. Sembène war siebzehn Jahre alt, als das französische Vichy-Regime unter Marschall Philippe Pétain vor Adolf Hitler kapitulierte. Der von US-Truppen besetzte Senegal entging zwar der Vichy-Herrschaft, doch der spätere Schriftsteller und Filmemacher Sembène wurde an die nordafrikanische Front geschickt, wo Schwarze Truppen bekanntermaßen am härtesten getroffen wurden.
Nach seiner Rückkehr in den Senegal arbeitete Sembène bei der Eisenbahn. Er beteiligte sich an Streiks, die sich von Dakar bis Abidjan ausbreiteten. Der Modernist sah in der Proletarisierung der afrikanischen Bevölkerungen auch eine Veränderung ihres Weltverständnisses und ihrer Einstellung zueinander: »Sie begannen zu verstehen, dass die Maschine aus ihnen eine ganz neue Art von Menschen machte. « Ein Eisenbahnerstreik sollte die Inspiration für seinen berühmtesten Roman, Gottes Holzstücke, liefern. Im Alter von 25 Jahren verließ er die Eisenbahn von Dakar und wechselte in die Docks von Marseille. Dort trat er der kommunistischen Gewerkschaft CGT bei. Er stürzte sich sowohl in militante Auseinandersetzungen als auch in sein Studium – bevor er sich bei der Arbeit in den Docks eine schwere Rückenverletzung zuzog.
Obwohl er als Regisseur bekannt wurde, war die Literatur Zeit seines Lebens Sembènes große Liebe. Mehrere seiner Filme wurden zunächst entweder als Kurzgeschichten oder als Romane veröffentlicht. Im Alter von 37 Jahren hatte er zwei Romane und eine Novelle publiziert. Gottes Holzstücke erschien 1960 am Vorabend der senegalesischen Unabhängigkeit. Sembènes Arbeit war das Produkt kosmopolitischer und internationalistischer Dynamiken, die ihn persönlich begeisterten, aber von der Mehrheit seiner Landsleute ironischerweise unbeachtet blieben. So musste er feststellen, dass es aufgrund des weit verbreiteten Analphabetismus unter der nun freien Bevölkerung kaum ein Publikum für seine literarische Arbeit gab. Dies brachte den Marxisten Sembène in eine schwierige Lage: Einerseits wollte er mit seiner Arbeit direkt zu den einfachen Menschen sprechen. Gleichzeitig war das Medium Buch, in dem er diese Arbeit produzierte, für weite Teile seines Zielpublikums schlichtweg nicht erschließbar.
Sembène entschied sich daher für das Kino und bewarb sich an internationalen Filmschulen. Schließlich wurde er vom Gorki-Studio in Moskau angenommen, wo er mit dem renommierten sowjetischen Regisseur Mark Donskoi zusammenarbeitete. Nach seiner Rückkehr hatte Sembène ein einziges Ziel: Er wollte den ersten Subsahara-Film, der von einem Afrikaner gedreht wurde, produzieren – was ihm mit Borom Sarret 1963 auch gelang. Er arbeitete intensiv an einer populären Kunstform, die die Bürgerinnen und Bürger seiner jungen Nation direkt ansprechen sollte. Er tourte mit Projektoren durch abgelegene Dörfer, stellte dort Stühle auf und veranstaltete Diskussionen bis spät in die Nacht. Diese »Nachtschulen« zielten darauf ab, unter den Armen und der Arbeiterklasse Senegals Debatten anzuregen. Dort wurde das Patriarchat infrage gestellt, die politische Elite Senegals kritisiert, das Klassenbewusstsein gestärkt und die in Afrika heimische kosmopolitische und pluralistische Kultur zelebriert.
Vor Sembènes hatte sich im Senegal bereits seit 1905 eine bedeutende, allerdings auch stark diskriminierende, Kinokultur entwickelt. Während der Kolonialzeit dienten Filme dazu, die kolonialen Ziele Frankreichs zu bekräftigen, koloniale Stereotype über afrikanische Menschen zu verstärken sowie gleichzeitig die Überlegenheit europäischer Menschen und ihrer wirtschaftlichen Projekte in der Region zu verherrlichen. In den Kinos herrschte eine strikte Rassentrennung, und die ausgewählten Filme, die einem afrikanischen Publikum vorgeführt wurden, waren streng zensiert. Zwei französische Unternehmen hatten das Monopol auf Kinos und Filmvorführungen im Senegal und bauten in den großen Städten Filmhäuser für ein elitäres (sprich: weißes) Publikum. Auf dem Land konnte das Publikum jedoch teilweise mit mobilen Kinos versorgt werden, die oft von unabhängigen Anbietern und Filmschaffenden gesponsert wurden.
Nach Borom Sarret nahm Sembènes Karriere als Regisseur Fahrt auf. Innerhalb von neun Jahren produzierte er drei brillante Filme: Die Schwarze aus Dakar (1966), Mandabi (1968) und Xala (1975). Er selbst fand sich dabei im Spannungsfeld zwischen einer französischen Filmindustrie, die zwar bereit war, seine Werke zu finanzieren, aber darauf bestand, dass die westafrikanische Sprache Wolof auf Französisch synchronisiert werden müsse, und einer senegalesischen Regierung, die versuchte, seine Arbeit zu zensieren. Sembènes frühe Karriere war deswegen von Versuchen geprägt, die diversen politischen und bürokratischen Hürden möglichst geschickt zu umschiffen. Gleichzeitig sorgte sein wachsender Ruhm für ein exponentielles Wachstum der senegalesischen Filmindustrie. Nachdem einheimische Filmschaffende Druck auf die Regierung von Präsident Léopold Senghor machten, wurden die in französischem Besitz befindlichen Verleihfirmen durch das staatliche Unternehmen SIDEC (das »Senegalesische Unternehmen für Import, Vertrieb und Vorführung von Kinofilmen«) ersetzt. Dieses finanzierte einige von Sembènes frühen Filmen und leitete so den Beginn des Goldenen Zeitalters des senegalesischen Kinos ein.
Das SIDEC förderte die lokale Filmindustrie mit dem Bau neuer Kinos in größeren und kleineren Städten im ganzen Senegal. Auf dem Höhepunkt hatte das Unternehmen mehr als achtzig Kinosäle im ganzen Land. Die von der Regierung mitfinanzierte Filmproduktion entwickelte sich ähnlich rapide und brachte Filme wie Djibril Diop Mambétys Debüt Touki Bouki (1973) und Safi Fayes bewegendes Drama Nachrichten aus dem Dorf (1976) hervor. Letzterer war der erste kommerziell vermarktete Film einer schwarzafrikanischen Frau.
Sembène selbst konnte leider nicht alle Früchte dieser neu florierenden Filmindustrie ernten. Nach schwerer Kritik an seiner Produktion Ceddo (1977) sah er sich gezwungen, zwischenzeitlich keine weiteren Filme zu drehen. Der »Dichterpräsident« Senghor, wie er sich selbst gerne nannte, verbot den Film – offiziell wegen der falschen Schreibweise des Titels. Ceddo, was in etwa »diejenigen, die sich weigern, sich zu ergeben« bedeutet, ist eine Kritik an den muslimischen und christlichen Eliten des Landes. Der Film nimmt die Perspektive animistischer Bewohnerinnen und Bewohner eines Dorfes ein und enthüllt die Mitschuld der Eliten an Sklaverei, Kolonialismus und der Zerschlagung des vorher existierenden religiösen Pluralismus. Für diese »Sünde« wurde Sembène fast ein Jahrzehnt lang zur filmischen Inaktivität gezwungen, bevor er mit dem ambitionierten Kriegsfilm Das Camp der Verlorenen (1988) zurück auf der Bildfläche erschien.
Anfang der 1990er Jahre litt der Senegal wie viele andere afrikanische Länder unter dem Wirtschaftsschock und der langen Schuldenkrise des vorangegangenen Jahrzehnts. Die Regierung bat den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank um finanzielle Unterstützung. Eine der Bedingungen, die an die Vergabe der Kredite geknüpft waren, waren sogenannte Structural Action Policies, die unter anderem die senegalesische Filmindustrie empfindlich treffen sollten. Bei den Structural Action Policies handelte es sich um Austeritätsmaßnahmen, die Kürzungen bei staatlichen Dienstleistungen sowie die Veräußerung von vormaligen SIDEC-Kinos an private Investoren vorsahen.
Die im Gegenzug bewilligten Kredite dienten der Wahrung und Stärkung ausländischer Interessen auf Kosten der Interessen der einfachen senegalesischen Bevölkerung. Ousmane Sembène brachte seine Frustration über diese ausbeuterischen Kredite in Guelwaar (1992) zum Ausdruck. In dem Film wird der gleichnamige Protagonist (der an Thomas Sankara angelehnt ist) von der Regierung hinterrücks ermordet, nachdem er in einer flammenden Rede die ausländische Entwicklungshilfe kritisiert hat.
Sembène gehörte zu den wenigen Regisseuren, die ihren Wohlstand und ihre Verbindungen nach Europa nutzen konnten, um neue Filme zu finanzieren. In seinen späteren Schaffensjahren unterstützten beispielsweise der britische Sender Channel 4 und der französische Sender Canal Plus seine Projekte. Für den Rest des Landes waren die Auswirkungen des ausländischen Einflusses und der Austeritätsmaßnahmen verheerend. Ihr Nachhall ist bis heute zu spüren: Ehemals in Staatsbesitz befindliche Kinos wurden nach dem Übergang in Privatbesitz schnell in Wohnimmobilien oder Einkaufszentren umgewandelt. Aktuell sind landesweit nicht einmal mehr zehn Kinos in Betrieb. Die Filmproduktion ging ebenfalls drastisch zurück, da die Filmschaffenden fast ausschließlich von der Finanzierung durch ausländische Vertriebs- und Produktionsfirmen abhängig wurden.
Heute versucht man im Senegal, den entstandenen Schaden an der Filmindustrie wiedergutzumachen. Es werden neue Kinos eröffnet und die staatlichen Mittel für die Filmproduktion wurden erhöht. Das Erbe der früheren Filmindustrie lebt indirekt durch die starke Präsenz französisch-senegalesischer Filmschaffender weiter, die es regelmäßig auf die Nominierungslisten der großen Filmfestivals der Welt schaffen. In den vergangenen Jahren zeigt sich somit eine Weiterführung des bahnbrechenden Werks von Sembène; sei es in Mati Diops (der Nichte von Djibril Diop Mambéty) brillantem Atlantique (2019) oder in Alain Gomis‘ melancholisch-schmerzhaftem Félicité (2017). Beide Filme erhielten euphorische Kritiken und internationale Auszeichnungen. Gomis und Diop gehören zu den ersten senegalesischen Filmschaffenden, deren Werke bei den Oscars für den besten fremdsprachigen Film eingereicht wurden.
Von außen betrachtet könnte es so aussehen, als ob jede Tür, die Ousmane Sembène für die Zukunft des afrikanischen Kinos aufgestoßen hatte, hinter ihm umso fester zugeschlagen wurde. Die Austerität belastete und schwächte die Filmindustrie auf dem gesamten afrikanischen Kontinent, während das europäische und amerikanische Kino immer weiter expandierte und die verbleibenden Filmmärkte dominierte. Bei der Erinnerung an Sembène kann daher gerade aus Sicht afrikanischer Filmschaffender zu Recht die Schwächung und Abwertung seines Erbes in den vergangenen Jahrzehnten beklagt werden.
Doch im Mittelpunkt von Sembènes Vision stand stets ein optimistischer Blick auf die Zukunft des afrikanischen Kinos und der Kultur. Diese Vision einer starken afrikanischen (Film-)Kultur mag nicht mehr so hell leuchten wie einst, aber sie ist nicht erloschen.
Tsogo Kupa ist Autor und Filmemacher. Er lebt in Johannesburg.