22. August 2024
Bei den kommenden Landtagswahlen in Thüringen tritt der Linke-Politiker Leon Walter in Greiz an - demselben Wahlkreis, in dem auch der Thüringer AfD-Chef Björn Höcke kandidiert. Wie das seinen Wahlkampf beeinflusst und wie er sich für die Menschen vor Ort einsetzen will, erzählt er im Gespräch mit JACOBIN.
Leon Walter will vor allem Politik für die Jungen und Alten in seinem Wahlkreis machen.
Die Linke in Thüringen befindet sich nicht im besten Zustand. Umfragen prognostizieren einen massiven Stimmenverlust bei den bevorstehenden Landtagswahlen in Thüringen. Bodo Ramelow regiert hier seit Jahren als Ministerpräsident in einer deutschlandweit einzigartigen Konstellation. Leon Walter, der für die Thüringer Linke im Landkreis Greiz zur Wahl steht, erfuhr erst nach seiner Kandidatur, dass Thüringens AfD-Chef Björn Höcke in seinem Wahlkreis antreten wird.
Im Interview mit JACOBIN erzählt Walter, warum er glaubt, dass der Anstieg der Rechten nicht auf ein Scheitern des »Thüringer Weges« zurückzuführen ist und warum er trotz allem optimistisch für eine Verbesserung der Lebensumstände in seiner Heimat kämpft.
Wie bist Du zur Partei gekommen und warum hast Du Dich entschieden, bei der Landtagswahl zu kandidieren?
Ich komme aus einer Familie, die von der Agenda-Reform gebeutelt war. Das hat mich schon früh politisiert. Mit fünfzehn bin ich in Die Linke eingetreten und habe nach und nach angefangen, mich zu engagieren. Die Linksjugend wollte zur Landtagswahl wieder Jugendkandidierende nominieren und ich wurde gefragt, ob ich kandidieren möchte. Ursprünglich wollte ich ohne Wahlkreis kandidieren, aber dann ist mir zugetragen worden, dass der Wahlkreis 40 in Greiz noch frei ist – aus der Ecke komme ich.
Björn Höcke ist aus seinem Wahlkreis in Eichsfeld in Deinen Wahlkreis in Greiz als Direktkandidat gewechselt. Wie hat das Deinen Wahlkampf beeinflusst?
Ich hatte damit gerechnet, dass die AfD ihren komplett farblosen Kreissprecher aufstellt und wollte deswegen einen auf die CDU fokussierten Wahlkampf machen. Der Landkreis Greiz hatte 34 Jahre lang eine rechtspopulistische CDU-Landrätin, die von allen sozialen Themen abgelenkt hat, indem sie auf die Landesregierung geschimpft und mit dem Narrativ »die nehmen uns alles weg« gegen Ausländer gehetzt hat. Mit dem Anheizen des Kulturkampfes, wie es die CDU gerade im großen Stil betreibt, ist die Landrätin im Landkreis Greiz leider schon die letzten Jahrzehnte erfolgreich gefahren. Damit hat die CDU Höcke perfekt den Boden bereitet.
Die CDU betrachtet mich nach ihrer eigenen Einschätzung als einen relevanten Gegner. Mit den anderen Parteien pflege ich einen kollegialen Umgang, während der Kandidat der CDU mich nicht mal grüßt oder mit mir redet. Ich habe mich von Anfang an nicht auf den rechten Kulturkampf eingelassen und mir die drei Hauptthemen Jugend, Senioren und allgemeine Daseinsvorsorge gesetzt. Denn der Landkreis Greiz hat das Problem, dass massiv junge Menschen abwandern. Die Landrätin (man kann wirklich die meisten Probleme hier auf sie und ihre lange Herrschaft zurückführen) hat systematisch Beteiligungsmöglichkeiten für junge Menschen – wie Jugendclubs – durch immer weniger Fördermitteln im Haushalt langfristig abgetötet.
»Höcke war jetzt einmal bei einem Infostand – ich mache schon seit Wochen Infostände und bei ihm war auch nicht mehr los als bei mir.«
Was Seniorinnen und Senioren angeht, werden Fördermittel hier im Kreis nicht abgerufen, die für barrierefreien Wohnraum gedacht sind. Der Landkreis hat sich geweigert, ein Programm von der Landesregierung für alleinstehende ältere Menschen umzusetzen. Dabei sind wir einer der Landkreise, die in den nächsten Jahren mit einer krassen Überalterungen zu tun haben werden. Jetzt mag einer sagen: Ihr regiert doch in Thüringen seit zehn Jahren! Nein, wir haben hier wirklich einen Landkreis mit einer Landrätin, die massiv alles, was vom Land gekommen ist, blockiert hat. Deswegen brennt es hier an jeder Ecke.
Wie erlebst Du die Stimmung in Greiz zur Kandidatur von Björn Höcke? Wie hat sich die politische Landschaft in den letzten Jahren verändert?
Sehr gemischt. Einerseits sind da die überzeugten Rechtsradikalen, die jetzt mit geschwollener Brust gehen, weil sie im »Führerwahlkreis« sind. Und dann gibt es noch diejenigen, die man meistens abwertend als Protestwählende bezeichnet, die mir aber sagen: »Wir haben auch schon mal AfD gewählt, aber jetzt, wo wir direkt mit Höcke konfrontiert sind, haben wir ein mulmiges Gefühl dabei.« Letztere Gruppe versuche ich damit abzuholen, dass ich noch jung bin, was »Ordentliches« gelernt habe und im Gegensatz zu all meinen Konkurrierenden nicht schon seit mitunter Jahrzehnten in der Berufspolitik bin. Mit Blick auf die allgemeine Stimmung in der Stadt hat es tatsächlich einen mobilisierenden Effekt auf die Leute in der Zivilgesellschaft und die anderen Parteien gehabt.
Höcke war jetzt einmal bei einem Infostand – ich mache schon seit Wochen Infostände und bei ihm war auch nicht mehr los als bei mir. Ich habe von diversen Leuten Appelle bekommen, meine Kandidatur zugunsten einer gemeinsamen demokratischen Kandidatur zurückzuziehen oder das zu meinen Gunsten zu machen. Aber ich habe die Vermutung, dass Höcke diesen Wahlkreis schon abgeschrieben hat. Er hat zwei Direktkandidaten im Wartburgkreis, die ausreichend Direktmandate gehabt hätten, aus der Partei und von der Liste gekickt. Er hat sich damit, sollte die AfD wirklich viele Direktmandate abräumen, seinen Listeneinzug gesichert.
Was hast Du befürchtet und was ist Dir bisher im Wahlkampf tatsächlich passiert?
Unmittelbar nach der Veranstaltung mit Höcke, im Rahmen seiner Thüringentour, für die er überall Kinderfeste angemeldet hat, die im Grunde einfach nur »Der Führer spricht, das Volk hat zuzuhören«-Events waren, gab es überall dieselben Berichte: Wahlplakate wurden abgerissen, lokale Angehörige von demokratischen Parteien wurden angepöbelt, und in der ganzen Stadt sind rechte Sticker aufgetaucht, nicht mal AfD-Sticker, sondern Sticker aus dem Online-Shop vom neonazistischen Tommy Frenck zum Beispiel.
Ich selbst bin unmittelbar nach einem Demokratiefest, was parallel dazu stattgefunden hatte, auf dem Weg ins Büro bedroht worden. An der Straßenseite quer gegenüber stand ein Mob von fünfzehn Personen, viele Anfang zwanzig, einige auch schon jenseits der vierzig. Die haben mir meinen Name hinterher gebrüllt und »Wir kriegen dich«. Ein Genosse hat sich mit seinem Auto vor den Eingang gestellt, damit sie nicht rein konnten.
Die Polizei stand gegenüber und hat erst mal zugeguckt, bis sie dann nach ein paar Minuten eingeschritten sind und die Leute weitergeleitet haben. Aber am nächsten Tag hatte ich auf mehreren Wahlplakaten Sticker mit der Aufschrift »I love NS«. Im ganzen Stadtgebiet sind dann Sticker mit einem Reichsadler aufgetaucht, auf denen stand »Deutsches Reichsgebiet«. Das hat sich überall nach diesen Veranstaltungen gezeigt.
Die Linke ist in Thüringen schon eine Weile in der Regierung. Was war in den letzten Jahren die wichtigste Maßnahme, die Ihr umsetzen konntet, die es jetzt am meisten zu verteidigen gilt?
Es sind vor allem die ganzen sozialen Programme zu nennen, die es gab. Da ist das »Landesprogramm Solidarisches Zusammenleben«, das Landesprogramm Agathe, die Investitionen in Infrastruktur und in die Kommunen. Jetzt wird aber schon wieder von mancher Seite mit der Schwarzen Null geliebäugelt. Die CDU würde die beiden beitragsfreien Kindergartenjahre, die es in Thüringen gibt, wieder wegkürzen und damit Familien wieder deutlich stärker belasten.
»Ich erlebe das BSW gar nicht, diese Partei macht keinen Wahlkampf. Sie machen keine Infostände, keine Haustürgespräche, gar nichts.«
Es gibt leider nicht diese paar großen schimmernden Leuchtturmprojekte, auf die wir blicken können. Es sind aber sehr viele kleine Dinge, die enorm vielen Menschen im Freistaat ihr Leben erleichtern, was unter einer CDU- oder AfD-Regierung oder auch einer, wo das BSW drin sitzen könnte, wegkommen würden.
Wie erklärst Du Dir, dass gerade unter einem linken Ministerpräsidenten die extreme Rechte in Thüringen so stark werden konnte? Ist das ein Ausdruck des Scheiterns? Erlebst Du das als eine Art Niederlage oder Versagen?
Seit Anfang der 2000er werden jährlich im sogenannten Thüringen Monitor bestimmte Einstellungen in der Bevölkerung erfasst. Und seitdem es das gibt, wurde immer ein rechtsradikales Personenpotenzial im Freistaat von um die 30 Prozent angegeben. Bis zum Aufstieg der AfD sind diese Leute nicht wählen gegangen. Sie waren aber mehr oder weniger immer da, mitunter schon vor der Wende. Diese Leute haben ihre parlamentarische Repräsentation in der AfD gefunden und gehen jetzt wählen.
Ich bin kein Freund von dem, was sich das Innenministerium – auch unter unserer Regierung und dem Innenminister – insbesondere bei der Kriminalisierung von Antifaschistinnen und Antifaschisten in der Vergangenheit geleistet hat, auch mit Blick auf den vergangenen Ersten Mai in Gera. Einige Landräte und Oberbürgermeister haben aktiv die Augen davor verschlossen, dass es bei ihnen vor Ort ein Problem gibt. Denn im Zweifel kommt es ja in der Stichwahl auch auf Stimmen aus diesem Milieu an – vor allem für bestimmte CDUler.
Der Verfassungsschutz wurde in Thüringen runtergefahren als Reaktion auf das fundamentale Versagen beziehungsweise die tatsächliche Unterstützung, die er für den NSU bereitgestellt hat. Die Behörden sagen, mit ein paar Jahren Verspätung, was die Antifastrukturen schon fünf bis zehn Jahre vorher wussten.
Inwiefern spielen Ideen oder gar Zielvorstellungen wie Sozialismus für Die Linke in Thüringen eine Rolle?
Ich bin dafür, dass man wieder offensiver mit diesem Begriff umgehen sollte. Es hat mich positiv überrascht, dass Bodo Ramelow auf seinen Wahlplakaten offen mit »Christ und Sozialist« wirbt. Der Sozialismus ist natürlich ein breit aufgeladener Begriff. Aber seine Verwendung muss auch mit einer kohärenten politischen Praxis einhergehen, die vorzeigen kann, was das faktisch bedeutet. Gutes Beispiel ist Österreich, wo eine Partei, die sich offen kommunistisch nennt, auch nicht mehr verteufelt wird, indem sie sagt: Wir machen kommunistische Politik, wir helfen den Leuten. So sollte die Linkspartei meiner Meinung nach mit dem Sozialismusbegriff umgehen.
Erlebst Du das BSW, das nun das erste Mal zur Landtagswahl antritt, als Konkurrenz? Nach den derzeitigen Umfragen könnte es keine Regierung mit Beteiligung der Linken geben, wenn sie nicht mit der CDU oder dem BSW zusammengeht, vorausgesetzt es koaliert tatsächlich niemand mit der AfD. Würdet Ihr mit dem BSW zusammen regieren?
Ich erlebe das BSW gar nicht, diese Partei macht keinen Wahlkampf. Es tauchen immer mal Plakate auf und es gibt Kundgebungen mit Wagenknecht in Thüringen, auf Facebook schalten sie einen Haufen Online-Anzeigen – das war’s! Sie machen keine Infostände, keine Haustürgespräche, gar nichts. Auf deren Liste sind zum Teil Leute, die in der Linkspartei, bei der SPD oder den Grünen keinen Job mehr bekommen haben, teilweise mehr als zurecht.
Ich muss den Leuten am Infostand oft einfach erklären, dass die Wagenknecht nichts mehr mit uns zu tun hat und dass man Die Linke wählen muss, wenn man den Ramelow weiter haben will. Auf der BSW-Liste ist ein ehemaliger Bürgermeister von der Linkspartei, der Schwimmbäder und Kindergärten geschlossen hat, abgewählt wurde und danach verkündet hat, er trete aus der Linkspartei aus, weil er selbst sehr beliebt sei und ihm nur sein Parteibuch geschadet habe.
»Es muss darum gehen, aus dem Frust Solidarität zu machen.«
Vor kurzem gab es eine kleine Reportage in der Zeit über die Arbeit des Thüringer BSWs, kürzlich auch ein Interview mit Katja Wolf, was Tilo Jung geführt hat, wo man genau nachvollziehen konnte, wie straff zentralistisch diese Partei geführt wird. Man kann nicht sagen, ob man mit denen zusammenarbeiten kann. Das wird von der persönlichen Laune von Sarah Wagenknecht nach dem 1. September abhängen.
Es ist zumindest gut möglich, dass Die Linke sich nach der Wahl in der Opposition befinden wird. Solltest Du in den Landtag gewählt werden, wie würdest Du dort agieren? Was sind aus Deiner Sicht die Themen, die auf Landes- aber auch auf Bundesebene entscheidend sein werden?
Ich arbeite bislang als Sachbearbeiter im Jugendamt und eine meiner ersten Amtshandlungen wäre, mit allen größeren Trägern der Jugendhilfe und allen Amtsleitern von den Jugendämtern konkrete Perspektiven zu diskutieren. Ich würde einen engen Austausch zu der Industrie- und Handelskammer suchen, um rauszubekommen, wie es da mit der Situation der Auszubildenden aussieht. Ich würde auch bei den Jugendausbildungsvertretungen der Gewerkschaften versuchen, einen Fuß reinzukriegen. Junge Menschen sind von vielen Dingen zurecht frustriert und damit Leute hier bleiben und einen Ausbildungsberuf machen, muss man auch mal unkonventionellere Begünstigungsmaßnahmen ergreifen. Ich bin dafür, alle Azubis kostenlos mit dem ÖPNV fahren zu lassen. Oder ich würde versuchen für die, die in einem kleinen Ort wohnen, über einen umlagefinanzierten Ausbildungsfond eine Finanzierung auf die Beine zu stellen, damit es Zuschüsse zum Führerschein gibt. Thüringen hat ein hervorragendes Petitionsrecht, wo solche Dinge möglich sind – es nutzt nur leider kaum jemand und das ist ein gewaltiges Problem.
Wir haben unter Rot-Rot-Grün massiv Methoden geschaffen, um mehr demokratische Mitbestimmung zu ermöglichen. Aber das wird kaum genutzt – so viel zu der These, die Steffen Mau zum Osten aufgestellt hat: »Alles wird gut, wenn man mehr Demokratisierung schafft«. Wir haben in Thüringen massiv Mitbestimmungsmöglichkeiten ausgebaut, aber sie werden nicht genutzt. Ich sage immer scherzhaft, mein Ziel müsste sein, aus Greiz Graz zu machen. Ein löbliches Beispiel ist meine Genossin Anja Müller aus Bad Salzungen, die regelmäßig ein »Restaurant der Herzen« aufmacht, wo einmal pro Monat kostenlos Essen verteilt wird. Mit solchen kleinen Dinge kann man eine hegemoniale Position vor Ort einnehmen. Die AfD ist die einzige Partei, die auch den öffentlichen Raum besetzt. Die Besetzung des öffentlichen Raumes ist ein wichtiger Faktor, der oft vergessen wird, das habe ich mir auf die Fahne geschrieben.
Du klingst sehr optimistisch, aber bist Du besorgt über die Zukunft in Ostdeutschland, wenn Du auf die Umfragen schaust?
Natürlich bin ich besorgt, aber ich gehe nach dem Slogan »Optimismus des Willens, Pessimismus des Verstandes«. Man muss diesen Grundoptimismus haben, dass man mit einer linken Politik positive Veränderungen bewirken kann, selbst wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse mehr als schwierig sind. Es muss darum gehen, nicht aus dem Frust Hass, sondern Solidarität zu machen.