21. Juli 2023
Gut ein Jahr nach dem historischen Sieg der Amazon Labor Union auf Staten Island weigert sich der Billionen-Dollar-Konzern weiter, zu verhandeln. Zeitgleich wird die Stimmung in der Gewerkschaft immer angespannter.
Der Präsident der Amazon Labor Union Chris Smalls spricht während einer Kundgebung vor der Amazon-Lagerhalle ALB1 in Schodack, New York, 10.10.2022.
IMAGO / ZUMA WireAm 10. Juli reichte eine Gruppe von Amazon-Beschäftigten bei JFK8, dem größten Warenlager des Unternehmens in Staten Island, eine Klage bei einem US-Bundesgericht ein. Im April 2022 waren die JFK8-Beschäftigten die ersten an einem Amazon-Standort in den USA, die eine Gewerkschaftswahl des National Labor Relations Board (NLRB) für sich entscheiden konnten und somit Teil der Amazon Labor Union (ALU) wurden.
In der aktuellen Beschwerde heißt es, die ALU und der aktuelle ALU-Vorsitzende Chris Smalls würden sich »weigern, Vorstandswahlen abzuhalten, die spätestens im März 2023 hätten angesetzt werden müssen«. Vom Gericht wird nun gefordert, bis zum 30. August die Wahl der ALU-Spitzenfunktionäre anzuordnen. Diese Abstimmung müsse von neutralen Beobachtern beaufsichtigt werden.
Die Gruppe hinter der Klage, der ALU Democratic Reform Caucus, besteht aus etwa 40 aktiven Organizern bei JFK8, darunter mehrere führende Köpfe aus der Anfangszeit der ALU wie der ehemalige ALU-Schatzmeister Connor Spence, der ehemalige ALU Organizing Director Brett Daniels sowie Brima Sylla, ein führender Aktivist im Kampf um die NLRB-Abstimmung 2022. Die Gruppe begann sich im Dezember 2022 zu organisieren – nach einer kontroversen ALU-Sitzung, bei der Smalls die Mitglieder direkt ansprach: »Habt ihr ein Problem mit mir? Was zum Teufel...«
In einer am 11. Juli veröffentlichten Erklärung erinnert der Reform Caucus, dass sich die Arbeiterinnen und Arbeiter bei JFK8 für die Gründung einer unabhängigen Gewerkschaft entschieden hatten – eine schwierige Aufgabe, die es ihnen abverlangte, sich in dem 8000-Personen-Lagerhaus ohne die Ressourcen zu organisieren, die sie erhalten hätten, wenn sie sich einer bestehenden Gewerkschaft angeschlossen hätten. Der Grund für die Schaffung der ALU war demnach, dass diese der Arbeiterschaft »ein hohes Maß an Autonomie und Kontrolle bot, das für den Kampf gegen Amazon, eines der gewerkschaftsfeindlichsten Unternehmen der Welt, unerlässlich war«.
»In Bezug auf Amazon hat sich gezeigt, dass der Konzern sich erst an den Verhandlungstisch begibt, wenn ernsthaft ein Streik droht.«
»Die derzeitige Führung der ALU ist nicht gewählt, sondern selbst ernannt,« so die Gruppe. »Wir halten dies nicht nur für rechtswidrig und antidemokratisch, sondern auch für ein großes Hindernis für die Organisierung der Arbeiterinnen und Arbeiter zur Unterstützung ihres Tarifkampfes. Demokratie ist ein Schlüsselelement für die Einbeziehung der Arbeiterschaft.«
Die Gruppe kritisiert weiter, der derzeitige Vorstand habe die Satzung der Gewerkschaft geändert, um Wahlen zu verschieben. Nach dem NLRB -Sieg im April 2022 hätten diese im Januar 2023 stattfinden sollen. Nach der neuen Satzung könnten Wahlen zur Gewerkschaftsführung hingegen erst stattfinden, wenn die Arbeiterinnen und Arbeiter einen ersten Tarifvertrag mit ihrem Unternehmen abgeschlossen haben. Da Amazon sich weiterhin weigert, die Gewerkschaft anzuerkennen (geschweige denn mit ihr zu verhandeln), ist nicht abzusehen, wie lange dies noch dauern wird.
Die Anwälte der derzeitigen Gewerkschaftsführung argumentieren ihrerseits, die Satzung, nach der Wahlen umgehend [d.h. innerhalb eines Jahres] nach dem Beitritt hätten stattfinden müssen, sei »nie fertiggestellt und deswegen auch niemals verabschiedet« worden.
Am 13. Juli lehnte die US-Bezirksrichterin Ann Donnelly vom Eastern District of New York einen weiteren Antrag des Caucus auf eine einstweilige Verfügung ab. Mit dieser wäre es der ALU-Führung offiziell untersagt worden, Vergeltungs- oder Disziplinarmaßnahmen gegen Mitglieder zu ergreifen, die an der Klage des Caucus beteiligt sind. Die Klage haben 86 Angestellte unterzeichnet. Der Reform Caucus hat in einer Petition außerdem 822 Unterschriften von Beschäftigten gesammelt. In dieser werden ebenfalls Vorstandswahlen bei der ALU gefordert.
Als Begründung für ihren Antrag auf eine einstweilige Verfügung führten die Anwälte des Caucus eine SMS von Smalls an Sylla an, in der es unter anderem heißt: »reformALU ist nicht demokratisch. Das ist ein Haufen Schwachsinn und ich warne dich: stoppt diese Petitionen gegen ALU. Wir werden rechtliche Schritte gegen euch einleiten wegen falscher Darstellungen über eine staatlich anerkannte Gewerkschaft.«
Außerhalb des Gerichtssaals sagte Smalls am Donnerstag gegenüber The City: »Es ist wirklich bedauerlich, dass sie das tun. Denn der einzige Gewinner ist Amazon. Wir müssen uns auf unseren Arbeitskampf konzentrieren.«
Die Entscheidung für eine Klage seitens des Caucus folgt auf monatelange interne Bemühungen um eine Reform der Gewerkschaft. Eigentlich hätte es zu einem Schlichtungsprozess zwischen dem Vorstand und dem Caucus unter der Leitung des langjährigen Gewerkschaftsorganisators Bill Fletcher Jr. kommen sollen. Dieser Prozess scheiterte aber.
In einem Protokoll zu den Vorgängen schreibt Fletcher, er fühle sich »geehrt«, dass er gebeten wurde, den Streit zu schlichten. Er habe »dies als ein hervorragendes Zeichen dafür angesehen, dass beide Seiten verstanden haben, dass der interne Konflikt eine Sache ist, die die gesamte Gewerkschaft an den Rand des Abgrunds bringt«. Während sein Treffen mit dem Caucus, bei dem es um die Festlegung von Grundregeln ging, produktiv gewesen sei, wurde kurze Zeit später der Großteil eines ähnlichen Treffens mit dem Vorstand aber damit verbracht, »dass der Vorstand mir erklärte, warum der Caucus falsch liege«. Am 18. Juni wurde Fletcher von einem Vertreter des Vorstands darüber informiert, dass der Vorstand nun gegen eine Schlichtung gestimmt habe.
»Ich bin besorgt. Der ganze Trubel und offensichtliche Streit an der Spitze der ALU bedeutet nämlich auch, dass wenig getan wird, um die Arbeiterschaft zu organisieren und auf den Kampf mit Amazon vorzubereiten,« schreibt Fletcher weiter. Für ihn sei »klar, dass die Führung der ALU reorganisiert und von den Mitgliedern bestätigt werden muss«.
»Die Herausforderung ist monumental, aber jede einzelne ALU-Organizerin wusste, dass es so sein würde.«
Auf Nachfrage der New York Times betonte Smalls, das Vorgehen der Gewerkschaftsführung sei legal; die Vorwürfe des Caucus »lächerliche Behauptungen mit null Faktenbasis«. Auf eine Anfrage von Jacobin reagierte Smalls nicht.
Die aktuellen Prozesse kommen zeitgleich zu einem weiteren Vorgang, der die ALU im Kampf gegen Amazon allerdings leicht stärken dürfte: Am 12. Juli reichte das NLRB eine offizielle Beschwerde ein, da Amazon bisher keine Verhandlungen mit der Gewerkschaft in Staten Island aufgenommen hat. Der Konzern hat bis zum 26. Juli Zeit, auf die Beschwerde zu reagieren.
»Das wurde auch Zeit,« kommentierte Smalls gegenüber Motherboard. »Wir haben bis jetzt geduldig gewartet. Langsam reicht diese Geduld aber nicht mehr, wenn man monatelang auf ein Billionen-Dollar-Unternehmen warten muss, während dieses weiter hin Union-Busting betreibt und die Gewerkschaften kaputt machen will.«
Die beiden Beschwerden – die des Reform Caucus gegen die ALU-Führung sowie die des NLRB gegen Amazon – und das Timing zeigen die Problemlage auf, mit der die Arbeiterinnen und Arbeiter im JFK8-Lager aktuell konfrontiert sind: Auch nach über einem Jahr der Gewerkschaftsgründung in Staten Island wird diese vom Unternehmen weiterhin ignoriert – von einem Konzern, der sich bereits so oft und so dreist über das Gesetz hinweggesetzt hat, von einem Konzern, der die Gewerkschaft zerschlagen will. Das erzeugt Druck: Bedrängt von einem unnachgiebigen Gegner, schaukeln sich gewerkschaftsinterne Konflikte immer weiter hoch.
Die beste Verteidigung gegen einen solchen Gegner heißt Angriff: die Gewerkschaft muss weiter wachsen und in Staten Island noch tiefere Wurzeln schlagen. Es müssen auch neue (potenzielle) Führungspersönlichkeiten herangezogen werden. Jede Gewerkschaftssitzung sollte dazu dienen, JFK8-Beschäftigte zu rekrutieren, die sich noch nicht der ALU angeschlossen haben. Vertraute Gesichter bei den immer gleichen Treffen steht für Misserfolg. Jede Veranstaltung, jede Versammlung sollte als eine Rekrutierungskampagne angesehen werden, jeder Konflikt am Arbeitsplatz als eine Möglichkeit zur Machtdemonstration gegenüber Amazon.
Aus Sicht des Caucus geschieht dies nicht (mehr). Wie Connor Spence gegenüber Labor Notes sagte, seien die ursprünglich wöchentlichen Treffen des ALU-Arbeiterausschusses in Staten Island im Laufe der Zeit nur noch alle zwei Wochen abgehalten und dann im Mai komplett eingestellt worden. Sylla fügte hinzu, bei den letzten Sitzungen sei nicht einmal mehr das erforderliche Anwesenheitsquorum von zehn aktiven Beschäftigten erreicht worden.
Wenn es nicht gelingt, zehn Arbeiterinnen und Arbeiter in einem Lagerbetrieb mit tausenden Beschäftigten zu versammeln, funktioniert dieser Ansatz offensichtlich nicht. Das zu ändern, ist natürlich leichter gesagt als getan. Selbst die am besten funktionierende, demokratischste Gewerkschaft hätte bei Amazon immer sehr große Hindernisse zu überwinden, darunter die hohe Fluktuation in der Belegschaft sowie das von Amazon besonders unnachgiebig betriebene Union-Busting.
Noch ist nicht aller Tage Abend; die Gewerkschaft ist noch jung. Wenn die Arbeiterinnen und Arbeiter an ihren historischen Sieg von vor gut einem Jahr anknüpfen können, wenn sie die Gewerkschaft Stück für Stück ausbauen, wenn sie gemeinsam handeln und kämpfen, dann können sie einen der mächtigsten Konzerne des Landes dazu zwingen, ihnen endlich am Verhandlungstisch gegenüberzutreten. Als Gleichberechtigte.
Das bedeutet, dass auf dem Wissen aufgebaut werden muss, das die Belegschaft während der Organisierungskampagne entwickelt hat: systematische Einzelgespräche, um nicht nur in jedem Teil von JFK8, in jeder Schicht, mögliche Führungspersönlichkeiten zu identifizieren, sondern sie zu echten Kämpfern zu machen. Das ist nicht möglich, wenn die Arbeiterinnen und Arbeiter nicht wirklich glauben, dass die Gewerkschaft ihnen gehört. Das wiederum erfordert Demokratie.
»Trotz aller medialer Aufmerksamkeit für den Konflikt zwischen der ALU und anderen Gewerkschaften ist der grundlegende Konflikt ein anderer.«
In Bezug auf Amazon hat sich gezeigt, dass der Konzern sich erst an den Verhandlungstisch begibt, wenn ernsthaft ein Streik droht. Die fortgeführten rechtlichen Manöver und legalen Spitzfindigkeiten des Unternehmens zeigen: Bei Amazon bleibt man sich treu. Ungeachtet der Beschwerden des NLRB kann – und wird – sich Amazon weiterhin querstellen. Die stark eingeschränkten Durchsetzungsmechanismen und die Unterfinanzierung sorgen dafür, dass das NLRB mit einem Konzern vom Kaliber von Amazon, der fest entschlossen ist, die Organisierung seiner Angestellten zu zerschlagen, einfach nicht mithalten kann (ein weiterer Beweis dafür ist Starbucks). Sich auf Beschwerden und auf die Gerichte zu verlassen und abzuwarten, ist daher eine aussichtslose Strategie.
Die Herausforderung ist monumental, aber jede einzelne ALU-Organizerin wusste, dass es so sein würde. Wie weit können und wollen die Arbeiterinnen und Arbeiter im JFK8-Lager gehen? Wollen sie Gewerkschaftsbuttons tragen? Unterschreiben sie Petitionen? Wehren sie sich aktiv gegen die Übergriffe des Managements? Derweil ist die ALU nicht die einzige Organisation, die diese Belegschaft gewerkschaftlich mobilisieren und organisieren kann. Auch andere finden Wege, um den Druck auf Amazon zu erhöhen: Amazon-Fahrer im kalifornischen Palmdale, die im April dieses Jahres den Teamsters beigetreten sind, haben beispielsweise ihre Kampagne gegen unfaire Arbeitspraktiken auf Amazon-Lagerhäuser an beiden US-Küsten ausgeweitet.
Klar ist: Trotz aller medialer Aufmerksamkeit für den Konflikt zwischen der ALU und anderen Gewerkschaften – und aktuell für die internen Konflikte innerhalb der ALU – ist der grundlegende Konflikt ein anderer. Dieser wird zwischen Amazon und seiner Belegschaft ausgefochten. Jede Gewerkschaft, die diese Arbeiterinnen und Arbeiter organisiert, sollte sich ganz klar darauf konzentrieren, eine kämpferische Kraft aufzubauen, die die Macht in den Betrieben angreift. Das ist das Wichtigste und muss über allen anderen Debatten stehen.
Alex N. Press ist Redakteurin bei JACOBIN. Ihre Beiträge erschienen unter anderem in der »Washington Post«, »Vox«, »the Nation« und »n+1«.