16. Januar 2023
In den anti-kolonialen Befreiungskämpfen des 20. Jahrhunderts ging es vor allem um nationale Unabhängigkeit? Die Politikwissenschaftlerin Adom Getachew argumentiert, dass sie ein weitaus ambitionierteres Ziel anstrebten: eine wirklich egalitäre Weltordnung.
Der ehemalige Präsident Tansanias Julius Nyerere wollte sein Land nicht nur vom Kolonialismus befreien, sondern auch einen afrikanischen Sozialismus aufbauen.
IMAGO / sepp spieglIn den drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg versuchten sich antikoloniale Bewegungen von den Fesseln ihrer Imperialmächte zu befreien. Doch sie kämpften nicht nur für politische Unabhängigkeit oder den Aufbau neuer Nationen. Viele unter ihnen wollten die internationale Rechts-, Politik- und Wirtschaftsordnung gänzlich neu entwerfen. Sie wollten eine Welt schaffen, in der die ehemals Unterdrückten wirklich selbstbestimmt und unabhängig sein würden.
Postkoloniale Staatsmänner wie Kwame Nkrumah, Michael Manley und Julius Nyerere sorgten dafür, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker in der Charta der Vereinten Nationen verankert wurde, legten ambitionierte Vorschläge für regionale Staatenbünde vor und forderten eine Neuausrichtung der Weltwirtschaft, um Reichtum und Macht zugunsten des Globalen Südens umzuverteilen. Wie Adom Getachew in ihrem neuen Buch Die Welt nach den Imperien darlegt, waren antikoloniale Nationalisten vor allem auch egalitäre Internationalisten.
Im JACOBIN-Interview spricht Getachew über die »Weltgestaltung« des antikolonialen Projekts in der Nachkriegszeit und die Notwendigkeit, die globalen Hierarchien zu überwinden, die auch nach dem formalen Ende des Kolonialismus fortbestehen.
Du argumentierst, dass die Dekolonisierung ein Projekt der »Weltgestaltung« war. Es sollten nicht nur die ehemaligen europäischen Kolonien in nominell unabhängige Nationalstaaten umgewandelt werden, sondern man wollte die gesamte internationale Ordnung neu schaffen. Warum ist es für uns heute so wichtig, diese weitreichendere Ambition hinter dem antikolonialen Nationalismus zu begreifen?
Mein Konzept der »Weltgestaltung« richtet sich gegen ein weit verbreitetes Verständnis der Dekolonisierung. Demzufolge war sie eine Art Ausweitung der internationalen Gemeinschaft, die die ehemals ausgeschlossenen Kolonien nach und nach integrierte. Diese Darstellung fokussiert sich auf die Fremdherrschaft und den Ausschluss aus der internationalen Gemeinschaft. Ich beziehe mich hingegen auf ein Verständnis von Imperien, das diese als eine Form rassifizierter Hierarchie und ungleicher Integration definiert. Die antikolonialen Nationalisten hatten ebenfalls diese Auffassung von Imperien vor Augen, als sie die Welt neu gestalten wollten. Durch die Aufarbeitung dieser Geschichte möchte ich zeigen, dass Schwarze Theoretikerinnen und Theoretiker Konzepte des Internationalen mitentwickelten. Mir geht es aber auch darum, aufzuzeigen, wie die Dilemmata unserer Gegenwart mit dem Zeitalter der Dekolonisierung zusammenhängen.
Der antikolonialen Weltgestaltung Grenzen waren zwar gesetzt und die Veränderung der globalen Ordnung seit den 1970er Jahren bedeutet natürlich, dass sich diese Projekte nicht direkt in die Gegenwart übertragen lassen. Dennoch können wir meiner Meinung nach wichtige Lehren aus dieser Zeit ziehen. Am wichtigsten finde ich dabei die Idee, das Nationale und das Internationale zusammenzudenken und die Binarität zwischen Nationalismus und Internationalismus, die in unserer Zeit zurückgekehrt ist, zu vermeiden.
In Deinem Buch befasst Du Dich mit den politischen und ökonomischen Theorien bedeutender Schwarzer und afrikanischer antikolonialer und nationalistischer Denker und Staatsmänner. Sie beziehst Dich auf das politische Denken von Nnamdi Azikiwe, W. E. B. Du Bois, Michael Manley, Kwame Nkrumah, Julius Nyerere, George Padmore und Eric Williams. Das sind natürlich alles bedeutende politische Figuren. Aber einen beschleicht das Gefühl, dass die Agenda der Weltgestaltung der antikolonialen Nationalisten ein eher elitäres, weitgehend von Männern dominiertes, intellektuelles Projekt war als eine breite Massenbewegung.
Das Buch konzentriert sich auf die hohe Politik der Dekolonisierung. Es betrachtet Räume wie die Vereinten Nationen, um neu darüber nachzudenken, was im Rahmen der internationalen Institutionen der Nachkriegszeit möglich gewesen wäre. Daher liegt der Schwerpunkt auf den politischen Akteuren, die der Elite angehören. Massenbewegungen waren jedoch absolut zentral, um das Recht auf Selbstbestimmung und die Forderung nach wirtschaftlicher Entwicklung durchzusetzen. Das in der UN-Charta festgeschriebene Selbstbestimmungsrecht legitimierte und verankerte die erfolgreichen politischen Unabhängigkeitskämpfe. Es hat sie nicht verdrängt.
Die Staatsmänner, mit denen ich mit auseinandergesetzt habe, hatten meiner Meinung nach ein widersprüchliches und ambivalentes Verhältnis zur Massenpolitik. Einerseits konzentrierten sie sich, insbesondere im antikolonialen Kampf, auf kollektive politische Aktionen wie Boykotte, Streiks und andere Strategien des zivilen Ungehorsams. Gleichzeitig versuchten sie, solche Strategien einzudämmen, sobald die nationale Unabhängigkeit errungen worden war.
C. L. R. James zum Beispiel kritisierte Eric Williams, weil er glaubte, dessen gesellschaftliche Visionen seien nicht ausreichend mit den Kämpfen der Bevölkerung verbunden. Auch Frantz Fanons Kritik am nationalen Bewusstsein war eine generelle Anklage dieses Verzichts auf politische Mobilisierung. Über die staatlichen Verhandlungen, in die Nkrumah involviert war, urteilte Fanon: »Afrikanische Einigkeit kann nur von unten durch das Volk und unter der Führung des Volkes erlangt werden, das heißt also unter Missachtung der Interessen der Bourgeoisie.«
Die antikoloniale Weltgestaltung fand nicht nur in Institutionen wie den Vereinten Nationen statt. Wir sollten dieses Konzept auf ein breites Spektrum von Bemühungen ausweiten, die alle das Ziel verfolgten, im Zuge der Dekolonisierung eine neue Welt zu schaffen. Wir könnten etwa alternative Projekte des Panafrikanismus wie den Rastafarianismus miteinbeziehen, die neue Verbindungen zwischen Afrika und der Karibik etablierten, aber häufig von staatlichen Akteuren abgelehnt oder unterdrückt wurden.
Wir könnten aber auch neu entstandene Räume der literarischen und visuellen Kultur untersuchen und uns den internationalen Netzwerken zuwenden, die die Verbreitung und Rezeption dieser ästhetischen Produkte ermöglichten. Das zeigt sich beispielhaft etwa an Frank Bowling, dessen Gemälde auf der Originalausgabe meines Buches zu sehen ist. Er gewann 1965 im Rahmen des First World Festival of Negro Arts den Großen Preis für zeitgenössische Kunst.
Ich denke also, dass wir den Begriff der »Weltgestaltung« um Projekte wie diese erweitern müssen. Dadurch gewinnen wir auch ein besseres Verständnis dafür, wie die Projekte von Staatsmännern wie Nkrumah aufgenommen, angefochten und in populären Praktiken neu entworfen wurden.
Du verstehst die Entstehung von Imperien als einen Prozess ungleicher internationaler Integration, der im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zunehmend rassifiziert wurde. Diese Ordnung blieb nach Deiner Argumentation bis zur Gründung des Völkerbundes bestehen, obwohl der damalige US-Präsident Woodrow Wilson das Recht auf Selbstbestimmung als Gründungsprinzip der Organisation festschrieb. Die Aufnahme von Äthiopien und der Republik Liberia in den Völkerbund gilt gemeinhin als erste Erweiterung der internationalen Gemeinschaft. Du widersprichst dieser Auffassung und verstehst diesen Moment als Verfestigung der ungleichen Integration.
Die Eingliederung dieser beiden Staaten wird oft als der Moment verstanden, in dem der ausschließende Zivilisationsstandard, der die Grenzen der internationalen Ordnung markierte, erste Risse bekam. In meinem Buch versuche ich, die Prozesse der Aufnahme nachzuzeichnen.
Bevor Äthiopien Mitglied im Völkerbund wurde, betrachtete man das Land als Schauplatz einer humanitären Krise. In den 1920er und 30er Jahren wurden sowohl Äthiopien als auch die Republik Liberia beschuldigt, Sklaverei zu tolerieren. Tatsächlich gab es in beiden Ländern verschiedene Formen der Zwangsarbeit, ich beschreibe allerdings, wie diese humanitäre Kritik einerseits davon ablenkte, dass es in allen Kolonien Zwangsarbeit gab, und andererseits dazu führte, dass die Mitgliedschaft von Äthiopien und der Republik Liberia im Völkerbund belastet und rassifiziert war.
Ihnen wurde schwerwiegendere Verpflichtungen gegenüber dem Völkerbund aufgelastet als anderen Mitgliedern. Und durch die Einschränkung ihrer Rechte konnte darüber geurteilt werden, wie gut sie ihre Verpflichtungen erfüllten. Außerdem wurde das vermeintliche Scheitern von Reformen in diesen Ländern zunehmend darauf zurückgeführt, dass ihre Bevölkerung Schwarz war. Der Völkerbund zog immer wieder in Erwägung, beiden Staaten die Mitgliedschaft zu entziehen und sie in das Mandatssystem aufzunehmen.
In den 1930er Jahren war Haiti – die erste Schwarze Republik – von den USA besetzt, die auch eine Militäraktion in Liberia in Betracht zogen. Und der Völkerbund machte keine Anstalten, dies zu verurteilen. Die Mitgliedschaft Äthiopiens war schon prekär, als Italien die Invasion des Landes vorbereitete. Die Ironie liegt für mich darin, dass die Aufnahme in den Völkerbund in Wirklichkeit dazu führte, dass Schwarze Souveränität abgelehnt und verweigert wurde.
Wie ist es den antikolonialen Nationalisten gelungen, das Recht auf Selbstbestimmung bei den Vereinten Nationen durchzusetzen? Und warum sollte man diesen Moment Deiner Meinung nach nicht als unvermeidliche Universalisierung der staatlichen Souveränität im Sinne des westfälischen Modells betrachten?
Das Recht auf Selbstbestimmung war in den wichtigsten Dokumenten der Nachkriegszeit wie der UN-Charta oder der UN-Menschenrechtserklärung nicht aufgeführt. Es wurde dort erst aufgenommen, nachdem in den 1950er Jahren postkoloniale Staaten versuchten, die verbindlichen Menschenrechtspakte mitzugestalten, die in den 1960er Jahren ratifiziert werden sollten. Das Selbstbestimmungsrecht wurde auch in der historischen Erklärung über die Gewährung der Unabhängigkeit an koloniale Länder und Völker von 1960 artikuliert.
Ich halte das für einen entscheidenden Moment in der Formulierung eines universell gültigen Konzepts der souveränen Gleichheit von Staaten. Wir sollten das als Gipfel der Bemühungen peripherer Staaten erachten und nicht einfach als Erweiterung eines europäischen Ideals.
Man muss außerdem festhalten, dass der Westfälische Frieden von 1648 erst in der Nachkriegszeit mit einem Regime gleichberechtigter staatlicher Souveränität gleichgesetzt wurde. Der Westfälische Frieden hatte vorher eine andere Bedeutung. Anstatt die Idee gleichberechtigter Souveränität auf diesen Moment in der Vergangenheit zurückzuprojizieren, möchte ich nahelegen, sie als Ergebnis antiimperialer Kämpfe um ein universelles Recht auf Selbstbestimmung zu begreifen.
Nachdem das Selbstbestimmungsrecht bei den Vereinten Nationen durchgesetzt worden war, wandten sich die antikolonialen Nationalisten der Bildung regionaler Föderationen zu. Kwame Nkrumah trat für eine föderale, supranationale »Union Afrikanischer Staaten« ein, während Eric Williams für einen regionalen Staatenbund in Westindien plädierte. Warum verfolgten diese Staatsmänner diese Projekte?
Nkrumah und Williams versuchten, die Kluft zwischen rechtlicher Souveränität und tatsächlicher Unabhängigkeit zu überbrücken. Beide befürchteten, dass die postkolonialen Staaten zu klein und wirtschaftlich zu abhängig von den globalen Märkten bleiben würden, um wirkliche Unabhängigkeit zu erlangen.
Ihre Gegenstrategie setzte auf regionale Integration durch Föderation. Die Idee war, dass postkoloniale Staaten, die in Föderationen organisiert wären, sich eher aus diesen Abhängigkeiten lösen könnten, da sie ihre politischen und wirtschaftlichen Beziehungen auf die Region, anstatt auf die hierarchische internationale Ordnung ausrichteten würden. Nkrumah und Williams hatten dabei stark zentralisierte Föderationen vor Augen, die Entwicklung und Umverteilung auf regionaler Ebene organisieren sollten.
Während das Recht auf Selbstbestimmung ein rein politisches Projekt und die Neue Internationale Wirtschaftsordnung [New International Economic Order, NIEO, angeführt von Michael Manley und Julius Nyerere] in erster Linie wirtschaftlich ausgerichtet war, verbanden diese Föderationen Politik und Wirtschaft. Sie waren ein Versuch, politische Institutionen zu nutzen, um eine wirtschaftliche Zwangslage zu überwinden. Das Selbstbestimmungsrecht und die NIEO sollten den internationalen Rahmen (durch die Vereinten Nationen) neu gestalten. Die Föderationen hingegen versuchten, das Internationale zu adressieren, indem man sich regional organisiert abkapselte.
Du argumentierst, das die NIEO eine »Welt der Wohlfahrt« aufbauen wollte: Die postkolonialen Staaten wurden dabei als die internationale Arbeiterklasse verstanden, die den Reichtum der Welt erarbeitet und daher einen Anspruch auf die globale Umverteilung dieses Reichtums hat. Kannst Du uns ein bisschen mehr über dieses ambitionierte Vorhaben erzählen? War es angesichts der Tatsache, dass die NIEO mitten ins Herz der internationalen Nachkriegsordnung zielte und die Interessen der herrschenden Klassen der reichen Länder bedrohte, zum Scheitern verurteilt?
Auch wenn die UN die NIEO erst in den 1970er Jahren von der ausrief, wurde der Begriff bereits in den 1960er Jahren geprägt. Die Grundzüge dieser Vision entstanden bereits im Rahmen der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung. Die postkolonialen Staaten fühlten sich in den 1970ern von den Aktionen der OPEC ermutigt, deren Embargo ein Vorbild dafür lieferte, wie postkoloniale Staaten in eine Art Streik treten konnten.
Eine der wichtigsten Leistungen der NIEO war, dass sie die US-zentrierte Weltordnung ernsthaft herausforderte. Die nordatlantischen Akteure waren gezwungen, auf die Forderungen zu reagieren, ob sie sie nun abwiegelten, auf sie eingingen oder sich ihnen völlig widersetzen.
Sicherlich war es unwahrscheinlich, dass alle Forderungen erfüllt werden würden. Aber es ist nicht so, als wäre das Schicksal der NIEO von vornherein entschieden gewesen. Es ist meiner Meinung nach gerade deswegen so wichtig, an diesen Moment zu erinnern.
Abgesehen davon hat die NIEO dazu beigetragen, die Rhetorik der Hilfe und Wohltätigkeit in politische Verpflichtungen umzuwandeln. Darin lag die Kraft des Arguments der internationalen Arbeitsteilung und daher rührt auch die Analogie zum nationalen Wohlfahrtstaat. Ich denke, dass man heutzutage in der Diskussion um Reparationszahlungen eine ähnliche Umdeutung beobachten kann, insbesondere im Kontext der Karibik.
Haben aktuelle politischen Projekte, die unter dem Banner der »Dekolonisierung« organisiert werden (einschließlich der Aufrufe zur »Dekolonisierung« der Wissensproduktion über Afrika in westlichen Universitäten) aus Deiner Sicht ihre weltgestaltenden Ambitionen aufgegeben? Wie sollten wir in einer Zeit voller globaler Herausforderungen wie der Klimakrise oder der Corona-Krise über den Fortbestand internationaler Hierarchien nachdenken – und auch über die historischen Versuche, eine egalitäre globale Ordnung zu errichten?
Die Dekolonisierung der Wissensproduktion war einer der wichtigsten Aspekte der antikolonialen Weltgestaltung. Nach der Dekolonisierung wurde die Hochschulbildung ausgeweitet und verlor oft ihre direkte (und unterordnende) Verbindung zu den Universitäten der ehemaligen Kolonialmächte.
Nkrumah gründete beispielsweise das Institut für Afrikastudien an der Universität von Ghana (ehemals University College of the Gold Coast unter der Schirmherrschaft der Universität London). Dessen Ziel war das »afrikazentrierte« Studium des afrikanischen Kontinents. Er lud W. E. B. Du Bois ein, um seine lebenslange Vision einer Encyclopedia Africana in Ghana zu verwirklichen. So setzte sich Nkrumah auch dafür ein, die Diaspora in die Afrikastudien miteinzubeziehen.
Die New World Group an der University of West Indies-Mona, Jamaika, das Council for the Development of Social Science Research in Africa in Dakar, dessen erster Direktor Samir Amin war, und die Dar es Salaam School, an der Walter Rodney einige Zeit verbrachte, haben diese Bemühungen aufgegriffen – es ging darum, neues Wissen über die sich dekolonisierende Welt zu entwickeln. Ich denke, die heutigen Bestrebungen um die Dekolonisierung der Universitäten können von diesen früheren Beispielen viel lernen.
Die vielleicht wichtigste Lektion ist, dass diese Projekte mit dem gesellschaftlichen Wandel in den neuen unabhängigen Staaten verbunden waren. Es ging weniger darum, den Eurozentrismus zu kritisieren und zu überwinden, als die Welt vom Standpunkt Afrikas und der Karibik aus zu betrachten. Man interessierte sich für die Spezifik dieser Kontexte, um neue Verbindung zu anderen Regionen des Globalen Südens zu knüpfen. Eine der großen Tragödien des Aufstiegs der neoliberalen Globalisierung ist, dass sie diesen Bemühungen den Boden entzog, indem sie die öffentliche Finanzierung der Hochschulbildung aushöhlte.
Die Corona-Krise hat abermals den zutiefst ungleichen und hierarchischen Charakter unserer internationalen Ordnung offenbart. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Imperialismus, die diesen Status quo hervorgebracht hat, und auch mit den Bemühungen, diese Hierarchie zu überwinden, beweist, dass die gegenwärtige Ordnung eben nicht von Natur aus gegeben ist, und liefert uns Modelle des Internationalismus. Diese Krise zeigt deutlich, wie notwendig es ist, international zu kooperieren und Mechanismen zu entwickeln, um die Reaktion auf die Krise und den Wiederaufbau zu koordinieren. Ich denke, wir können dabei auch lernen, in unterschiedlichen Skalen über Internationalismus nachzudenken, unter anderem auf der Ebene sich überlappender regionaler Strukturen.
Die Frage, wo die politischen Energien für ein neues Modell des Internationalismus entstehen werden und in welche internationalen Bereiche sie kanalisiert werden sollten, ist hingegen weitaus schwieriger zu beantworten. Die Geschichte der Dekolonisierung, die ich in meinem Buch erzähle, handelt von staatlichen Akteuren und konzentrierte sich auf die Generalversammlung der Vereinten Nationen. Dass die Kämpfe unserer Zeit in dieser Form weitergeführt werden, ist unwahrscheinlich.
Adom Getachew ist der Neubauer Family Assistant Professor of Political Science an der University of Chicago und Autorin von Die Welt nach den Imperien: Aufstieg und Niedergang der postkolonialen Selbstbestimmung.