11. Juni 2021
Der Antisemitmusvorwurf wird von unterschiedlicher Seite immer wieder politisch missbraucht. Das verharmlost am Ende tatsächliche Angriffe auf Jüdinnen und Juden.
Am 9. Oktober 2019 erschoss ein Mann zwei Menschen und versuchte gewaltsam in die Synagoge einzudringen.
Während die Bilder von der Zerstörung im Gazastreifen durch die Luftangriffe der israelischen Armee durch die Welt gingen und Millionen Menschen in Solidarität mit Palästinenserinnen und Palästinensern demonstrierten, häuften sich gleichzeitig erschreckende Nachrichten über antisemitische Vorfälle in Europa: Vor einer Synagoge in Gelsenkirchen skandierten Sprechchöre »Scheiß Juden«, in Berlin kam es zu Übergriffen auf Personen, die einen Davidstern trugen, in London fuhren Autos mit Palästina-Fahnen durch ein überwiegend jüdisches Viertel und verbreiteten über Lautsprecher antisemitische und frauenfeindliche Hetze. Seit Wochen häufen sich Berichte über Angriffe auf jüdische Personen (oder Personen, die für jüdisch gehalten werden) auf offener Straße. Eine neue Form des israelbezogenen Antisemitismus, der Jüdinnen und Juden für die Handlungen des Staates Israels verantwortlich macht, verbreitet sich in Europa derzeit rasant.
Solche Übergriffe werden zwar gerade in ehemaligen Täterländern wie Österreich und Deutschland, die im Kampf gegen Antisemitismus eine historische Verantwortung tragen, öffentlich verurteilt. Doch daneben ist ebenso zu beobachten, dass antisemitische Vorfälle instrumentalisiert werden, um israelische Politik von jeglicher Kritik abzuschirmen und jede Forderung nach Gerechtigkeit für Palästina als antisemitisch zu diffamieren. Parolen wie »From the river to the sea, Palestine will be free« (ein Slogan, der gleiche Rechte für Palästinenserinnen und Palästinenser im Gebiet zwischen Jordan und Mittelmeer fordert) oder auch »Yallah Intifada« (was nichts anderes bedeutet als »Aufstand«) werden mit der Aufforderung zur Vertreibung oder Ermordung jüdischer Israelis gleichgesetzt.
Das führt zu einer Verharmlosung tatsächlich antisemitischer Vorfälle, die sich gezielt gegen jüdische Personen und Einrichtungen richten. Dahinter verbirgt sich eine zynische Verkennung des israelisch-palästinensischen Konflikts: Es wird unterstellt, der palästinensische Befreiungskampf sei nicht etwa durch den Wunsch nach Gleichheit, Gerechtigkeit und kollektiver Selbstbestimmung motiviert, sondern durch Judenhass.
Die Verurteilung antisemitischer Vorfälle ist nicht gleichzusetzen mit dem Antisemitismus-Generalverdacht gegen Palästinenserinnen und Palästinenser sowie alle, die mit ihnen solidarisch sind. Rassistische Pauschalisierungen dieser Art werden zudem häufig in einem politischen Kontext vorgenommen, in dem Regierungen und staatstragende Politiker bedingungslose Solidarität mit Israel propagieren – ohne sich mit Palästinenserinnen im Gazastreifen zu solidarisieren oder die illegale Besatzungs- und Siedlungspolitik zu verurteilen. So ließ etwa der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz während der Militäroperation im Gazastreifen die israelische Fahne auf dem Dach des Kanzleramtes hissen, um ein Zeichen gegen den Raketenbeschuss der Hamas zu setzen. Viele führende deutsche Politikerinnen nahmen in Berlin an einer Solidaritätskundgebung mit Israel teil, darunter auch der Fraktionsführer der Partei DIE LINKE Dietmar Bartsch.
Solche Positionierungen nehmen die israelischen Kriegsverbrechen gegen Palästinenserinnen im Gazastreifen in Schutz und legitimieren die laufende rassistische Besatzungs-, und Vertreibungspolitik. Das Zusammenspiel des israelsolidarischen Konsenses in der Politik und der pauschalen Missbilligung der Solidarität mit Palästina macht es Palästinensern nahezu unmöglich, sich gegen ihre Unterdrückung zu organisieren, ohne als Antisemiten verurteilt zu werden.
In diesem aufgeladenen politischen Klima wird es für Linke immer schwieriger, sich zu positionieren. Denn abgesehen davon, dass auf Palästina-Demonstrationen manchmal antisemitische Propaganda verbreitet wird, marschieren dort auch regelmäßig Gruppierungen aus reaktionären und faschistischen Spektren mit: Hamas-Sympathisantinnen, die Grauen Wölfe oder Anhänger dschihadistischer Gruppen. Oft grenzen sich die Organisierenden von solchen Teilnehmenden nicht klar genug ab, was dazu führt, dass sich dort immer weniger Linke oder marginalisierte Minderheiten willkommen fühlen.
Der Umstand, dass diese Demonstrationen immer seltener von dezidiert linken, emanzipatorischen Gruppen angeführt werden, ist einer der Gründe dafür, dass es dort zu antisemitischen Vorfällen kommen kann. Zwar gibt es linke palästinensische Gruppen wie »Palästina Spricht«, die sich vehement gegen die antisemitische und faschistische Vereinnahmung der Palästina-Solidarität aussprechen, jedoch sind sie damit nach wie vor in der Minderheit. So stellt sich für viele linke Aktivistinnen und Aktivisten die Frage, wie sie gleichzeitig gegen Antisemitismus und gegen die systematische Ausgrenzung und Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung in Israel eintreten können.
Die Linke war historisch die Vorreiterin im Kampf gegen Antisemitismus. Heute befindet sie sich aufgrund der rechten Instrumentalisierung des Antisemitismus-Vorwurfs zunehmend in der Defensive. Dabei wäre es gerade jetzt wichtig, einen ehrlichen Kampf gegen Antisemitismus von links zu führen. Denn der Antisemitismus, der sich auf Palästina-Demonstrationen verbreitet, ist eine reale Bedrohung für jüdisches Leben in Österreich und Deutschland: Jüdische Menschen werden vermehrt auf offener Straße angegriffen, jüdische Schulen, Synagogen oder koschere Supermärkte sind einer erhöhten Terrorgefahr ausgesetzt.
Diese antisemitischen Vorfälle schaden aber auch den Palästina-Solidaritätsbewegungen selbst. Denn jene Aktivistinnen und Aktivisten, die einen Großteil ihrer Zeit damit verbringen, immer wieder zu betonen, dass eine Kritik am israelischen Staat und die Forderung nach Freiheit und Gerechtigkeit für palästinensische Menschen nicht per se antisemitisch sind, verlieren durch solche Vorfälle an Glaubwürdigkeit. Der anti-palästinensische Rassismus und die Unterdrückung von Palästinenserinnen und Palästinensern in der Diaspora nimmt dadurch weiter zu.
Die Linke muss heute nicht nur gegen Antisemitismus kämpfen, sondern auch gegen die zunehmende Instrumentalisierung dieses Kampfes von rechts. In den letzten Jahrzehnten diente dieser zunehmend als Vorwand, um pro-israelische Lobbyarbeit zu betreiben und jegliche Kritik an israelischer Besatzungspolitik und der strukturellen Unterdrückung palästinensischer Menschen zu verunmöglichen.
Besondere Bedeutung hat dabei die umstrittene Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), die aufgrund des Drucks pro-israelischer Fraktionen mittlerweile von vielen Regierungen und Institutionen übernommen wird. Das Problem ist dabei weniger die Definition selbst, deren Ziel es ist, das Phänomen des »israelbezogenen Antisemitismus« zu fassen. Problematisch ist vielmehr, dass sie herangezogen wird, um jegliche Formen der mitunter auch legitimen Israelkritik und Palästina-Solidarität als antisemitisch zu brandmarken. Das ist nicht nur hinderlich für den Kampf für einen gerechten Frieden in Israel/Palästina, sondern auch für den Kampf gegen Antisemitismus.
Mittlerweile hat sich aus verschiedenen politischen Lagern ein breiter Widerstand gegen die IHRA-Definition gebildet. Letzten Herbst unterzeichneten 120 palästinensische und arabische Intellektuelle einen offenen Brief gegen die Definition und die damit einhergehende Delegitimierung palästinensischen zivilgesellschaftlichen Widerstands gegen die israelische Besatzung. Auch die meisten linken jüdischen Organisationen lehnen die IHRA-Definition ab. Das gilt nicht nur im Fall jüdischer Organisationen, die nicht zionistisch oder anti-zionistisch sind, wie etwa »IfNotNow« in den USA oder die »Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost« in Deutschland. Auch liberal-zionistische Organisationen sprechen sich gegen die IHRA-Definition aus, weil sie es verunmöglicht, Kritik an israelischer Besatzungspolitik zu äußern, und damit auch die Umsetzung einer Zwei-Staaten-Lösung erschwert. Selbst einer der federführenden Autoren der IHRA-Definition, Kenneth Stern, hat sich mittlerweile von der Definition distanziert.
Der größte Vorstoß gegen die IHRA-Definition ist die Veröffentlichung einer alternativen Definition: der Jerusalemer Erklärung gegen Antisemitismus (JDA). Sie wurde im März dieses Jahres veröffentlicht und von 200 führenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus dem Bereich der Jüdischen Studien sowie der Holocaust- und Antisemitismusforschung unterzeichnet. Die JDA ist weniger als Gegenvorschlag zu verstehen, sondern vielmehr als eine Verbesserung und Nuancierung der IHRA-Definition, um sowohl gegen Antisemitismus als auch gegen die rechte Instrumentalisierung des Antisemitismus-Vorwurfs vorzugehen. Sie tut das, indem sie klar benennt, was in der Debatte um Israel/Palästina eindeutig antisemitisch ist und was nicht.
So wird in der JDA klar erläutert, dass es antisemitisch ist, Jüdinnen und Juden »kollektiv für das Verhalten Israels verantwortlich zu machen« oder auch »Jüd:innen im Staat Israel das Recht abzusprechen, kollektiv und individuell gemäß dem Gleichheitsgrundsatz zu leben«. Gleichzeitig legt sie dar, dass »Unterstützung der palästinensischen Forderungen nach Gerechtigkeit«, »Kritik und Ablehnung des Zionismus« oder »faktenbasierte Kritik an Israel als Staat« nicht per se als antisemitisch einzustufen ist. »Boykott, Desinvestition und Sanktionen« erachtet die JDA als »gängige, gewaltfreie Formen des politischen Protests«, die ebenfalls nicht von sich aus antisemitisch sind – auch wenn sie sich, wie in der palästinensischen BDS-Kampagne, gegen Israel richten. Damit wird nicht geleugnet, dass es im Zuge von BDS-Aktionen immer wieder zu antisemitischen Vorfällen kommt. Kritisiert wird jedoch die pauschale Kriminalisierung von BDS, wie etwa im Falle des deutschen Bundestagsbeschlusses.
Auch von diesen Erläuterungen zu Israel/Palästina abgesehen ist die JDA der IHRA-Definition als Instrument gegen Antisemitismus überlegen. Denn sie lässt sich durch ihre Genauigkeit und Konkretisierung besser anwenden. Im Gegensatz zur IHRA-Definition deckt sie auch die Phänomene des rassistischen Antisemitismus oder des sekundären oder »kodierten« Antisemitismus ab, der zuletzt wieder im Zusammenhang mit den Verschwörungsmythen um die Covid-19-Pandemie verbreitet wurde. Die JDA ist daher besser dafür geeignet, den Antisemitismus dort zu bekämpfen, wo er am gefährlichsten ist und derzeit am schnellsten wächst: in rechtsextremen Bewegungen.
Die Instrumentalisierung des Antisemitismus-Vorwurfs für pro-israelische Politik hat nämlich auch zur Folge, dass rechtsextremer Antisemitismus verharmlost oder weniger beachtet wird. Dabei haben die mörderischen Attentate von Halle und Pittsburgh gezeigt, dass rechtsextremer Antisemitismus nach wie vor die größte Bedrohung für jüdisches Leben in der Diaspora ist.
Die Ablenkung vom rechtsextremen Antisemitismus geschieht derzeit am geschicktesten durch den Mythos des »importierten Antisemitismus«. Auf den verweisen meist ausgerechnet Rechte, die damit gegen Migrantinnen und Migranten hetzen und gleichzeitig den tief sitzenden Antisemitismus in den eigenen Reihen verschleiern. Historische Aufarbeitung wird dadurch pervertiert: Es geht nicht mehr um die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, sondern um die Stigmatisierung migrantischer Communities und muslimischer Minderheiten. Hinter der vermeintlichen Sorge um importierten Antisemitismus verbirgt sich meist eine tief verankerte rechte Islamophobie. Dieser rhetorische Trick spielt zudem jüdische und muslimische Minderheiten gegeneinander aus.
Dieses destruktive Narrativ ist heute immer mehr von rechts nach links übergeschwappt. So postete DIE LINKE Osnabrück-Land in Reaktion auf die jüngsten Palästina-Demonstrationen »Ehrlich machen heißt zugeben: wir haben Antisemitismus importiert.« Der Post provozierte zwar sofort einen Aufschrei der Partei, zeigt aber dennoch, dass die Idee auch in den eigenen Reihen angekommen ist. Selbstverständlich sollten Linke vor Antisemitismus in migrantischen Communities nicht die Augen verschließen – doch solche Statements bedienen genau jene rechten Diskurse, die zur weiteren Marginalisierung dieser Communities beitragen. Auch wenn medial oft ein anderes Bild gezeichnet wird, gibt es Antisemitismus in jeder Bevölkerungsschicht – und die größte Gefahr geht nach wie vor von deutschen Rechtsextremen aus. Vor diesem Hintergrund ist es besonders zynisch, den Antisemitismus als »importiert« zu bezeichnen. Dieser hat in Deutschland eine lange Geschichte und zur Zeit gerade in den rechtsextremen Milieus der deutschen Corona-Leugnerinnen und -Leugner.
Dass die Rede vom »importierten«, »muslimischen« oder »migrantischen« Antisemitismus oft der Verharmlosung des rechtsextremen Antisemitismus dient, hat sich erst kürzlich wieder gezeigt: Als dem ehemaligen deutschen Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen vor einigen Wochen vorgeworfen wurde, antisemitische Stereotype und rechtsextreme Codes auf sozialen Netzwerken zu verbreiten, verteidigte ihn der Antisemitismusbeauftragte des Bundestags Felix Klein – der Antisemitismus-Vorwurf sei, so Klein, ein »scharfes Schwert«. Gleichzeitig sprach er von der Gefahr, die von Jugendlichen mit Migrationshintergrund ausginge – diesen müsse besonders klargemacht werden, dass Antisemitismus in Deutschland inakzeptabel sei.
Wer Antisemitismus nur dann ernst nimmt, wenn er von Menschen mit Migrationshintergrund kommt, hat vermutlich eher ein Problem mit Migrantinnen und Migranten als mit Antisemitismus. Durch diesen »selektiven Antirassismus« trägt man auch dazu bei, Jüdinnen und Juden gegen andere migrantische Communities auszuspielen – was wiederum dazu führt, dass antisemitische Ressentiments in diesen Communities besser Fuß fassen können.
Antisemitismus kann man nur effektiv bekämpfen, sofern man ein fundiertes geschichtliches und kulturelles Verständnis von ihm hat. Wer Antisemitismus ahistorisch betrachtet und behauptet, er sei »importiert«, der vertuscht, dass dieser ein christlich-europäisches Phänomen ist. Der religiös motivierte mittelalterliche Judenhass unterscheidet sich vom modernen rassistischen Antisemitismus in Europa, der sich wiederum von dem Antisemitismus in der postkolonialen Welt oder in dschihadistischen Ideologien unterscheidet. Um einem komplexen Phänomen wie Antisemitismus gezielt entgegentreten zu können, ist es unabdingbar, zwischen diesen Strömungen differenzieren zu können.
Selbstverständlich gibt es auch Antisemitismus in migrantischen Communities. Diesen zu leugnen bedeutet eine Gefährdung jüdischen Lebens in Europa. Doch manchen Menschen mangelt es schlichtweg an Wissen über die Geschichte antisemitischer Ressentiments und Stereotype in Europa, was dazu führen kann, dass diese auch unwillentlich reproduziert werden. Umso wichtiger wäre es, innerhalb migrantischer Communities linke Bildungsarbeit zu leisten, um gegen Antisemitismus vorzugehen und diese Communities vor rassistischen Pauschalisierungen zu schützen. Allerdings werden linke migrantische Gruppen, die genau das bereits tun und sich dabei oft solidarisch mit Palästina zeigen, in der öffentlichen Debatte um Antisemitismus leider viel zu selten gehört oder selbst als antisemitisch diffamiert.
Widerstand gegen die rechte Instrumentalisierung des Kampfs gegen Antisemitismus ist wichtig, damit sich die Linke diesen Kampf wieder aneignen kann. Dabei war und ist dieser Kampf schon immer ein durch und durch linkes Projekt, da der moderne Antisemitismus eine zentrale Funktion im Kapitalismus spielt. Durch die Projektion abstrakter Dynamiken des Kapitalismus – Ausbeutung, Entfremdung und Warenfetischismus – auf die Figur des Juden wird aus Kapitalismuskritik Antisemitismus. Basierend auf der Antisemitismusanalyse des jüdischen Marxisten Moishe Postone wird solcher Antisemitismus daher auch oft als »verkürzte Kapitalismuskritik« bezeichnet. Demnach verhindert die Verbreitung antisemitischer Verschwörungsmythen auch die Entstehung eines kritischen Klassenbewusstseins.
Antisemitismus kann daher nur durch eine Überwindung kapitalistischer Machtverhältnisse endgültig besiegt werden – und umgekehrt. Das Ineinandergreifen dieser beiden Kämpfe spiegelt sich auch darin wider, dass jüdische Sozialistinnen und Sozialisten in revolutionären Arbeiterbewegungen besonders stark vertreten waren.
Auch wenn sich die rechte Hetze in Europa derzeit eher gegen Musliminnen und Muslime, Schwarze Menschen oder Geflüchtete richtet, sind auch Jüdinnen und Juden nach wie vor bedroht. Die historische Antisemitismusforschung hat gezeigt, dass Antisemitismus im Gegensatz zu vielen anderen Diskriminierungsformen »zyklisch« verläuft: Phasen der Verfolgung und Unterdrückung und Phasen scheinbarer Integration durch die Zusicherungen von relativen Privilegien wechseln sich ab.
Im Vergleich zu der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg ist der Antisemitismus in Europa zwar in den Hintergrund gerückt – doch dort schlummert er weiter und flammt immer wieder auf. Auch unabhängig von den Phasen der Eskalation des Krieges im Gazastreifen sind jüdische Personen und Einrichtungen immer wieder antisemitischen Angriffen ausgesetzt. Es muss daher Teil einer grundlegenden antirassistischen Praxis sein, Jüdinnen und Juden vor antisemitischen Übergriffen zu schützen.
Innerhalb der deutschsprachigen Linken vermindert sich derweil leider das Verständnis davon, was Antisemitismus eigentlich ist und wie man am besten gegen ihn vorgeht. Viele linke Aktivistinnen und Aktivisten in Österreich und Deutschland, die durch die geschichtliche Verantwortung der Shoah verunsichert sind, sehen in der bedingungslosen Solidarität mit Israel die einzige Möglichkeit, Antisemitismus zu bekämpfen. Anstatt sich mit Linken in Israel/Palästina zu solidarisieren, stellen sie sich auf die Seite eines Besatzungsregimes und unterstützen somit die systematische Unterdrückung von Palästinenserinnen und Palästinensern. Abgesehen davon schützt Solidarität mit Israel Jüdinnen und Juden in Europa in keiner Weise gegen Antisemitismus vor Ort. Vielmehr treiben solche Haltungen die Gleichsetzung von Judentum und Zionismus voran, was wiederum antisemitischen Diskursen in die Hände spielt. So kommt es paradoxerweise immer wieder vor, dass unter dem Vorwand der Antisemitismusbekämpfung linke Jüdinnen und Juden von vermeintlich linken Gruppierungen angegriffen werden.
Gleichzeitig ist nicht zu leugnen, dass der Antisemitismus im politischen Spektrum der palästina-solidarischen Linken oft unter den Teppich gekehrt wird, insbesondere wenn er in Bezug auf Israel/Palästina auftritt. Viele dieser Aktivistinnen und Aktivisten sind von den ständigen Antisemitismus-Vorwürfen mittlerweile so ermüdet, dass sie sich gar nicht erst damit beschäftigen wollen. Das führt dazu, dass die Bedrohung des Antisemitismus heruntergespielt oder manchmal sogar geleugnet wird und antisemitische Stereotype in israelkritischen Aussagen reproduziert werden. Jüdische palästina-solidarische Aktivisten beklagen immer wieder, dass auf Seiten linker Palästina-Aktivistinnen nur mangelnde Bereitschaft besteht, sich damit auseinanderzusetzen, wie man Israel kritisiert, ohne Antisemitismus zu reproduzieren.
Es braucht daher ein neues Verständnis von Antisemitismus innerhalb der deutschsprachigen Linken, das sich von diesen beiden Extremen abgrenzt. Jüdinnen und Juden dürfen nicht länger gegen andere Minderheiten ausgespielt werden. Sozialistische Politik bedeutet, sich mit allen Unterdrückten solidarisch zu zeigen – sowohl mit jüdischen Menschen, die in Europa von Antisemitismus betroffen sind, als auch mit palästinensischen Menschen, die seit 73 Jahren durch das israelische Regime systematisch unterdrückt und vertrieben werden. Dazu muss der Kampf gegen Antisemitismus ehrlich geführt und nicht mit Israel-Solidarität gleichgesetzt werden. Mit der Jerusalemer Erklärung gibt es nun zum Glück eine Grundlage, um genau diese Kämpfe zu führen.
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Isabel Frey ist jiddische Sängerin, politische Aktivistin und Doktorandin in Ethnomusikologie und Jüdischen Studien.
Isabel Frey ist jiddische Sängerin, politische Aktivistin und Doktorandin in Ethnomusikologie und Jüdischen Studien.