21. Mai 2024
Die Arbeitszeitverkürzung ist ein politischer No-Brainer. Denn sie erhöht nicht nur die Lebensqualität der Menschen, sondern schont auch Umwelt und Klima und schafft Raum für eine lebendigere Demokratie.
Mitarbeiterinnen am Fließband bei der Firma Beiersdorf in Silao, Mexiko.
Es scheint, als wäre der »schwere Anfall von wirtschaftlichem Pessimismus«, den John-Maynard Keynes Ende der 1920er Jahre diagnostizierte, immer noch nicht überwunden. Keynes ging davon aus, dass bei konstantem Bevölkerungswachstum und moderater Produktivitätssteigerung der Lebensstandard so steigen würde, dass die Gesellschaft in hundert Jahren – also heute – viel weniger für ein gutes Leben arbeiten müsste, »Drei-Stunden-Schichten oder eine 15-Stunden-Woche«. Das ausschlaggebende Problem sah er nicht mehr in ökonomischer Knappheit begründet, sondern darin, wie die viele Freizeit verbracht werden solle.
Keynes hat aufgezeigt, dass unfreiwillige Arbeitslosigkeit aufgrund von ausbleibenden Investitionen von Unternehmen und arbeitsersetzenden Technologien zum eigentlichen wirtschaftlichen Problem werden kann. Es sei denn, die Arbeitszeit wird zuvor schrittweise reduziert und wir gewöhnen uns daran, weniger zu arbeiten und dadurch nicht ärmer zu werden. Er hat jedoch auch vermutet, dass die Konditionierung auf Arbeit die Gesellschaft und Individuen vor Herausforderungen stellen könnte, auf diese geänderten Umstände – optimistisch – zu reagieren.
Und so stellen wir uns heute noch die Fragen: Können wir uns eine Arbeitszeitverkürzung leisten? Hängt unser Wohlstand an absoluten, bezahlten Arbeitsstunden? Na ja, nein. Denn Arbeitszeitgestaltung lässt sich weder rein wirtschaftlich herleiten, noch begründen.
Das Argument, dass Wohlstand durch Arbeitszeitverkürzung verloren geht, funktioniert nur unter der Annahme, dass Wohlstand – ein erreichter, guter Lebensstandard – ein rein materielles Phänomen sei und darauf basiert, dass (einige) Menschen am regulären Arbeitsmarkt ein bestimmtes, hohes Ausmaß an Stunden erwerbstätig sind. Wohlstand entsteht jedoch nicht nur am regulären Arbeitsmarkt, sondern auch durch soziale Dienstleistungen, die Daseinsvorsorge und die Qualität von Gesetzgebung sowie öffentlicher Verwaltung: So können beispielsweise Zentralbanken durch schlaue Finanzpolitik ganze Finanzkrisen verhindern.
»Eine umfangreiche Arbeitszeitverkürzung schafft Freiräume, gewerkschaftlich, zivilgesellschaftlich oder parteipolitisch aktiv zu sein, oder auch einfach mal intensiv über die komplexen Herausforderungen unserer Zeit nachzudenken und sich zu informieren.«
Krisen – die größten Wohlstandskiller neben Kriegen – sind also eine Frage der Administration und der Buchhaltung. Apropos Kriege: Wenn es demokratische Friedenswirtschaften nicht hinbekommen, das Leben aller merklich und deutlich zu verbessern (und dazu gehört vor allem auch eine angemessene Verkürzung der Arbeitszeit), werden sie nicht beständig sein. Im Krieg gibt es keinen Wohlstand.
Die Frage, wie gearbeitet wird, ist eine Frage des nachhaltig friedlichen Wohlstands. Genauso wie die Frage, was produziert wird. Auch wie viele Menschen am Arbeitsmarkt teilhaben sind (die Erwerbstätigkeitsquote), ist für die gesamtgesellschaftliche Teilhabe am Wohlstand entscheidend. Und nicht zuletzt geht es bei Wohlstand um eine qualitative, ideelle Komponente: Was als Wohlstand definiert liegt, unterliegt zeitlichen Schwankungen sowie der höchst intimen, persönlichen, aber auch kulturellen Bewertung und sinnlichen Wahrnehmung von Lebensqualität. Nicht zufällig heißt es bei Giacomo Leopardi: »Die Welt gehört denen, die sie genießen.«
Die Sicherung und Vermehrung von Wohlstand hat also eine politische Dimension, die über Umverteilung, Produktivitätssteigerung und Wachstum im engeren Sinne hinausgeht. In dieser erweiterten Perspektive wird Arbeitszeit zu einer Frage der rechtlichen Regelung, der sozialen Organisation, des sozialen Wandels, der ökologischen Nachhaltigkeit, der Bewusstseinsbildung und vor allem der Politik im Allgemeinen und nicht mehr zu einer rein wirtschaftlichen Notwendigkeit.
Bevor Manufakturen und Fabriken etabliert wurden, also vor der Industrialisierung und den bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts, gab es keinen streng abgegrenzten Arbeitstag. Erst mit der industriellen Revolution bildete sich das Konzept und der Zwang zur Lohnarbeit heraus und Wohn- und Arbeitsort wurden räumlich getrennt.
Gleichzeitig stieg auch die Nachfrage nach Arbeitskräften rasant an und es wurde wichtiger, Arbeitsleistungen genau zu erfassen und diese in Form von vertraglichen Arbeitszeiten festzuhalten. Die Regulierung dieser Arbeitszeit wurde zu einer der wichtigsten Forderungen der Arbeiterinnenbewegung und schon relativ früh als sozialpolitische Maßnahme staatliches Arbeitsrecht – sie war nie Ausdruck wirtschaftlicher Notwendigkeit.
Die gesetzgeberische Tendenz, Arbeitszeit zu regulieren und so Gesundheitsschutz und Umverteilung von Arbeit zu gewährleisten sowie Räume der freien Zeit für Arbeitnehmende zu schaffen, gestaltete sich für fordistische Großbetriebe relativ einfach. Emanzipatorische Beweggründe standen dabei nicht im Vordergrund.
Neuere Technologien und Arbeitszeitgesetze, wie etwa Heimarbeit und flexible Arbeitsmodelle, führen heute dazu, dass die Regeln je nach Zielgruppe unterschiedlich angewendet werden. Betriebszeiten können von Arbeitszeiten entkoppelt werden, etwa durch »Just-in-time«-Systeme oder räumlich ausgelagerte Organisation.
»Wohlstand entsteht jedoch nicht nur am regulären Arbeitsmarkt, sondern auch durch soziale Dienstleistungen, die Daseinsvorsorge und die Qualität von Gesetzgebung sowie öffentlicher Verwaltung.«
Die Änderungen im gesetzlichen Arbeitszeitrecht seit den 1990er Jahren waren vor allem von Motiven der Flexibilisierung bestimmt. Was dabei jedoch oft fehlt und gefehlt hat, sind grundsätzlich kürzere Arbeitszeiten in bestimmten Grenzen, ein rechtlicher Anspruch auf Gleitzeit oder Homeoffice. Denn: Flexibilität bei Vollzeit ist ein Nullsummenspiel – wie soll man bei 8-Stunden-plus-Arbeitstagen und 5-Tage-Wochen flexibel sein?
Arbeitszeitflexibilisierungen und -verkürzungen sind bisher tendenziell als Klassenkampf wahrgenommen und eingestuft worden: Arbeiterinnen wollen weniger arbeiten, Arbeitgeber wollen keine Arbeitszeitverkürzung. So sollten beispielsweise in der Vergangenheit oftmals Zugriffs- und Einsatzmöglichkeiten von Arbeitnehmenden möglichst flexibel gestaltet sein – flexibel im Interesse der Unternehmen.
Doch diese Antagonismen lösen sich im Kontext der Klimakrise auf: ein funktionierendes Ökosystem und Umweltschutz sind im Grunde im Interesse aller Menschen, dadurch funktioniert diese Unterteilung der wirtschaftlichen Interessen nicht mehr. Die Klimakrise zeigt: Umwelt und Ökonomie – also wie wir leben und die gesellschaftliche (Re-)Produktion – lassen sich nicht trennen.
Die Klimakrise hat in diesem Sinne eine – womöglich kontraintuitive – Konsequenz: Nichts ist teurer als zu wenig zu chillen. Was wir erwerbstätig ausführen und wie wir produzieren, ist (noch) nicht ökologisch nachhaltig. Dazu zählen nicht nur das Pendeln zum Arbeitsplatz und wieder nachhause, das man sich beispielsweise bei einer 3- oder 4-Tage-Woche, sparen könnte. Dadurch würden die ohnehin schon angespannten öffentlichen Mobilitätsinfrastrukturen geschont und für nötige Um- und Ausbauten geradezu geboten. Zu den positiven Effekten zählt auch die Reduktion stressbedingter Erkrankungen und Schlafstörungen, die mit Arbeitsdruck einhergehen, sowie die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
Generell sind nur wenige Beschäftigte in der beneidenswerten Lage, von sich behaupten zu können, dass ihre Arbeit (vor allem in der Privatwirtschaft) die Umwelt schont.
Entschleunigung ist in diesem Bereich eines der potentesten Instrumente für ein anderes Wirtschaften. In der Coronakrise wurde klar, wie mächtig Maßnahmen wie Kurzarbeit sind, wenn es um ökonomische und gesellschaftliche Stabilität geht. Diverse daran anschließende Vorschläge für staatlich geförderte Arbeitszeitverkürzungsmodelle beziehungsweise bestehende Modelle wie das der Solidaritätsprämie, die Arbeitslosigkeit strukturell verringern, liegen auf dem Tisch.
»Nichts ist teurer als zu wenig zu chillen.«
Der prägnante Titel des Buches Die Welt geht unter, und ich muss trotzdem arbeiten? von Sara Weber fasst die Absurdität der Situation gut zusammen. Alles ändert sich, nur an der 40-Stunden-Woche darf nicht gerüttelt werden? Weil genau 40 Stunden, nicht weniger, aber auch nicht mehr, das gesellschaftliche Optimum der Produktion bedeuten? Das ist allein deshalb schon nicht überzeugend, weil es in der Vergangenheit immer wieder erfolgreiche Verkürzungen der Normalarbeitszeit gegeben hat, die im Vorhinein auch von konservativer Seite als wirtschaftliche Unmöglichkeiten abgetan wurden.
Dieses Festhalten an veralteten, lustfeindlichen Konventionen und dem konservativen, depressiven Status-quo in »der Wirtschaft« ist auf mehreren Ebenen ursächlich für ökologischen Raubbau und symptomatisch für die Unkultur, vermeintlich wirtschaftliche Notwendigkeiten über menschliche Bedürfnisse zu stellen.
Viele Menschen arbeiten heute in Teilzeit. Dadurch findet auch Arbeitszeitverkürzung statt – jedoch ungesteuert, oft unfreiwillig und als Privatvergnügen. Unfreiwillige Teilzeitbeschäftigung boomt: 18,5 Prozent der Erwerbstätigen in der Europäischen Union gehen einer Teilzeittätigkeit nach; vier von fünf neuen Erwerbsarbeitsplätzen in der Eurozone sind Teilzeitstellen oder niedrig entlohnt.
Dafür gibt es viele Gründe: Veränderungen von Berufen und Mentalitäten, Gleichberechtigung und Demografie oder technologischer Strukturwandel. Schon allein aus dieser faktischen Entwicklung wird der Reformbedarf klar – die Anpassung des Rechts an die Realität. Denn am Recht der Normalarbeitszeit orientiert sich das Sozialversicherungsrecht, von dessen Ideal der Vollzeiterwerbstätigkeit die Mehrheit der Menschen seit Jahrzehnten abweicht, mit entsprechenden Nachteilen – vor allem im Alter.
Die Lücke, die damit zur gesetzlichen Norm einer Vollzeiterwerbstätigkeit entsteht, wird größer. Gewerkschaften steuern in den Industrien, Branchen und Betrieben, in denen sie besonders hohe Organisationsgrade und damit Arbeitskampfstärke aufweisen, gegen. Sie verhandeln kollektiv Verkürzungen von Arbeitszeiten, schrittweise auf 35 Wochenstunden – so in Deutschland etwa in der Druck-, Metall- und Elektroindustrie, nun auch bei den von der Gewerkschaft GDL organisierten Bahnbetrieben oder den Betrieben der Siemens Energy. Auch gar nicht wenige Unternehmen bekennen sich ihrerseits aus der Führungsebene und aus strategischen Gründen heraus zur 4-Tage-Woche – europaweit. Die Vorteile sind nicht nur erhöhte Produktivität, auch die Angestellten sind zufriedener. Win-win.
»Alles ändert sich, nur an der 40-Stunden-Woche darf nicht gerüttelt werden?«
Ein Tarifabschluss, wie der der GDL, geht genau in diese Richtung, auch wenn er einiges offenlässt. Gewerkschaftliche Erfolge wie diese sind jedoch nur für die wenigen Berufsgruppengewerkschaften möglich, die Schlüsselkräfte vertreten. Eine generelle gesetzliche Arbeitszeitverkürzung hingegen ist eine politische Angelegenheit.
Eine solche Arbeitszeitverkürzung kann nur schrittweise und mit vollem Lohnausgleich umgesetzt werden. Sonst wird die Lohnreduktion durch Mehrarbeit wieder ausgeglichen. Das ist zwar nicht überall möglich, gerade für relativ autonome Gutverdiener oder Angestellte mit hohem Arbeitsdruck hingegen schon und so fände wiederum keine effektive allgemeine Arbeitszeitverkürzung statt.
Für Teilzeitbeschäftigte, die unfreiwillig Teilzeit arbeiten und ihre Arbeitszeitverkürzung selbst finanzieren, hätte eine allgemeine Verkürzung der Normalarbeitszeit zudem eine entsprechende Lohnerhöhung zur Folge. Aus Gleichstellungssicht hat dies noch eine weitere positive Konsequenz: Der teilzeitbedingte Gender Pay Gap in Frauenbranchen wie dem Handel, Sozial- und Gesundheitsberufen schließt sich, da die gesetzliche Normalarbeitszeit an die tatsächliche Arbeitszeit in diesen Branchen angenähert wird. Dadurch verliert niemand in anderen Branchen etwas (Geld, Macht), aber alle gewinnen (Zeit).
Eine Arbeitszeitverkürzung hat noch einen weiteren Vorteil: mehr Zeit für demokratische Mitbestimmung. Politisch aktiv zu sein, ist zeit- und energieintensiv. Damit eine wehrhafte, lebendige Demokratie nicht zur inhaltsleeren Form verkommt, muss sie kultiviert werden.
Eine umfangreiche Arbeitszeitverkürzung schafft Freiräume, gewerkschaftlich, zivilgesellschaftlich oder parteipolitisch aktiv zu sein, oder auch einfach mal intensiv über die komplexen Herausforderungen unserer Zeit nachzudenken und sich zu informieren. Dazu gehören auch die Gestaltung und Ausrichtung der Wirtschaft. Oder: Eine Entkoppelung der individuellen (Arbeits-)Marktposition von materieller und sozialer Sicherheit sowie Ausbau von ökologischen Infrastrukturen unabhängig von individuellem Konsum.
Eine Arbeitszeitverkürzung beweist auf der sensorischen Ebene selbst der größten Zweiflerin, dass Klimaschutz das Leben aller besser machen kann. Hier geht es um echte qualitative Errungenschaften – mehr Freizeit, mehr Zeit für sich selbst, mehr Zeit für Kunst und Kultur, mehr Zeit für Ausschlafen, mehr Zeit zu lesen, mehr Zeit sich auf die Straße zu kleben, mehr Zeit, Abgeordneten Briefe zu schicken, mehr Zeit für Sport und Gesundheit.
Das klingt für manche zu gut, um wahr zu sein, denn die Ideologie des neoliberalen Materialismus schließt solch positive Veränderungen kategorisch via Nullsummendenken aus. Es ist kein Zufall, dass es in den letzten 40 bis 50 Jahren in Ländern wie Österreich und Deutschland keine Arbeitszeitverkürzung gegeben hat. Und dass trotz massiv gestiegener Produktivität, Automatisierung, KI und Klimakatastrophe viele zu glauben scheinen, wir könnten uns eine Arbeitszeitverkürzung nicht leisten. Das Problem ist nicht rein wirtschaftlicher Natur. Es sind unsere Gefühle, Einstellungen und Gewohnheiten. Auch Keynes hat erkannt: Reichtum muss man aushalten können. Das ist die eigentliche Schwierigkeit.
Christian Berger ist Sozioökonom und Jurist, Lektor an der Wirtschaftsuniversität Wien, der Medizinischen Universität Wien und an der Fachhochschule des BFI Wien sowie Mitglied der Redaktion der Zeitschrift Kurswechsel.
Lea Steininger ist Ökonomin an der Wirtschaftsuniversität Wien sowie am Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche.