21. April 2022
In Albanien sind die Benzin- und Lebensmittelpreise explodiert. Die Regierung kungelt mit Oligarchen, während breite Teile der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben. Doch eine neue Protestbewegung weigert sich, diese Ungleichheit hinzunehmen.
Großdemonstration gegen Preisanstiege in Albanien.
Der aktuelle Preisanstieg trifft die breite Bevölkerung in Albanien sehr hart – besonders, weil ihre Lebensbedingungen schon vorher kritisch gewesen sind. Auf der anderen Seite besitzen einige Wenige im Land enormen Reichtum. Im vergangenen Monat hat sich eine Bewegung formiert, die den Preisanstieg kritisiert und die bestehende politische Ordnung herausfordert.
Minoas Andriotis sprach mit Enriko Peçuli von der linken Organisation Organizata Politike über die soziale Lage in Albanien und die aktuelle Protestbewegung.
Wie sind die Proteste aufgekommen? Worum geht es dabei?
Einige Tage nach der russischen Invasion in der Ukraine verbreitete sich in Albanien und auch international die Vorstellung einer globalen Krise, die die finanziellen Möglichkeiten der verletzlichsten gesellschaftlichen Gruppen drastisch beeinträchtigen würde. Kurz vor dem Ausbruch des Krieges fingen Spekulanten in Albanien an, mit Öl- und Gas-Preisen zu spielen – wobei sie die Schuld für die steigenden Preise natürlich auf die unsichtbare Hand des freien Marktes schoben. Danach behaupteten sie, dass sie den Aktienmärkten, auf denen sich der Konflikt ebenfalls niederschlug, machtlos ausgeliefert seien.
Die Situation verschlechterte sich Anfang März, als die Benzinpreise täglich um 30 bis 40 Cent pro Liter stiegen. Am Ende der ersten Märzwoche war der Benzinpreis 30 Prozent höher als vor dem Krieg – ein Liter kostete nun 270 albanische Lek, das entspricht etwa 2,22 Euro. Solch ein Preisanstieg würde voraussichtlich eine Kettenreaktion nach sich ziehen und auch die Nahrungsmittelpreise und grundlegende Ausgaben verteuern.
Am Mittwoch, den 9. März, versammelten sich nach Aufrufen in den Sozialen Medien Menschen vor dem Büro des Premierministers in Tirana, um gegen den unzumutbaren Preisanstieg zu protestieren. Bis dahin hatte die Regierung diesbezüglich noch nicht offiziell Position bezogen – abgesehen von den Worten des Premierminister Edi Ramas, der die steigenden Kosten damit rechtfertigte, dass wir alle im Krieg seien.
Der Protest intensivierte sich in der ersten Nacht. Nachdem Protestierende einen Abschnitt des Dëshmorët-e-Kombit-Boulevard blockierten, begannen Zivilpolizisten ohne Dienstausweis einige Protestierende festzunehmen, die auf dem Bürgersteig standen. Etwa dreißig Menschen wurden in dieser Nacht festgenommen; einige von ihnen blieben drei Tage lang in Haft. Am nächsten Tag gab es weitere Proteste in Tirana und anderen albanischen Städten – mit mehr Menschen auf den Plätzen und mehr Festnahmen. Innerhalb einer Woche wurden insgesamt 300 junge Menschen festgenommen.
Der Protest spitzte sich in den folgenden Tagen weiter zu – mehr als 20.000 Menschen gingen auf die Straße. Mittlerweile hat es sich etabliert, regelmäßig große Demonstrationen zu organisieren, um die Forderung nach Krisenprävention aufrechtzuerhalten.
Was wird auf den Protesten gefordert?
Einer der bemerkenswertesten Slogans ist: »Besteuert die Oligarchen – nicht das Volk!« Hier wird deutlich, dass die Menschen den gesellschaftlichen Widerspruch zwischen Arm und Reich verstanden haben.
Ein anderer Slogan lautet: »Wir werden auf die Straßen gehen, zu Hunderten, zu Tausenden – wenn die Preise nicht fallen, wird die Regierung fallen!« Das ist die letzte Drohung an eine Regierung, die beginnen muss, die Interessen der eigene Bevölkerung zu adressieren, wenn sie nicht gestürzt werden will. Wenige Tage vor Ausbruch der Proteste schlug die Energieministerin Belinda Balluku auf einer Pressekonferenz zum Umgang mit der Krise vor, dass die Leute eben nicht das Auto nutzen sollen, wenn sie Lebensmittel kaufen wollen.
Welche Teile der Gesellschaft nehmen an den Protesten teil? Sind politische Organisationen beteiligt?
Es gibt eine massive Beteiligung der arbeitenden Klasse, die am meisten von den Preissteigerungen betroffen ist. Aber es gibt auch Menschen aus anderen sozialen Gruppen und Klassen, die beginnen, ihre Forderungen zu artikulieren – besonders die professionelle Klasse (mit höheren Bildungsabschlüssen) oder auch die untere Mittelschicht.
Die einzige politische Gruppe, die organisiert am Protest teilnimmt, ist Organizata Politike (Politische Organisation), eine linke Gruppe aus Studierenden, Dozierenden und Arbeitenden. Auch Einzelpersonen aus der Zivilgesellschaft, die Erfahrungen in der sozialen Mobilisierung gegen solche Ungerechtigkeiten mitbringen, sind Teil der Organisation.
Wie ist die allgemeine soziale Lage in Albanien?
Einige Tage vor dem russischen Angriffskrieg konnte man in einem Bericht der Weltbank lesen, dass 900.000 Albanerinnen und Albaner von weniger als 5 US-Dollar pro Tag leben. In einem Land mit 2,8 Millionen Menschen leben also über 40 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze, die bei 6 US-Dollar pro Tag liegt. Albanien ist eines der wenigen Länder in der Region und darüber hinaus, in denen es keine gesetzlich festgelegte Grundsicherung bei Erwerbslosigkeit gibt, obwohl der Ombudsman (ein staatliches Amt, das auch »Volksanwalt« genannt wird) errechnet hatte, dass diese bei 18.000 albanischen Lek – etwa 148 Euro – monatlich für jede erwachsene Person liegen müsste.
Der Mindestlohn liegt bei 30.000 Lek (etwa 247 Euro) und der Durchschnittslohn bei ungefähr 50.000 Lek (etwa 411 Euro). An den Lebensmittelpreisen und grundlegenden Ausgaben zeigt sich jedoch, dass diese Löhne zu niedrig sind, um ein Leben in Würde zu führen. Einer der Hauptgründe für diesen Umstand ist natürlich, dass die reichsten 3 Prozent der Bevölkerung mit 4,1 Milliarden Euro Bankeinlagen mehr als die restlichen 97 Prozent der Bevölkerung besitzen – die verfügen über insgesamt nur 3,2 Milliarden Euro.
Kurz gesagt: Die meisten Albanerinnen und Albaner stehen kurz vor einem gesundheitlichen, wirtschaftlichen und sozialen Desaster.
Gab es in den vergangenen Jahren ähnliche Bewegungen?
Im Jahr 2013 gab es schon einmal ähnliche Proteste, deren soziale Zusammensetzung mit der heutigen vergleichbar ist. Damals plante Premierminister Rama chemische Waffen aus Syrien nach Albanien zu importieren und hier zu entsorgen, womit man das Land in einen radioaktiven Mülleimer verwandelt hätte, nur um Profite zu machen. Zu dieser Zeit sind vor allem Menschen aus der Mittelschicht, aber auch aus der arbeitenden Klasse zu Zehntausenden auf die Straßen gegangen, um sich gegen die Entscheidung der Regierung zu stellen. Diese hat letztendlich auf den Druck reagiert und die Entscheidung zurückgenommen.
Der letzte große Protest war die Bewegung von Studierenden im Jahr 2018. Studierende mit unterschiedlichem sozialem Hintergrund haben Plätze, Straßen und Fakultäten besetzt, um gegen die hohen Studiengebühren und die Kommerzialisierung der Universität zu protestieren. Dieser Protest war entscheidend – sowohl für die Senkung der Lebenshaltungskosten der Studierenden als auch für die Demokratisierung der Universität. Daraus hat sich auch eine neue Protestkultur in Reaktion auf die neoliberale Politik der Rama-Regierung entwickelt.
Vor fast anderthalb Jahren, am 8. Dezember 2020, exekutierte die Polizei in Tirana den 25-jährigen Klodian Rasha direkt vor seinem Haus – und das nur, weil er nicht der Aufforderung nachgekommen ist, für eine Polizeikontrolle während der nächtlichen Ausgangssperre stehen zu bleiben. Am nächsten Tag versuchte die Polizei dem Ermordeten eine Pistole unterzuschieben. Videoaufnahmen entlarvten diesen Versuch und ihr Alibi konnte nicht aufrechterhalten werden.
Albanien war aufgrund der Pandemie für zwei Jahre isoliert gewesen. Nun entlud sich die soziale Wut Tausender junger Menschen ohne Zukunftsperspektive auf den Straßen. Das bewirkte, dass die Polizei ihre offizielle Erzählung über den Vorfall änderte. Der damalige Innenminister trat zurück und der Polizist, der Klodian Rasha erschossen hatte, wurde zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt. Das sind Anzeichen dafür, dass die albanische Gesellschaft eine Kultur der Reaktion erlernt, die Wut und Spontanität in politische Forderungen und anhaltenden Widerstand verwandelt.
Wie gut ist die albanische Linke organisiert?
Wie ich bereits erwähnt habe, ist Organizata Politike die einzige politische Gruppe, die sich an den aktuellen Protesten beteiligt – sie ist darüber hinaus auch die einzige linke Gruppe im gesamten Land. Ihr Hauptfokus liegt auf der Organisierung von Studierenden und der Organisierung der wichtigsten Wirtschaftszweige Albaniens. Ein Beispiel dafür ist die Unterstützung, die wir beim Aufbau verschiedener Gewerkschaften in der Privatwirtschaft geleistet haben – besonders in Call Centern, in der Erdölgewinnung und -raffinerie, im Bergbau und in der Textilbranche. Wir wollen Klassenbewusstsein schaffen, indem wir die Aufmerksamkeit auf wirtschaftliche Rechte am Arbeitsplatz sowie politische und soziale Rechte in der Gesellschaft lenken.
Der bislang bedeutendste Erfolg dieses Ansatzes war die Kandidatur des Bergarbeiters Elton Debreshi bei der Parlamentswahl im April 2021. Elton Debreshis Kampagne war eine nationale Sensation: Es war das erste Mal, dass die arbeitende Klasse einen eigenen Kandidaten für das Parlament vorgeschlagen hat. Er hat es geschafft, auf dem dritten Platz in seinem Wahlbezirk zu landen und landesweit war er der unabhängige Kandidat mit den meisten Stimmen. Das Wahlergebnis half uns auch, den politischen Zusammenhang und die eiserne Organisation der regierenden Partei zu verstehen, die bis ins Innerste mit den Oligarchen und ihrem Geld verbandelt ist, und strukturell die am besten organisierte Partei ist.
Welches Potenzial siehst Du in den aktuellen Protesten? Und welche Perspektive für gesellschaftliche Veränderung siehst Du langfristig?
Die aktuellen Proteste sind ein weiterer Nagel im Brett des sozialen Widerstands. Wir haben der Regierung vermittelt, dass es ernst ist. Als Organizata Politike artikulieren wir, wie unfähig die Regierung dabei ist, in den Markt einzugreifen. Außerdem tragen wir zur gesellschaftlichen Mobilisierung für menschenwürdige Lebensbedingungen für die Bevölkerung bei. Wir denken, dass diese Regierung weder den Willen noch die Fähigkeit hat, Geld von den Reichen zu nehmen und einen Umverteilungsprozess zu beginnen, um die arbeitenden Menschen wirtschaftlich zu entlasten.
Wir sind der Meinung: Die Partnerschaft zwischen den Oligarchen und der amtierenden Regierung zeigt, dass wir eine neue sozio-politische Alternative brauchen – nicht nur um Krisen zu begegnen, sondern auch um einen demokratischeren und sozialeren Staat aufzubauen, der auf den Arbeiterinnen, Arbeitern, Studierenden und den am meisten Unterdrückten gründet.
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Enriko Peçuli ist seit sechs Jahren bei Organizata Politike aktiv und zudem als Gewerkschaftsorganizer tätig. Er lebt in Tirana.
Minoas Andriotis ist ehrenamtlich in der Gewerkschaft Ver.di aktiv.