07. Dezember 2020
Seit der rechtsextremen Ausschreitungen hat Chemnitz einen Imageschaden erlitten. Nun steht fest: 2025 wird Chemnitz Kulturhauptstadt Europas. Mit der Ernennung soll auch eine Aufarbeitung der Schattenseiten der Stadt angeregt werden. Fraglich bleibt, ob die Kultur das leisten kann.
Fragment der sozialistischen Vergangenheit der Stadt: Das Karl-Marx-Monument in Chemnitz.
Was Touristinnen und Touristen bei einem Besuch direkt ins Auge sticht: Die ehemalige Karl-Marx-Stadt Chemnitz ist schön. Ostdeutsche Wandbilder und Brunnenskulpturen, Männer und Frauen, die das Proletariat zelebrieren. Die Häuser in der Innenstadt haben Blumenkästen und Balkone. Am Tietz-Parkplatz laufen archäologische Ausgrabungen. Das Restaurant Shalom bietet Chemnitzer Küche. Im Lichthof des Kulturkaufhauses DAStietz ist ein fossiler versteinerter Wald zu bestaunen und Karl Marx’ Kopf ragt hoch über der Brückenstraße.
Chemnitz schlug die Städte Hannover, Hildesheim, Magdeburg und Nürnberg im Ringen um den Titel der Kulturhauptstadt. Es ist eine Underdogstory. Denn was diese Kulturhauptstadt auszeichnet, sind nicht nur ihre guten Seiten, sondern auch ihre hässlichen. Der Gewinn ist Balsam für die verwundete Seele der Stadt. Chemnitz ist nicht nur bekannt als deutsches Manchester, als reiche Industriestadt im 19. und 20. Jahrhundert und für den zweitgrößten Karl-Marx-Schädel. Die Stadt ist nach dem Mord an Daniel H. im Jahr 2018 auch berüchtigt als Hotspot rechtsextremer Demonstrationen. Im selben Jahr gab es einen antisemitischen Angriff auf die Gastronomie Shalom. 1998 fand der NSU Unterschlupf in Chemnitz und in den 1930er Jahren wurde hier Expressionistische Kunst vernichtet. Mit der Ernennung zur »Kulturhauptstadt« bietet Chemnitz nun der zeitgenössischen Kunst einen Handlungsraum, um die Aufarbeitung der eigenen Geschichte anzustoßen.
Mit dem Motto »C the Unseen« hat sich Chemnitz auf den Titel der Kulturhauptstadt beworben – und durchgesetzt. Einen Blick auf das Überraschende und zu Übersehende möchte man richten. Internationale Künstlerinnen, Künstler und Kollektive wurden eingeladen, um die Wunden offenzulegen oder Pflaster zu kleben. Dafür schafft Chemnitz Platz: Es sollen zum Beispiel 3.000 Garagen zu Kulturräumen umfunktioniert werden.
Einen wichtigen Beitrag zur Bewerbung auf den Titel leistete die von Florian Matzner und Sarah Sigmund kuratierte Ausstellung »Gegenwarten/Presences«, die im Herbst 2020 zeitgenössische Kunst im öffentlichen Stadtbild präsentierte. Der Ausgangspunkt: Man könne nicht von einem einheitlichen Chemnitz sprechen, da Gegenwart und Geschichte parallel und im Plural verlaufen. Die Ausstellung, ein Projekt der Stadt Chemnitz, war für den Erfolg der Bewerbung sicherlich nicht unwesentlich. Chemnitz will sich damit zwischen der documenta in Kassel und den Skulpturprojekten in Münster einreihen. Mit der Ausstellung will man im Spiegel der zeitgenössischen Kunst der Gegenwart und der Vergangenheit ins Auge blicken.
»Aufbruch« ist das Thema. Für den Abschluss mit dem »alten Chemnitz« und als Aufmacher für die Kulturhauptstadt stand sinnbildlich der »Wandelgang« am Ende der Brückenstraße, einer der vielen breiten Aufmarschstraßen aus DDR-Zeiten. Die niederländische Künstlergruppe Observatorium baute dort eine Brücke, die zugleich ein Tor ist. Auf dem Konstrukt steht: »Was beginnt am Ende, was hört am Anfang auf?« Eine begehbare, funktionale Brücke ist es nicht, doch die rätselhafte Fragestellung will dazu einladen, neue Vorstellungen der Stadt zu entwerfen. Nun sollen hier die Friedensfahrten, während der DDR stattfanden, wieder eingeführt werden. 170 km soll es von Pilsen nach Chemnitz gehen.
Das zentrale Anliegen vieler künstlerische Arbeiten war es, Begegnungsorte in der Stadt zu schaffen. Ob es für eine zielführende Aufarbeitung allerdings genügt, eine kulturelle Infrastruktur für den Austausch im öffentlichen Raum zu bieten, bleibt offen.
Chemnitz wird als Ort der Hochkultur gelobt. Die Kunstsammlungen Chemnitz gehören zu den größten und wichtigsten Sammlungen zeitgenössischer und historischer Kunst in Deutschland und machen in der Chronologie ihres Hauses auch kein Geheimnis daraus, das im Nationalsozialismus ungefähr 750 Werke als »Entartete Kunst« beschlagnahmt wurden. Diesem Kulturverlust will man mit einer Schau zu Expressionismus und neuer Sachlichkeit ins Auge blicken.
Für Aufruhr sorgte das Peng! Collective mit seinem Projekt »Antifa – Mythos und Wahrheit«, das sich als Antifa-Museum im Giftshop der Kunstsammlung Chemnitz einquartierte. Die antifaschistischen Aktivitäten in Sachsen wurden hier musealisiert und ins kollektive Gedächtnis der Stadt geholt. Zehn Objekte, darunter ein Holzscheit, ein Bierkasten und ein als Polizeiwagen anmutender Einkaufswagen würdigten die aktivistische Historie und zeigten gleichzeitig auf, wo noch Handlungsbedarf besteht. Das Konzept der Aktion reagierte auf die Hufeisentheorie, die linken und rechten Extremismus als vergleichbar begreift. Da im Ausstellungstext auch explizit CDU, FDP und AfD für deren Gleichsetzung von Links- und Rechtsextremismus kritisiert wurden, wäre die Arbeit beinahe nicht gezeigt worden. Der darauffolgende Shitstorm und die damit einhergehende mediale Aufmerksamkeit hat letztlich auch der Kulturhauptstadt einen Dienst erwiesen.
Die Nachrichten über Chemnitzerinnen und Chemnitzer in den Medien haben für Vorurteile und Stereotype gesorgt. Eine nuancierte Herleitung der kulturellen Identitäten der Chemnitzerinnen und Chemnitzer lieferte Henrike Naumann in der Kunstsammlung Gunzenhausen mit ihrer Arbeit »Evolution Chemnitz«. Mit ihren Installationen aus DDR-Möbeln macht Naumann den ehemals persönlichen Wohn- zum öffentlichen Diskussionsraum. Im Foyer des Museums wurde in fünf dunklen Kapiteln, die als Videoarbeiten auf Fernsehern installiert waren, eine fiktionale Entwicklung in Anlehnung an historische Ereignisse in Chemnitz erzählt, darunter Arbeiterinnen-Demonstrationen im Jahr 1919 gegen steigende Lebensmittelpreise, eine Szene aus dem Zweiten Weltkrieg, die Treuhand, das Versteck der NSU und die Schauplätze der rechtsextremen Demonstrationen nach dem Mord an Daniel H. Der Drehort der Filme, das Hotel Elsenhof – erkennbar an den pastellfarbenen Wänden –, erwies sich auch als besetzt, da im gleichen Gebäude eine bei Rechtsextremen beliebte Bekleidungsmarke verkauft wird. Wie bei einer Ausgrabung legt Naumann die Geschichten der Stadt offen und findet eine Sprache für die ambivalente Vergangenheit der Stadt
Tobias Zielonys Videoarbeit »Die Untoten« versuchte die Taten des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) in den 1990er Jahren und dessen Spuren in der Gegenwart aufzuzeigen. Der NSU ist mittlerweile ein historisches Fallbeispiel für rechtsextremen Terror und das Versagen der deutschen Justiz. Zielonys Video karikiert die Geister der NSU als Zombies, die sich einen Showdown mit zwei Superhelden liefern. Doch der Film läuft im Loop, der Kampf fängt immer wieder von vorne an. Der NSU ist kein Einzelfall und auch nicht bewältigt, solange den Opfern und deren Familien Recht ausständig ist.
Kunst und Kultur kann in Chemnitz zum Katalysator werden, um im öffentlichen Raum für Interaktion zu sorgen und zum Nachdenken anzuregen. Chemnitz’ Geschichte hat sich in das Stadtbild eingeschrieben und wird dabei selbst zum Teil der Ausstellung. Die künstlerischen Positionen, die im öffentlichen Raum sichtbar geworden sind, provozieren, sie zeigen auf und sie würdigen.
Die Anerkennung zur Kulturhauptstadt mag für die Aufarbeitung der Wunden der Stadt einen guten Aufhänger bieten, doch die Auseinandersetzung muss auch darüber hinaus geführt werden. Viele der symbolischen Perspektiven sind inzwischen wieder abgebaut. Es ist zwar gelungen, die widersprüchlichen, pluralen Gegenwarten und Vergangenheiten der Stadt an die Oberfläche zu holen, doch für einen Neustart reicht das nicht. Letztlich formuliert die Kunst die Aufforderung zu einem kontinuierlichen Prozess. Ob dieser nun angestoßen ist, wird sich erst noch zeigen müssen.
Nina Prader ist Künstlerin, freie Autorin und forscht zu alternativen Medien und Verlagspraktiken.
Nina Prader ist Künstlerin, freie Autorin und forscht zu alternativen Medien und Verlagspraktiken.