07. Dezember 2023
Ökonom und Katholik Patrick Kaczmarczyk will »Raus aus dem Ego-Kapitalismus«. Im Interview spricht er darüber, warum die christliche Soziallehre, von der CDU gründlich vergessen, für ihn der Schlüssel zu einer gerechteren Welt ist.
Im Jahr 2013 besucht Boliviens sozialistischer Präsident Evo Morales Papst Franziskus im Vatikan.
Die kleine Renaissance, die die Kapitalismuskritik seit 2008 erlebte, brachte vor allem neokeynesianischen und marxistischen Stimmen neue Aufmerksamkeit. Intellektuelle wie David Harvey, Thomas Piketty oder Isabella Weber haben sich einen Namen damit gemacht, den Kapitalismus vom Grund auf zu kritisieren und politische Alternativen vorzuschlagen. Doch neben diesen materialistischen Denkerinnen und Denkern ging die lauteste Kapitalismuskritik in den vergangenen Jahren von einem eher ungewöhnlichen Ort aus: dem Vatikan.
Papst Franziskus, der 2013 den erzkonservativen Benedikt XVI. ablöste, erreicht mit seinen Predigten Millionen von Menschen mehr als alle linken Politikerinnen und Theoretiker des 21. Jahrhunderts zusammen, und wirft damit die Frage auf, was für andere Wege es zu einer breiten antikapitalistischen Massenbewegung geben kann. Die gleiche Frage stellt sich der Ökonom Patrick Kaczmarczyk in seinem neuen Buch Raus aus dem Ego-Kapitalismus. Er sprach mit JACOBIN darüber, wie die christliche Soziallehre von links aufgegriffen und im Kampf für eine bessere Welt angewendet werden kann.
In Deinem neuen Buch ziehst Du die katholische Soziallehre heran, um einen gerechten Gegenentwurf zum Neoliberalismus zu skizzieren. Hast Du das Buch für marktliberale Christen geschrieben oder für progressive Heiden?
Für beide, würde ich sagen. Auf der einen Seite wollte ich jetzt gerade mit dem Abdriften der CDU beziehungsweise der Konservativen nach rechts ein Statement setzen, zu welchen Prinzipien sie ihr Glaube sie eigentlich verpflichtet – wenn sie sich schon als christlich bezeichnen. Zum anderen wollte ich auch Progressiven Argumente mit an die Hand geben, weshalb ihre Position auch aus christlicher Sicht gut begründet sind.
Was bedeutet »Ego-Kapitalismus« für Dich?
Ego-Kapitalismus ist für mich ein Kapitalismus, der allein auf die Durchsetzung kurzfristiger Interessen ohne Rücksicht auf die Auswirkungen unseres Handelns auf Dritte aufgebaut ist. Fabio de Masi nennt das im Vorwort »Ökonomie des Ellenbogens«. Es ist eine ganz besondere Art des Kapitalismus, die alles andere als vom Himmel gefallen ist. Entsprechend geht es mir darum, zu zeigen, welche anderen Strukturen und Regulierungen wir für unsere wirtschaftliche Entwicklung aufsetzen könnten.
Du plädierst für eine andere Ausgestaltung der Märkte und bezieht Dich in dem Zusammenhang positiv auf die Nachkriegszeit. Das goldene Zeitalter des Kapitalismus hat, wie wir alle wissen, nicht ewig gehalten. Wie ging es zu Ende?
Wir hatten in dieser Zeit eine enorme Steigerung der Lebensqualität in der Breite der Gesellschaft. Man hatte auch im Hinblick auf die Zukunft immer das Gefühl: Meinen Kindern wird es besser gehen als mir. Es gab natürlich viele Dinge, gerade im gesellschaftspolitischen Bereich, die alles andere als gut waren. Auch international hatten wir ein System, das zwar verhältnismäßig stabil war, andererseits jedoch auf kolonialen Strukturen basierte und die Entstehung von Handelsungleichgewichten nicht vorbeugen konnte, sodass hinten raus die Politik immer ruckartig in die Devisenmärkte eingreifen musste.
Doch alles in allem funktionierte das System ökonomisch gesehen für die breite Masse der Gesellschaft. Dies hielt bis in die 1970er-Jahre, als sich mit den beiden Ölpreisschocks und dem fehlerhaften wirtschaftspolitischen Management eine Möglichkeit bot, die Machtverhältnisse von der Arbeit wieder hin zum Kapital zu verrücken. Eine gut organisierte neoliberale Elite, die über enormes Kapital und Netzwerke verfügt, nutze diese Gelegenheit, um ihr eigenes Modell, ihre eigene Propaganda knallhart durchzusetzen.
»Die Meisten in der CDU sind beim Wirtschaftsrat oder der Mittelstandsunion unterwegs und vertreten Positionen, die die Botschaft des Christentums pervertieren – ganz abgesehen davon, dass diese Positionen ökonomisch auch völlig unsinnig sind.«
Wie erklärst Du Dir, dass die Christdemokratie immer mehr dem Kapitalismus und dem Marktliberalismus huldigt und ihre Wählerinnen und Wähler das auch vermeintlich gutheißen?
Patrick: Das ist für mich das größte Rätsel überhaupt. Ich verstehe nicht, wie man sich als christlich bezeichnen kann und dann so radikal individualistische, primitive, neoliberale Position vertreten kann. Für mich ist es ein fundamentaler Widerspruch zum Wesen des Christseins, sodass ich die Frage leider nicht beantworten kann. Ich kann nur sagen, dass die marktradikalen Priester nicht nach den Prinzipien ihres eigenen Glaubens handeln.
Die meisten interessiert das aber gar nicht mehr, auch wenn beispielsweise bei der CDU das »C« im Parteinamen steckt. Wie vielen Leuten sagt die katholische Soziallehre noch etwas? Oder die Sozialethik? Statt sich mit solchen Grundsatzfragen zu befassen, sind die Meisten in der CDU beim Wirtschaftsrat oder der Mittelstandsunion unterwegs und vertreten Positionen, die die Botschaft des Christentums pervertieren – ganz abgesehen davon, dass diese Positionen ökonomisch auch völlig unsinnig sind.
Du schreibst in Deinem Buch: »Ideen prägen die Welt«. Widerspricht das nicht der marxschen Binsenweisheit, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt?
Ich veranschauliche die Debatte, indem ich Keynes und Marx in den Ring steigen lasse. Keynes steht für die These »das Bewusstsein bestimmt das Sein«, Marx, wie Du sagst, steht für die Gegenthese. In meinen Augen haben beide recht. Was für uns wichtig ist: Welche Wirtschaftspolitik sich in welcher Form durchsetzt, ist letztendlich immer eine Frage der Macht. Dahingehend beziehe ich mich auf den kanadischen Ökonomen Stephen Hymer, der schrieb, in einer kapitalistischen Wirtschaft gebe es zwei Quellen der Macht: Information und Kapital. Im Grunde ist da sowohl etwas von Keynes als auch von Marx drin, und natürlich sind beide Faktoren nicht gänzlich unabhängig voneinander.
Wir erleben dieser Tage wieder, welche Mittel Teile des Kapitals über Verbände, Stiftungen, Medien und konservativ-liberale Parteien in Bewegung setzen, um die gegenwärtige Krise für einen Kahlschlag des Sozialsystems und eine Abkehr von jeglicher Klimapolitik zu nutzen. Die Propagandamaschinerie läuft auf Hochtouren: Es geht da um die faulen Arbeitslosen, die sich vermeintlich durchfüttern lassen; den angeblich viel zu großzügigen Sozialstaat, der dazu führe, dass alle ihre Jobs kündigen und vom Bürgergeld leben wollen; eine Klimapolitik, die rein ideologiegetrieben sei und so weiter.
Empirische Grundlagen hat ein solcher Populismus natürlich überhaupt keine, aber er zieht. Er spielt mit Emotionen und wirft mit Bildern um sich, um Stimmung für die eigene Agenda zu machen. Und genau darum geht es: Man braucht für die Zustimmung der Bevölkerung Bilder, die sich in den Köpfen der Menschen festsetzen, um eine Politik für die reichsten paar Prozent und gegen das Interesse der Mehrheit zu legitimieren.
Welche Idee dient denn dem Ego-Kapitalismus als Legitimation?
Der Kern des Ego-Kapitalismus ist der Glaube an die perfekte Meritokratie: Jeder ist seines Glückes Schmied und wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht. Auf dieser Basis macht man dann Politik, sowohl national als auch international. International greift man den Multilateralismus an und lässt Entwicklungsländer mit ihren Problemen allein, denn sämtliche wirtschaftliche Schwierigkeiten seien auf ihr eigenes Versagen zurückzuführen. National werden die Bande der Solidarität zertrümmert. Arbeitslosigkeit wird zu einem Ausdruck von Faulheit umgedeutet. Arbeit im Niedriglohnsektor sei nur eine Folge der eigenen niedrigen Produktivität.
Von makroökonomischen Zusammenhängen und Bedingungen will der Ego-Kapitalismus nichts wissen. Wenn beispielsweise die Zahl der Arbeitslosen die Zahl der offenen Stellen übersteigen würde, wäre die ganze »Logik« hinter dem Populismus zerstört. Es geht also darum, möglichst in die Einzelsichtweise zu gehen und diese so zu gestalten, dass die eigene Propaganda als akkurates Abbild der Welt wahrgenommen wird.
»Viele der entwicklungspolitischen Forderungen der Soziallehre wurden bereits häufiger von den Ländern des Globalen Südens erhoben, doch der Westen blockiert wesentliche Reformen, wo es nur geht.«
Du bist der Meinung, dass die Wirtschaft stattdessen einen Kompass braucht. Welcher Kompass wäre das für Dich?
Für mich ist die Soziallehre mit den mit ihr verbundenen Prinzipien ein möglicher Kompass. Zu diesen Prinzipien zählen Personalität, Subsidiarität, Gemeinwohl, Nachhaltigkeit und Solidarität. Das klingt im ersten Moment vielleicht etwas abstrakt, doch es hat eine einfache und verständliche Ordnung. Alles geht von der Würde des Menschen aus, die ihm bei der Schaffung der Welt gegeben wurde. Das ist der Eckstein. Daraus abgeleitet ergeben sich verschiedene Anforderungen an die Wirtschaftspolitik, unter anderem die Unterordnung des Privateigentums unter die Bekämpfung von Armut und das Gemeinwohl, die Bevorzugung der Arbeit gegenüber dem Kapital, und eine 180-Grad-Wende in der Umwelt- und Entwicklungspolitik.
Es ist eine klare Werteordnung darin zu finden, nach der die Wirtschaft gestaltet werden muss. Das scheint auf den ersten Blick zum neoliberalen Mantra im Widerspruch zu stehen, dass »der Markt« es richten werde. Dabei ist dieses Mantra natürlich auch interessens- und wertegeleitet, nämlich, grob gesagt, von den Werten des Sozialdarwinismus. So hilft es vor allem jenen, die in der Gesellschaft bessergestellt sind, denn durch den Zugang zu Politik und Medien wird es möglich, die Märkte in einer Form zu gestalten, dass die größten Gewinne in die tiefsten Taschen geleitet werden.
Diese Mär vom machtfreien und wertneutralen »freien Markt« ist nicht mehr als ein Mythos. Es hat ihn nie gegeben. Märkte sind Institutionen und Institutionen werden politisch gestaltet. Das war auch in den letzten vierzig Jahren der Fall, die definitiv keine Ära der Deregulierung, sondern eine Ära der Reregulierung waren, nur eben mit besagter Schlagseite. Da Märkte auch anders gestaltet werden können, gibt die Soziallehre der Politik und Gesellschaft andere Prioritäten mit an die Hand.
Welche Rolle spielt dabei der Mensch und welche der Rest der Schöpfung – also Tiere, die Umwelt, der Planet – in der Soziallehre?
In den letzten Jahren spielt die Schöpfung eine immer größere Rolle. Auf der einen Seite gibt es ohnehin den klaren Auftrag in den Schöpfungstexten, die Welt zu bebauen und zu behüten. Auf der anderen Seite ist die gesamte Schöpfung ein Geschenk Gottes. Und wenn du mit etwas, das dir zur Pflege und zur Bebauung anvertraut wurde, so umgehst, wie wir es in den letzten Jahrzehnten und Jahrhunderten getan haben, widerspricht das fundamental dem Auftrag Gottes.
Wie grenzt sich Deine Herangehensweise vom Konzept der Philanthropie ab, das unter Konservativen durchaus verbreitet ist?
Der gemeinschaftliche Charakter ist gerade im Christentum zentral. Besonders radikal wird es bei den frühen Christen. In der Apostelgeschichte heißt es, die Urgemeinde »war ein Herz und eine Seele. Keiner nannte etwas von dem, was er hatte, sein Eigentum, sondern sie hatten alles gemeinsam. […] Es gab auch keinen unter ihnen, der Not litt. Denn alle, die Grundstücke oder Häuser besaßen, verkauften ihren Besitz, brachten den Erlös und legten ihn den Aposteln zu Füßen. Jedem wurde davon so viel zugeteilt, wie er nötig hatte.«
Die Idee, dass jemand durch viel Reichtum und Macht dirigieren und bestimmen könnte, was beispielsweise sozial- oder gesundheitspolitisch getan werden sollte und was nicht, ist der Bibel fremd. Man kann und sollte zwar philanthropisch gerne aktiv sein, wenn man sich einen gewissen Wohlstand erarbeiten konnte. Schließlich trägt jeder Mensch eine Verantwortung für das Gemeinwesen und Gemeinwohl. Allerdings ersetzt es nicht die Verantwortlichkeit der Gemeinschaft für den Einzelnen – und gerade in Verbindung der Soziallehre mit demokratischen Grundprinzipien sind die Abhängigkeiten, die sich vom Wohl und Wehe einzelner Philanthropen ergeben könnten, in engen Grenzen zu halten.
Du beschäftigst Dich als Ökonom viel mit Entwicklung, auch in diesem Buch. Entwicklungspolitik ist in der kollektiven Vorstellung eng verknüpft mit Missionierung, Sozialpolitik mit Almosen. Läuft das, was Du schreibst, auf mehr solchen Paternalismus hinaus?
Nein, auf keinen Fall. Es geht darum, die systemischen Grundvoraussetzungen zu schaffen, damit Menschen und Länder ihre Potenziale entfalten und gut in Gemeinschaft miteinander leben können. Almosen und Transfers bräuchte es in einem solchen System nicht mehr.
Siehst Du im Globalen Süden Verbündete für die Vision, die Du im Buch aufzeichnest?
Ja, definitiv! Der aktuelle Papst, Papst Franziskus, kommt selbst aus Argentinien, also aus dem Globalen Süden. Er hat das Leid und das Chaos, das der Finanzkapitalismus dort verursacht, am eigenen Leib und in seiner Gesellschaft gespürt. Deswegen hat er eine andere Perspektive als die westlichen Intellektuellen, die die Auswirkungen solcher Krisen niemals begreifen und nachvollziehen werden. Viele der entwicklungspolitischen Forderungen der Soziallehre wurden bereits häufiger von den Ländern des Globalen Südens erhoben, doch der Westen blockiert wesentliche Reformen, wo es nur geht. Dass er mit dieser Blockadehaltung jedoch machtpolitisch so langsam an seine Grenzen stößt, sah man zuletzt auch beim Votum der Generalversammlung zur Steuerkonvention der Vereinten Nationen.
Ist ein Ende des Ego-Kapitalismus in Sicht?
Das sehe ich nicht, aber ich halte mich auch generell mit Prognosen zurück. Wir erleben gerade in den letzten Jahren, dass sich sämtliche Parameter, die wir für eine Prognose bräuchten, ständig ändern. Wir müssen aber alles dafür tun, dass wir den Ego-Kapitalismus überwinden und sowohl global als auch bei uns eine Wirtschaft gestalten, die im Dienst der Menschen steht.
Patrick Kaczmarczyk ist wirtschaftspolitischer Berater bei der UNCTAD und Autor des Buches »Kampf der Nationen«.