30. Mai 2022
DIE LINKE hat Potenzial - doch sie kann es nicht ausschöpfen. Obwohl linke Forderungen populär sind, steckt die Partei in einer Existenzkrise. Wie sie da wieder herauskommen kann, erklärt PDS-Gründungsmitglied Michael Brie im JACOBIN-Interview.
PDS-Genossin bei einer Protestaktion der Partei in Berlin-Hellersdorf, 13.10.1994.
Nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik hat eine Partei es geschafft, sich über mehrere Legislaturperioden zu etablieren, um anschließend in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Doch genau das droht gerade der Linkspartei: Keine vierzehn Monate nachdem die damaligen Ko-Vorsitzenden Susanne Hennig-Wellsow und Janine Wissler versprachen, einen »Aufbruch« zu starten, sieht es für die Partei düster aus. Jedes Wahlergebnis ist schlechter als das letzte – inzwischen steht die Partei in manchen Bundesländern Kopf an Kopf mit Splitterparteien wie der Tierschutzpartei.
Der LINKEN mangelt es nicht an populären Forderungen – manche wurden von der Regierung sogar umgesetzt, sei es der Abzug aus Afghanistan oder die Aussetzung der Hartz IV-Sanktionen. Doch DIE LINKE schafft es nicht, aus solchen kleinen Erfolgen politisches Kapital zu schlagen. Während sie bei der Gründung Mitte der 2000er oft noch als eine politische Gefahr für die etablierten Parteien betrachtet wurde, wird sie heute von ihren politischen Gegnern eher belächelt – und dient ihnen als Beweis dafür, dass radikale und sozialistische Politik nicht ernst zu nehmen ist.
Gibt es also noch einen Ausweg für Deutschlands Sozialisten? Einer, der solche Diskussionen schon lange kennt, ist Michael Brie. Der einstige Dozent für historischen Materialismus an der Humboldt-Universität gehörte zu den Gründungsvätern der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) und der parteinahen Rosa-Luxemburg-Stiftung, deren Institut für Gesellschaftsanalyse er von 2008 bis 2013 leitete. JACOBIN hat mit ihm über die Gegenwart und mögliche Zukunft der Linkspartei gesprochen.
Du bist 1974 in die SED eingetreten, hast in den 1980er Jahren an Reformkonzepten für die DDR gearbeitet, und warst für die PDS in verschiedenen Programmkommissionen tätig. Du hast also etwas Erfahrung mit linken Parteien in Deutschland. Wie schätzt Du den Zustand der LINKEN heute ein?
Die Partei ist schlicht in einer Existenzkrise. Ich habe das 1989, 2002/3 und 2012 auf dem Göttinger Parteitag schon einmal erlebt. Insgesamt sind eigentlich alle linkssozialistischen und sogar sozialdemokratischen Projekte in Europa immer wieder existentiell gefährdet. Aber es gibt Momente, wo sich entscheidet, ob ein solches Projekt überhaupt noch eine Chance hat. Und dieser Augenblick ist jetzt.
Es gibt einen schreienden Widerspruch zwischen dem Potenzial der Partei und ihrer Fähigkeit, dieses Potenzial zu organisieren und politisch zur Wirkung zu bringen. Je nach Maßstab könnten sich 13 bis 18 Prozent der Wählerinnen und Wähler vorstellen, die Linkspartei zu wählen. Die Partei hat 30.000 junge Mitglieder. Sie ist in vier Landesregierungen vertreten, teilweise durchaus erfolgreich. Sie ist konzeptionell nicht so schlecht aufgestellt, wie es erscheint. Trotzdem steht die Partei kurz vor dem Ende, wenn kein neuer Anfang gemacht wird.
Woran liegt das Deiner Meinung nach?
Die Ursache für diese Situation ist, dass DIE LINKE keine Partei mehr ist, sondern ein Haufen von Gruppen, die noch in einer Partei sind. Diese Partei hat zu keiner einzigen zentralen Frage, die die Menschen in der Bundesrepublik in den letzten Jahren bewegt hat – sei es Migration, Corona, Klima oder Krieg –, mit einer Stimme gesprochen. Ihr wird keinerlei Zukunftskompetenz beigemessen. Bei den Themen Ökologie und Digitalisierung halten gerade einmal 1 oder 2 Prozent die Partei für kompetent, obwohl sich die LINKE intensiv mit diesen Fragen beschäftigt.
»Besonders jenen, die in der ganz normalen Arbeitswelt verankert sind, hat DIE LINKE offensichtlich kaum etwas zu sagen, was überzeugend ist und zugleich durchsetzungsfähig.«
Es fehlt ein strategisches Zentrum und eine anerkannte Führung, die auch zu führen vermag. Um es mit Antonio Gramsci zu sagen: Eine Armee ohne Generalstab ist verloren. Der Parteitag Ende Juni hat eigentliche eine einzige Aufgabe: die Wahl eines Führungspersonals, das in der Lage ist, ein strategisches Zentrum aufzubauen, und das mit allen Konsequenzen.
Die Wahlschlappe im vergangen September ist vielleicht der Punkt gewesen, an dem die existenzielle Krise der LINKEN ans Licht trat, aber die Probleme gab es schon lange davor. Was hat sich im letzten Jahr verändert? Warum ist die Krise plötzlich so akut?
Die Partei befand sich schon lange in einer Seitenlage – wie ein Schiff, in das Wasser eindringt. Wenn nun immer mehr Wasser eindringt, als Wasser raus gepumpt werden kann, dann wird aus einer stabilen Seitenlage eine instabile. Das kleinste Lüftchen, die kleinste Welle bringt das Schiff zum Kentern. Es gibt also keinen besonderen Grund. Die Bundestagswahl 2021 und die nachfolgenden Wahlen haben nur das offen und schonungslos vor Augen treten lassen, was allen, die etwas nüchtern auf die Partei geschaut haben, schon lange bewusst war.
Die jetzige Linkspartei ist entstanden, nachdem Deine damalige Partei, die PDS, 2002 an der 5-Prozent-Hürde scheiterte. In den Jahren danach wurde eine Fusion angestrebt von PDS und der neu entstandenen WASG, die vor allem westdeutsche Sozialdemokraten und Gewerkschafterinnen vereinte. Doch das Milieu, aus dem die WASG hervorgegangen war, scheint heute marginal zu sein. Oskar Lafontaine ist kürzlich sogar ausgetreten. Würdest Du die Fusion als gescheitert betrachten?
Parteien sind wie Raketen, die ins Weltall auf eine Umlaufbahn geschossen werden. Wenn eine Stufe des Antriebs gezündet wurde und ausgebrannt ist, steigt die Rakete weiter. Noch wirkt die vergangene Schubkraft, aber der Aufstieg wird schwächer. Gelingt es nicht, eine weitere Stufe des Antriebs zu zünden, kommt es zum Absturz. Man muss sich nur das Schicksal der Kommunistischen Parteien in Italien oder Frankreich vor Augen führen. Die Liste der Abstürze ist lang.
Die Fusion selbst war – relativ – erfolgreich. DIE LINKE hat viel bewegt. Sie hat entscheidend dazu beigetragen, die Agenda 2010 zurückzudrängen, die SPD nach links zu ziehen und die Grünen zu drängen, sich auch sozialen Fragen zuzuwenden. Sie hat auch Kritik an Militäreinsätzen, der NATO und den neoliberalen Konkurrenzstrukturen der EU im öffentlichen Bewusstsein gehalten. Insofern ist die Partei nicht zuletzt Opfer ihres eigenen Erfolges.
Die Tagesordnung der Politik hat sich verändert und DIE LINKE hat zum gleichen Zeitpunkt ihre Einheit verloren, das gemeinsame Selbstverständnis über ihre Funktion. Sie verlor viele Mitglieder und die, die neu kamen, konnten nicht mit denen, die da blieben, vereint werden. Es kam zu einer Kakophonie falscher Gegensätze in fast jeder Frage.
»Die Verantwortung für gelebte Solidarität liegt zunächst bei denen, die dafür die besseren Möglichkeiten haben.«
Besonders jenen, die in der ganz normalen Arbeitswelt verankert sind, die Sicherheit und Schutz in Zeiten tiefgreifender Umbrüche einfordern, hat DIE LINKE offensichtlich kaum etwas zu sagen, was überzeugend ist und zugleich durchsetzungsfähig. Die Partei konnte daher auch bei den Gewerkschaften nicht punkten. Von schönen Ideen allein wird der Mensch nicht satt.
Katja Kipping hat als Parteivorsitzende öfters gesagt, DIE LINKE müsse »die erste Adresse für junge Menschen, die die Welt verändern wollen«, werden. Das scheint zu gelingen: Sie hat eine der jüngsten Mitgliedschaften aller Parteien. Sie ist zunehmend in urbanen Milieus und in Westdeutschland verankert. Und dennoch scheint man allerorts gesellschaftlichen Einfluss zu verlieren. Was funktioniert nicht?
Wenn eine sozialistische Partei nicht die erste Adresse für junge Menschen, die die Welt grundlegend verändern wollen, ist, dann ist macht sie etwas falsch. Zunächst muss man sagen, dass DIE LINKE da heute nach den Grünen eher die zweite Adresse ist. Außerdem – und das muss genauer analysiert werden – gibt es eine sektiererische Radikalität.
Was meinst Du mit »sektiererischer Realität«?
Es gibt Milieus, die in sich einen Kult radikaler Vorstellungen entwickeln, der gegenüber den Lebensansprüchen der Mehrheit der Gesellschaft völlig blind ist oder diesen sogar feindlich gegenüber steht. Das brach 2015/16 im Zusammenhang mit den vielen Geflüchteten aus Kriegsgebieten auf. Man hat den Widerspruch zwischen Solidarität mit ihnen und mit jenen, die sich in Deutschland selbst bedroht sehen, weil sie in Prekarität leben, weil ihnen Anerkennung versagt wird, weil sie durch Unsicherheit überfordert sind, einfach ausgeblendet. Gerade diese Menschen gehen am wenigsten zur Wahl, teilweise ist die Wahlbeteiligung in ganzen Wohngebieten auf 10 Prozent gesunken.
Und was wäre die Alternative?
Eine linke Partei, die die Gesellschaft wirklich verändern will, muss den Bogen spannen zwischen jüngeren linken akademischen Milieus, der lohnarbeitenden Mitte der Gesellschaft und dem neuen Proletariat. Letzteres setzt sich aus Deklassierten und neuen migrantischen Gruppen zusammen. Es geht um ein Mitte-Unten-Bündnis der Solidarität. Der Bogen vereint die, die für eine solidarische und gerechte Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse eintreten, gegen Marktradikalismus und Privatisierung, für eine starke öffentliche Daseinsvorsorge und die Kontrolle von Banken und Konzernen.
Zugleich sind diese Gruppen aber tief gespalten, mitunter sogar antagonistisch, wenn es um das geht, was »Identitätspolitik« genannt wird. Die einen betonen die individuellen Rechte auf Verschiedenheit, die anderen brauchen gemeinschaftlichen Schutz. Ein solches Bündnis herzustellen, ist deshalb eine große Kunst. Jüngst hat Jean-Luc Mélenchon in Frankreich größere Erfolge damit. DIE LINKE bisher nicht.
»Der Begriff der Heimat ist ein Kampffeld. Wer es nicht solidarisch besetzen kann, hat jede Chance für eine linke Volkspartei verwirkt.«
Oft wird in der Partei von »verbindender Klassenpolitik« gesprochen. Warum aber müssen die Gruppen der lohnarbeitenden Klasse überhaupt verbunden werden? Die Antwort ist einfach: Weil die kapitalistisch organisierte Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und teilweise auch den Sozialsystemen die Angehörigen dieser Klasse spaltet. Es ist nicht der Unternehmer, mit dem die Lohnarbeitenden auf dem Arbeitsmarkt alltäglich konkurrieren. Es ist die Frau, es ist der Mann neben ihnen oder eine Gruppe, die neu hinzukommt.
Um ein Mitte-Unten-Bündnis der Solidarität herzustellen, muss in einer linken Partei klar sein, dass die, die durch sozialen Aufstieg, Bildung und gute Chancen privilegiert sind, »ins Volk« gehen müssen. Sie müssen weniger für sich, sondern vor allem für andere da sein. Die Verantwortung für gelebte Solidarität liegt zunächst bei denen, die dafür die besseren Möglichkeiten haben.
Es geht auch um Empathie. Nur ein Beispiel dafür: Vielen Linken ist der Begriff »Heimat« völlig suspekt. Sie wittern darin Rassismus, Volkstümelei, Faschismus. Aber der Begriff der Heimat ist ein Kampffeld. Wer es nicht von links, also solidarisch, besetzen kann, hat jede Chance für eine linke Volkspartei (oder ein »populäres« Projekt), für eine wirklich klassenverbindende Partei, verwirkt. Nur wer eine Heimat hat, in der er oder sie sich sicher fühlt, denkt, dass Heimat unwichtig ist. Es ist der Luxus, der blind macht. Die Menschen, die nach Deutschland geflohen sind, suchten nicht zuletzt auch Heimat, wo sie sicher leben, eine Familie gründen, Kinder haben können. Ihre Heimat wurde zerstört oder bot ihnen keine Zukunft.
Während die Partei im Westen wächst, schrumpft die Mitgliedschaft und der Rückhalt im Osten stetig. Und da wo sie im Osten wächst, sind die neuen Mitglieder oft ähnlich zusammengesetzt wie im Westen – jung und bewegungsorientiert. Von der PDS-Gründungsgeneration ist nicht viel übrig geblieben. Warum?
Die jüngsten Wahlergebnisse im Saarland, in Schleswig-Holstein oder in Nordrhein-Westfalen zeigen, dass DIE LINKE dort jetzt Wahlergebnisse hat wie zu Zeiten der PDS. Die Einbrüche sind katastrophal und zeigen, wie wenig die Partei heute im Westen verankert ist.
Die PDS hat die große Leistung erbracht, mit einem linken Ansatz wichtige Teile der DDR-Gesellschaft in die Bundesrepublik einzubringen. Als sie diese Funktion erfüllt hatte, begann ihr Dahinscheiden als linke Volkspartei. Teilweise stand auch das Motiv der Anerkennung im System der Bundesrepublik so sehr im Vordergrund, dass das Links-Sein und damit die Differenz zu den Herrschaftsstrukturen verblasste. Dabei wurden auch führende Vertreterinnen und Vertreter aussortiert.
Es gab zudem einen Bruch in der ostdeutschen Bevölkerung. Die damals jüngeren Generationen haben auf dem Arbeitsmarkt ums Überleben gekämpft, wenn sie denn im Osten geblieben sind. Sie mussten alles alleine schaffen, sahen sich durch den Staat und die westdeutschen Eliten im Stich gelassen. Die PDS, bzw. DIE LINKE, vermochte es nicht, die damit verbundenen neuen Fragen aufzunehmen, zumindest in vielen Regionen. Das hat Platz für die AfD geschaffen.
Für Deine Generation war die Sozialisierung in der DDR sehr prägend. Gibt es heute noch ein Erbe aus der DDR, das es aufzuheben gilt?
Dazu kann man die Leute selbst fragen: In den letzten Jahren der DDR hatte das Leipziger Jugendforschungsinstitut eine Längsschnittstudie begonnen. Bei einer solchen Studie werden ein und dieselben Personen über mehrere oder viele Jahre in regelmäßigen Abständen immer wieder befragt. Die Intervallstudie konnte nach »Abwicklung« dieses Instituts nur unter großen Mühen fortgesetzt werden.
Wenn man diese Menschen fragt, was ihnen an der heutigen Gesellschaft gefällt und was nicht, ergibt sich ein weitgehend einheitliches Bild: »Was gefällt mir heute am besten? Frei zu sein in seiner Entscheidung. Das ist im Alltag nicht einfach, aber selbstbestimmt. Was gefällt mir heute nicht? Hoher Aufwand (zeitlich, beruflich) zur sozialen Sicherung der (vermeintlichen) Grundbedürfnisse. Es ist schwierig, diesem Kreislauf zu entkommen.« Bezogen auf die DDR betonen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Längsschnittstudie den sozialen und menschlichen Zusammenhalt. Auf die Frage, was ihnen an der DDR gefallen hat, wird etwa geantwortet: »Tolle Kindheit mit vielen Freizeitangeboten; soziale Sicherheit und medizinische Versorgung; gutes Bildungssystem; zehn Jahre gemeinsame Schule; Betreuungsangebote für Kinder (Ganztagseinrichtungen); keine Angst vor Arbeitslosigkeit«.
Bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern bilden DDR und Bundesrepublik eine Kontrastfolie: Wo die eine Gesellschaft strahlt, ist die andere finster – und wo diese hell ist, ist jene dunkel. Die Kontroversen des Kalten Kriegs um das Verhältnis von sozialen und politischen Menschenrechten zeigen so rückblickend ihren lebensweltlichen Gehalt. Aber mehr noch: Die Befragten nehmen die Erfahrungen zweier Systeme auf ihrem Lebensweg mit. Die Bilder, mit denen sie ihren heutigen Alltag sehen, speisen sich aus diesen Zusammenhängen.
»Diese Gesellschaft ist weder zu arm für ein gutes Leben mit guter Arbeit noch ist sie zu arm, um einen sozialen und ökologischen Umbau hinzulegen. Was fehlt, ist der Wille.«
Diese Sichten auf die DDR und die Bundesrepublik sagen viel darüber aus, was für die Befragten eine »gute Gesellschaft« ist. Als gut wird eine Gesellschaft angesehen, die Freiheit, Gleichheit und Solidarität vereint sowie wirksame demokratische Gestaltungsmöglichkeiten bietet. Ausgehend davon wird die Bundesrepublik in dreifacher Hinsicht kritisch betrachtet: Erstens betrifft dies Gerechtigkeit und soziale Sicherheit, Planbarkeit des Lebens und vertrauensvolle zwischenmenschliche Beziehungen sowie Solidarität. Kritisch wird von vielen Befragten deshalb auch der Vereinigungsprozess gesehen. Von Anfang an gab es die Forderung, dass die genannten Errungenschaften der DDR nicht geopfert werden dürften.
Dies alles bedeutet nicht, dass es den Befragten, die heute um die 50 Jahre alt sind, schlecht geht. Die Einschätzung der eigenen Lebensperspektiven ist weitgehend positiv. Zugleich aber wachsen die Zweifel, ob das westliche Gesellschaftssystem eine Zukunft hat. Schon Mitte der 2000er Jahre waren nur noch 2 Prozent der befragten Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Sächsischen Längsschnittstudie davon überzeugt, dass »das jetzige Gesellschaftssystem die dringenden Menschheitsprobleme lösen« wird.
Würdest Du Dich also der Forderung von Gregor Gysi und anderen anschließen, dass die Partei sich wieder mehr um ihr klassisches ostdeutsches Klientel kümmern muss?
Ich halte es für falsch, sich auf den Osten zu konzentrieren. Der Osten und der Westen sind jetzt überall. Die realen Differenzen sind zwischen den »Wachstumsregionen« und den abgehängten Regionen, zwischen dem Oben, der bedrohten Mitte und dem prekarisierten Unten in der Gesellschaft, zwischen den Besitzbürgern und den Altersarmen, zwischen jenen Familien, die über zwei hohe Einkommen verfügen, und den Alleinerziehenden mit Kindern.
Wenn wir überzeugende Antworten auf diese Spaltungen finden und zeigen, wie diese Antworten Wirklichkeit werden, dann haben wir als Partei einen Gebrauchswert wie vor dreißig Jahren gegen die Vereinigung als Vereinnahmung und vor fünfzehn Jahren gegen die Agenda 2010 – und das in der gesamten Bundesrepublik.
Wo kann die Partei also heute ansetzen?
DIE LINKE kann nicht als primär bewegungsorientiertes Projekt erneuert werden. Ein solches Projekt gehört dazu, ist ein Gewinn. Aber noch einmal: Ziel muss eine linke Volkspartei sein, die Gebrauchswert hat, und zwar vor allem auch für jene, die eben nicht »in Bewegung« sind.
Eine jüngeren Studie, die die Rosa-Luxemburg-Stiftung in Auftrag gegeben hat, zeigt, dass gerade jene, die über ein geringes Einkommen verfügen, Projekte unterstützen, die die soziale und die ökologische Frage nicht trennen, sondern verbinden. 95 Prozent jener, deren Haushaltseinkommen weniger als 1.500 Euro beträgt, sind für den Nulltarif, den entgeltfreien öffentlichen Nahverkehr und 90 Prozent sind für sichere Klimajobs oder das Tempolimit.
Es gibt gute Beispiele, wo Linke aus Bewegungen mit den Kolleginnen und Kollegen aus dem Nahverkehr bei Tarifauseinandersetzungen zusammenarbeiten, um gute Arbeit mit guter Klimapolitik zu verbinden. Ähnliches passierte auch im Bereich der Pflege. Das sind die Felder der Zukunft.
Wenn es also gesellschaftliches Potenzial gibt, warum ist es der Partei nie gelungen, eine kohärente strategische Perspektive zu entwickeln? Und wie könnte die in einer Gesellschaft aussehen, in der die überwiegende Mehrheit ihre eigene wirtschaftliche Lage trotz allem als gut empfindet?
Es ist richtig, dass sich der Arbeitsmarkt in den letzten zwanzig Jahren völlig verändert hat. Wir haben fast Vollbeschäftigung, verbunden mit einem großen prekären Niedriglohnsektor. Der Druck ist enorm – in den Betrieben und den Familien. Zugleich ist bei den meisten Menschen angekommen, was es heißt, im Krisen-, Katastrophen- und sogar Kriegskapitalismus zu leben. Der Blick auf den Kassenbon im Supermarkt reicht. Den Ärmeren geht am Monatsende die Knete aus, die sie bekommen, den anderen schmelzen die Ersparnisse und damit geglaubte Zukunftssicherheit weg.
»Der alte Sozialismus ist tot, aber eine linkssozialistische Partei, die kein gemeinsames Verständnis von Sozialismus hat, ist ein Unding.«
Und dann hat das letzte Jahrzehnt auch gezeigt, was alles machbar ist, wenn man nur will. Jüngstes Beispiel sind die 100 Milliarden zusätzlich für Aufrüstung und die Anhebung der jährlichen Verteidigungsausgaben. Aber auch Corona oder die Flüchtlingshilfe zeigt es: Diese Gesellschaft ist weder zu arm für ein gutes Leben mit guter Arbeit in guten Städten und Dörfern für alle noch ist sie zu arm, um einen sozialen und ökologischen Umbau hinzulegen. Was fehlt, ist der Wille.
Die linke Transformationsperspektive zeigt, wie dieser Widerspruch aufgelöst werden kann. Dazu aber müssen zunächst die falschen Gegensätze in der Partei und ihrer Führung in die richtigen Widersprüche verwandelt werden, die dann solidarisch und zukunftsorientiert ausgetragen werden können. Dann, aber auch nur dann, hat DIE LINKE eine Perspektive und kann die Herrschaftsverhältnisse in diesem Land herausfordern.
So wie Du es formulierst, klingt es fast einfach. Aber die europäische Linke genoss in den vergangenen zwanzig Jahren ein vergleichsweise günstiges Kräfteverhältnis, da sie oft die einzige parlamentarische Opposition zum neoliberalen Konsens stellte und entsprechend profitierte. Inzwischen scheinen die Wählerinnen und Wähler den Weg zurück zur Sozialdemokratie zu finden, sobald diese sich von ihrem harten neoliberalen Kurs verabschiedet – das haben die jüngsten Wahlergebnisse in Deutschland, aber z.B. auch in Portugal nahegelegt. Gibt es langfristig Platz für eine Partei links von der Sozialdemokratie?
In Ländern mit einem proportionalen Wahlsystem gibt es meines Erachtens immer Platz für eine linkssozialistische Partei mit 10 bis 15 Prozent der Stimmen. Die heutigen sozialdemokratischen Parteien in solchen Wahlsystemen haben die »linke Linke« weitgehend aus ihren Reihen ausgestoßen, nicht zuletzt ideologisch.
Es ist aber klar, dass in einer Situation, wo der Staatinterventionismus wieder stärker, die Markteuphorie deutlich schwächer wird, linkssozialistische Parteien stärker gefordert sind. Die neue Lust an westlicher Vorherrschaft und Militär kommt hinzu. Es fällt linkssozialistischen Parteien schwerer als früher.
Was bedeutet das? Erstens sollten sich diese Parteien, auch DIE LINKE, Gedanken um ihre eigene ideologische Identität machen. Der alte Sozialismus ist tot, aber eine linkssozialistische Partei, die kein gemeinsames Verständnis von Sozialismus hat, ist ein Unding.
Damit kommen wir zweitens zur Theorie: Der Neoliberalismus war auch deshalb stark, weil er theoretisch fundiert war. DIE LINKE blickt auf Trümmer und auf Bruchstücke von Marxismus und kritischer Theorie, Postkolonialismus, Feminismus usw. Sie kann kaum diszipliniert denken. Das stiftet Verwirrung in allen Fragen der Zeit.
Drittens muss eine linkssozialistische Partei eine Partei mit verschiedenen Funktionen und Gesichtern sein – Kümmerer im Alltag, Kraft gesellschaftlicher Diskurse und wirkungsvoller parlamentarischer Akteur. Nur so kann auch der tiefe Widerspruch zwischen dem Drängen nach einer schnellen und radikalen Überwindung des Kapitalismus und seiner katastrophalen Zerstörungskraft und dem Wirken im Hier und Jetzt, ausgehend von den realen Möglichkeiten, nicht von den bloß gewünschten, ausgehalten und ausgetragen werden.
Dies verlangt ein lebendiges innerparteiliches Leben, eine tiefe und zugleich vielfältige gesellschaftliche Verankerung, eine Kultur der Solidarität und vor allem eines: Lernfähigkeit. Eine solche Partei muss eine lernende Partei sein. Wenn sie das schafft, dann ist diese Partei vor allem auch gelebte Kultur, zu der Menschen dazugehören wollen – weil es gut ist, solidarisch zu sein, und weil es ihnen selbst gut tut.
Michael Brie ist Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Michael Brie ist Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Rosa-Luxemburg-Stiftung.