15. Dezember 2020
Der DAX soll in Reaktion auf die jüngsten Finanzskandale neu geordnet werden. Das Kapital mag dadurch vor dem Management besser geschützt sein, doch der Gesellschaft bringt das wenig.
Trader an der New Yorker Börse.
Kürzlich wurde ein neues Regelwerk für den Deutschen Aktienindex, kurz DAX, verabschiedet, das ihn durch eine Vergrößerung, regelmäßige Offenlegungspflichten und mehrjährige Gewinne stabiler machen soll.
Die neuen Rahmenbedingungen für den DAX der Deutsche Börse AG ändern nichts Grundlegendes und zementieren den Status quo. Dabei zielt der neue Rahmen auch eher auf einzelne Unternehmen ab. So hat man etwa mit der Forderung, dass mehrjährige Gewinne vor dem DAX-Aufstieg ausgewiesen werden müssen, auf Delivery Hero reagiert, oder mit der Etablierung konstanterer Offenlegungspflichten auf die Fälle der Managementbereicherung bei Wirecard. Die Ausweitung des DAX von dreißig auf vierzig soll ebenso die Gewichtung einzelner Unternehmen reduzieren und dafür sorgen, dass Skandale, die den Unternehmenswerten schaden, sich in geringerem Maß auf den DAX durchschlagen. Bezeichnend ist dabei vor allem, dass man sich in der Debatte nicht mal auf den Ausschluss des Atomwaffen-Baus einigen konnte, wodurch man einem Konzern wie Airbus die Aufnahme in den DAX verwehren könnte. Das zeigt, dass diese kürzliche Reform im Sinne der Systemreproduktion ist – lediglich ein Schutz des Kapitals vor dem Management.
Nun stellt sich die Frage, wie wir uns als Gesellschaft vor dem Kapital schützen und den Prozess der anhaltenden Finanzialisierung der Märkte aufhalten können.
Um die Auswirkung der Neuordnung nachvollziehen zu können, müssen wir zunächst verstehen, was überhaupt die Aufgabe des Index ist. Der DAX wird häufig als Wirtschaftsindikator herangezogen und beschrieb bisher die erwartete Zukunftslage der dreißig größten deutschen börsennotierten Unternehmen mit mehreren Millionen Beschäftigten, über einer Billionen Euro Umsatz und über 100 Millionen Euro Gewinn. In den USA werden Rekorde des Dow Jones regelmäßig als politischer Erfolg verkauft, wie kürzlich erst, als die 30.000-Punkte-Marke überschritten wurde und der Stand des Dow Jones somit höher ist als vor Corona. Ob das aber wirklich ein Erfolgsindikator für die reale und zukünftige Wirtschaftslage ist, bleibt grundlegend fraglich, da sich die Aktienmärkte in den letzten Jahren aus diversen Gründen von der Realwirtschaft entfernt haben und im Westen zudem die zweite Corona-Welle samt Lockdown vor der Tür stehen. Starke Aktienkurse als Indikatoren für eine vermeintlich erfolgreiche Politik dürften uns unter einem möglichen Kanzler Friedrich Merz durch seine vorherige Tätigkeit als Cheflobbyist beim Finanzmarkt-Giganten Blackrock in Zukunft wohl häufiger begegnen.
Der DAX ist ein Produkt der Deutschen Börse AG und fasst zunächst einmal jene börsennotierten Unternehmen zusammen, die einige Grundkriterien erfüllen und zu den größten Unternehmen bezüglich der Marktkapitalisierung (der Wert für aller Aktien) und des Handelsumsatzes (dem Wert der gehandelten Aktien) gehören. Es gibt noch etliche weitere DAX-Varianten wie den MDax und SDax für kleinere Unternehmen, den TecDax für Tech-Unternehmen und sogar den Dax 50 ESG für »sozial-ökologische« Konzerne. Letzterer setzt sich dabei nach dem Best-in-Class Prinzip zusammen, was dazu führt, dass auch hier eine ähnliche Zusammensetzung wie im normalen Dax vorzufinden ist, da die wirklich besten ihrer Klasse überhaupt nicht in dieser Liga mitspielen.
Momentan bildet der DAX die dreißig größten börsennotierten Unternehmen ab. Die Höhe des Index, also der Wert in den Nachrichten, wird mit der Marktkapitalisierung und dem Streubesitz (dem Anlegeranteil von unter 5 Prozent) errechnet. Je mehr Großaktionäre ein Unternehmen hat, desto niedriger ist seine Gewichtung im DAX. Hierbei ist das schwerwiegendste Unternehmen SAP, welches rund 10 Prozent des DAX-Wertes ausmacht während Covestro mit nicht mal einem Prozent kaum ins Gewicht fällt.
Weiterhin ist zwischen Kurs- und Performance-Index zu unterscheiden, da bei letzterem nicht nur die Kurse, sondern auch noch die ausgeschütteten Dividenden mit eingerechnet werden. Beim DAX gibt es zwar beide Werte, doch findet häufig nur der Performance-Wert – der sogenannte »Botox-Dax« – Erwähnung in den Medien, was ihn natürlich zu anderen Indizes wie dem Dow Jones stark erscheinen lässt.
Im DAX enthalten sind börsennotierte Aktiengesellschaften, deren Anteile, also die Aktien, einfach und unbürokratisch handelbar sind – im Gegensatz zu einer GmbH, die auf einen konstanten Gesellschafterkreis ausgelegt ist. Dies führt dazu, dass es sich bei den Unternehmen im DAX in der Regel um deutsche Aktiengesellschaften (AG) oder europäische Aktiengesellschaften (SE) handelt. Der Eintritt in eine der höheren Börsenranglisten setzt den Börsengang eines Unternehmens voraus, welcher primär für die Kapitalgewinnung getätigt wird.
In der Regel geht damit die Trennung von den überwiegenden Kapitalgebern und dem Management einher, was Karl Marx als höchste Entwicklung des Kapitalismus beschrieben hat. Die Eigentümerstruktur vervielfältigt und assoziiert sich daraufhin, was laut Marx eine Übergangsform in eine assoziierte Produktionsweise darstellt, ebenso wie auch bei Kooperativfabriken – bloß, dass sich in einem Fall die Entfremdung zwischen Arbeit und Kapital weiter zuspitzt, während sie im anderen Fall aufgehoben würde.
Da im Zuge der neoliberalen Entwicklung des Kapitalismus immer mehr Akteure in den Kapital- und Aktienmarkt eintreten, ergibt sich die Frage, wer überhaupt zum Akteur auf dem Kapitalmarkt wird und welche Abhängigkeiten sich daraus ergeben.
Beispielhaft dafür ist etwa der Vorschlag einer weiteren kapitalgedeckten – also auf Wertpapieren basierende – Privatisierung des Rentensystems, wie sie von konservativen Politikerinnen und Politikern ins Gespräch gebracht wurde, und durch die sich die gegenwärtigen Klassenverhältnisse noch weiter verschärfen würden.
Dabei ist vor zunächst die direkte oder indirekte Anteilnahme am Aktienmarkt zu betrachten. In den letzten Jahren besaßen lediglich 14–16 Prozent der Deutschen Aktien- oder Fondsanteile, die sich – wie zu erwarten – auf die oberen Einkommensschichten verteilen. Viel wichtiger sind aber die darüber hinausgehenden privaten Lebens- und Rentenversicherungen, die in der Mittelschicht verbreitet sind und auch staatlich gefördert werden, etwa durch die Riester-Rente. Diese sind einerseits aufgrund der damit einhergehenden Bereicherung der Versicherungen problematisch. So fallen insbesondere bei Riester-Renten durchschnittlich 25 Prozent des eingezahlten Betrags als Gebühren an. Und andererseits schreitet damit auch die Individualisierung des Rentensystems weiter voran. Darüber hinaus bleibt oft undurchsichtig welche Investitionskriterien angewandt werden, wodurch viele dieser privaten Rentenversicherungen auch am Mainstream-Kapitalmarkt teilnehmen und daher viele Renten davon in gewissem Maße abhängig sind.
Ebenso sind öffentliche und private Pensionskassen mit 46 Prozent ihres Vermögens am Aktienmarkt beteiligt und verfolgen überwiegend eine nicht auf soziale und ökologische Ziele ausgelegte Anlagestrategie – allen voran die Versorgungsanstalt des Bundes, die sieben Millionen Menschen aus dem öffentlichen Dienst versichert.
Neben dem Bereicherungsinteresse der oberen Klassen kommt die selbst auferlegte Knappheit an Staatsmitteln erschwerend hinzu, sodass neben den privaten auch staatliche Akteure in den Kapitalmarkt gedrängt werden, um die öffentliche Daseinsvorsorge gewährleisten zu können.
Aus den USA kennt man dieses Finanzierungskonzept von den Top-Universitäten. Doch so etwas gibt es auch in Deutschland. Die Freie Universität Berlin investiert mehrere Millionen Euro unter anderem in fragwürdige Sektoren wie Kohleenergie (RWE), Rüstungsproduktion (Rheinmetall), Bankwesen (Deutsche Bank) und den Wohnungsmarkt (Vonovia), um damit die Kosten für den Studienalltag zu decken.
Mit vermeintlich ethischeren Standards – die jedoch aufgrund der mangelnden Transparenz schlecht überprüfbar sind – ist ebenso die Katholische Kirche Kapitalmarktakteur und finanziert damit mehr oder minder wohltätige Zwecke insbesondere im karitativen Bereich.
Auch der deutsche Staatsfonds »Fonds zur Finanzierung der kerntechnischen Entsorgung«, der die Endlagerung radioaktiven Atommülls finanzieren soll, ist am Aktienmarkt beteiligt. Dieser ist zwar nachhaltig zertifiziert, legt die konkreten Anlagen aber nicht offen.
All diese Akteure orientieren sich am DAX, weshalb viele Bereiche bereits stärker in den Aktienmarkt integriert und miteinander verknüpft sind, als wir alltäglich wahrnehmen.
Angesichts der Bandbreite an Skandalen der letzten Jahren lässt sich vermuten, dass die Mehrheit der Großkonzerne eher gegen das Interesse der Bevölkerung agieren, als in ihrem Interesse und somit auf illegale und illigetime Praktiken zurückgreifen.
Angefangen bei der legalen aber nicht minder skandalösen Gewinnverschiebung zur Steuervermeidung, die jedes DAX-Unternehmen praktiziert, ist die Liste der zweifelhaften Machenschaften vieler DAX-Unternehmen lang und erschöpfend: Sie reicht von individuell fragwürdigen Geschäftsmodellen wie der Rüstungsproduktion bei MTU Aero Engines, der Monsanto-Übernahme von Bayer, der Rodung des Hambacher Forsts durch RWE (an dessen Tochterunternehmen der Staat übrigens auch Anteile hat), über die Ausbeutung von Scheinselbstständigen bei Delivery Hero, die explodierende Mehrwertaneignung durch Wohnungskonzerne wie Deutsche Wohnen und Vonovia, bis hin zu strafrechtlich relevanten Skandalen wie der Abgasaffäre bei Volkswagen, Daimler und BMW, die Schmiergeldaffäre in Millionenhöhe bei SAP sowie der Geldwäsche und den Verwicklungen in die Epstein Affäre bei der Deutschen Bank. Der aktuellste und noch längst nicht geklärte Skandal dreht sich um die Bilanzfälschung beim Finanzdienstleister Wirecard, dessen Vorgehen weniger dem eines seriösen Unternehmens ähnelt und eher Stoff für einem Krimi auf Netflix hergeben würde.
An dieser längst nicht vollständigen Auflistung lässt sich ablesen, dass bei DAX-Unternehmen illegale Aktivitäten durch das Management und illegitime Geschäftsmodelle des Kapitals an der Tagesordnung sind. Doch eine Mechatronikerin, die bei Daimler an Elektroantrieben arbeitet, kann genauso wenig etwas für den Skandal der Abgasmanipulation wie der sparende Lehrer, der unbewusst in Kohlestrom investiert.
Es nützt also nichts, einzelne Akteure auf unterer Ebenezu kritisieren. Die kürzliche Reform zeigt vielmehr, dass das System weiterhin erhalten werden soll, und zwar zu Gunsten des Kapitals. Genau dort muss die Kritik also auch ansetzen, um auf der Systemebene Druck auf die DAX-Konzerne auszuüben. Dies kann sowohl über Gewerkschaften geschehen, die gegen einzelne Produktionssparten streiken, als auch über kritische Aktionäre, die dahingehend abstimmen.
Vor allem braucht es aber eine progressive Politik, die die Rahmenbedingungen ändert, die Steuerschlupflöcher schließt, die Börsen- und Finanzaufsichten personell wie inhaltlich ausbaut, die umwelt- und sozialpolitische Regularien zum Schutz der Menschen und Umwelt vor Ausbeutung verankert und die Managerinnen und Manager haftbar macht – all das würde den DAX und den Aktienmarkt nachhaltig verändern und die Gesellschaft vor dem Management und dem Kapital schützen
Die gesellschaftlichen Bereiche, die auf die Deckung grundlegender Bedürfnisse angelegt sind – wie der Wohnungsmarkt oder die Gesundheits- oder Rentenversorgung – und die durch den Druck des Neoliberalismus zum Einstieg in den Kapitalmarkt gedrängten wurden, sollten dem Kapitalmarkt größtenteils wieder entzogen und stattdessen staatlich ausfinanziert werden.
Lukas Scholle ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundestag für Finanzpolitik und betreibt den Podcast Wirtschaftsfragen.
Lukas Scholle ist Ökonom, Gründer und Chefredakteur vom Wirtschaftsmagazin Surplus.