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Das Online-Magazin von JACOBIN Deutschland

12. Juni 2025

Mit KI gegen Palästina-Solidarität

In kaum einem Land wird vermeintlich antisemitische Israel-Kritik so verfolgt wie in Deutschland. Jetzt soll auch Künstliche Intelligenz dafür verwendet werden, Palästina-solidarische Stimmen zu unterdrücken.

Starke Polizeipräsenz bei einer propalästinensischen Demonstration in Berlin, 15. Mai 2025.

Starke Polizeipräsenz bei einer propalästinensischen Demonstration in Berlin, 15. Mai 2025.

IMAGO / Middle East Images

Mitte Februar sollte die Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen, Francesca Albanese, gemeinsam mit dem Forensic-Architecture-Gründer Eyal Weizman einen Vortrag an der Freien Universität Berlin halten. Nach Interventionen des israelischen Botschafters in Berlin, Ron Prosor, und Berlins Oberbürgermeister Kai Wegner wurde die Veranstaltung letztlich wegen »Sicherheitsbedenken« abgesagt, so die Universitätsleitung. Eine zweite Veranstaltung mit Albanese und Weizman, diesmal auf Einladung der paneuropäischen Bewegung DiEM25, sollte wenige Tage später im Kühlhaus Berlin stattfinden; auch diese wurde abgesagt.

Die linke Zeitung Junge Welt bot schließlich ihre Redaktionsräume als alternativen Veranstaltungsort an, was jedoch nur unter massiver Polizeipräsenz vonstattengehen konnte. Zu den in schwarzen Overalls aufgeplusterten Polizisten in den Redaktionsräumen, die sicherstellen mussten, dass niemand die Staatsräson beleidigt, gesellten sich vor dem Gebäude rund 200 bewaffnete, in Kampfanzüge gekleidete Beamte. In den Tagen davor und danach versuchten die deutschen Traditionsmedien nicht zu betonen, dass die Einmischung staatlicher Beamter in die Angelegenheiten der Universität die akademische Freiheit gefährden könnte. Der Fokus lag vielmehr darauf, Albanese und Weizman implizit als Antisemiten zu diffamieren, schließlich habe Antisemitismus nichts an deutschen Universitäten verloren.

Diese offenen Angriffe auf die palästinensische Diaspora, ihre Unterstützer, UN-Vertreter und NGOs sind nicht nur in Deutschland gang und gäbe. Sowohl US-amerikanische als auch britische Medien zitieren häufig verleumderische Behauptungen zivilgesellschaftlicher Organisationen wie der Anti-Defamation League, des Board of Deputies, des Community Security Trust und anderer Anti-Antisemitismus-Organisationen. In der deutschen Medienlandschaft, insbesondere die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, beruft man sich jedoch häufig auf sogenannte Antisemitismus-Experten in Form von Wissenschaftlern oder Antisemitismusbeauftragten. Sie werden üblicherweise als unabhängige Experten dargestellt, die außerhalb des politischen Diskurses oder sogar der akademischen Debatte stehen. Stattdessen werden ihre Einschätzungen – oder vielmehr ihre Vorwürfe des Antisemitismus – als objektive wissenschaftliche Tatsache dargestellt.

Ein Paradebeispiel für diese quasi objektive und wissenschaftliche Einordnung ist das Interview des Berliner Tagesspiegels mit dem Sprach- und Antisemitismuswissenschaftler Matthias J. Becker, das nach der DiEM25 Veranstaltung mit Albanese und Weizman veröffentlicht wurde. Darin wirft er Albanese vor, die israelische Politik in Palästina mit der des Nazi-Regimes verglichen und die Anschläge vom 7. Oktober nicht verurteilt zu haben. Während die letztgenannte Anschuldigung faktisch falsch ist – Albanese hat Angriffe auf Zivilisten von Beginn an angeprangert – wird die erstere Behauptung ohne jegliche Beweise aufgestellt.

Der schärfste Vorwurf ist jedoch, dass Albanese die »Kindermord-Legende« auf Israel projiziere. Gemeint ist damit ein mittelalterliches antisemitisches Gerücht, das Juden des rituellen Mordes an christlichen Kindern beschuldigte. Dieser Vorwurf wird oft all jenen entgegengeschleudert, die auf die zahlreichen vom israelischen Militär getöteten Kinder hinweisen. Die Besonderheit des deutschen medialen Diskurses ist jedoch, dass dieser Vorwurf im Ausland meist aus der Israel-Lobby oder von Sprechern des israelischen Militärs oder der israelischen Regierung kommt – in Deutschland kommt er oft von Antisemitismus-Experten.

Becker wurde vom Tagesspiegel aufgrund seiner Führungsrolle zum Projekt Decoding Antisemitism am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin konsultiert, das er von 2019 bis 2025 leitete. Ziel des Projekts ist es, mithilfe eines großen Sprachcomputermodells »einen [KI-]Algorithmus zu schaffen, der antisemitische Aussagen in Webkommentaren automatisch erkennt […] damit antisemitische Beiträge effizienter und genauer [von Online-Plattformen] entfernt werden können«.

»Obwohl Decoding Antisemitism öffentlich verfügbare Daten verwendet, hat es selbst den vollständigen Datensatz nicht veröffentlicht. Daher ist im Detail nicht nachvollziehbar, welche Kommentare als antisemitisch eingestuft und archiviert wurden und warum.«

Während einer Gastvorlesung beim Institute for the Study of Global Antisemitism erläuterte Becker den politischen Schwerpunkt des Projekts: »Was uns interessiert, ist nicht so sehr der Antisemitismus der Neuen Rechten oder White-Supremacy-Plattformen, sondern die Mitte der Gesellschaft, denn […] Antisemitismus auf dem Campus, Antisemitismus von links, unter Künstlern, es ist tatsächlich der Mainstream, der politisch gemäßigte Diskurs, der eine Herausforderung für sich darstellt. […] Denn sobald Antisemitismus implizit kommuniziert wird, mangelt es sehr oft an der Sanktionierung, im Gegensatz zu Beispielen antisemitischer Vorurteile, die von einem Neonazi geäußert werden.«

Obwohl das Projekt offiziell den Anspruch erhebt, sich auf »den Mainstream« zu konzentrieren, konzentriert es sich in erster Linie auf israelbezogenen beziehungsweise »neuen« Antisemitismus. Von den rund 103.000 einzelnen Online-Kommentaren, die zum Füttern des Algorithmus gesammelt und als Metadaten auf der Website des Projekts zur Verfügung gestellt wurden, beziehen sich zwei Drittel auf Palästina und Israel, ein Drittel auf andere antisemitische Vorfälle, die in den Medien besprochen wurden. Eine Teilmenge von 21.000 Kommentaren, die unmittelbar nach den Angriffen vom 7. Oktober gesammelt wurden, beinhaltete rund 2.400 antisemitische Vorfälle, also knapp 12 Prozent.

Fast die Hälfte davon wurde jedoch als »Angriffe auf die Legitimität Israels« klassifiziert. Der Datensatz ist in verschiedene Formen vermeintlicher Antisemitismen unterteilt, wie Analogien zum Nationalsozialismus, Faschismus, Apartheid oder Kolonialismus herzustellen; Israel als rassistischen oder terroristischen Staat zu bezeichnen; es des Völkermords zu beschuldigen; auf Boykott, Desinvestition und Sanktionen (BDS) zu verweisen; Israel die alleinige Schuld an der Notlage der Palästinenser zu geben; doppelte Standards anzuwenden; und das Existenzrecht Israels zu leugnen.

Obwohl Decoding Antisemitism öffentlich verfügbare Daten verwendet, hat es selbst den vollständigen Datensatz nicht veröffentlicht. Daher ist im Detail nicht nachvollziehbar, welche Kommentare als antisemitisch eingestuft und archiviert wurden und warum. Das schließt jegliche kritische Analyse oder Auseinandersetzung mit der Datenerhebung durch Außenstehende aus und verstößt somit gegen etablierte akademische Prinzipien. Im vergangenen November veröffentlichte das Projekt jedoch A Guide to Identifying Antisemitism Online, ein fünfhundert Seiten umfassendes Glossar, das jeden vermeintlichen Antisemitismus detailliert beschreibt. Es werden Beispiele expliziter und impliziter antisemitischer Kommentare aufgeführt, gefolgt von nicht antisemitischen Kommentaren als neutrale Bezugspunkte.

Unter der Bezeichnung »Nazi-Analogie/Faschismus-Analogie« wird – im Original auf Englisch – ein klares Beispiel einer antisemitischen Aussage gegeben: »Juden tun, was Hitler ihnen angetan hat.« Ein Beispiel für impliziten Antisemitismus lautet: »Sie stehen gegen Antisemitismus und den Holocaust, aber nicht gegen die Tötung unschuldiger Palästinenser. Sie sind eine Frau mit zweierlei Maß und eine Schande!« Laut Glossar ist dies antisemitisch, weil »eine implizite Gleichsetzung« zwischen Israel und Nazi-Deutschland hergestellt werde. Diese Erklärung wirkt umso rätselhafter, wenn man das Beispiel eines nicht antisemitischen Kommentars betrachtet: »Der Holocaust sollte eine Warnung vor allen Formen von Unterdrückung und Ungerechtigkeit sein, sei es im Nahen Osten oder in anderen Konflikten.« Es ist nicht klar, wo der wesentliche Unterschied zwischen den beiden letztgenannten Beispielen liegt, abgesehen vom höflicheren Ton und – vermutlich – einem Bezug zum Zionismus. Beide Kommentare fordern die gleichen Lehren aus der Vergangenheit.

»Die Möglichkeit, dass jemand, der abwertend über Israel spricht, ein Antisemit sein könnte, wird zu einem Muss umgedeutet, weil die verbalen Angriffe auf Israels Handlungen entweder als zu emotional empfunden werden oder schlicht als politisch unbequem.«

Das sonderbarste Beispiel dieses mehr als fraglichen Ansatzes findet sich im Kapitel über die Kindermord-Legende. Dieses argumentiert, dass die Beschuldigung Israels, palästinensische Kinder zu töten, mit der antisemitischen Fantasie vergleichbar sei, Juden des rituellen Mordes an christlichen Kindern zu beschuldigen. In welcher Weise dieses abscheuliche Vorurteil mit gut dokumentierten Anschuldigungen gegen das israelische Militär gleichgesetzt werden kann, wird im Detail nicht erklärt. Als Beweis dieser bizarren These liefert das Kapitel ein Beispiel für expliziten Antisemitismus, das lautet: »Was Sie meinen, ist, dass Israel Kinder bombardiert. Nehmen wir hier kein Blatt vor den Mund«, wohingegen ein Beispiel für impliziten Antisemitismus lautet: »Wie viele Raketen hat Israel auf unschuldige Kinder abgefeuert???«.

Theoretisch könnten beide Autoren an die Kindermord-Legende glauben, ihre Kommentare allein sind jedoch kein Beweis dafür. Wie sich diese Kommentare unterscheiden und wie ein mittelalterliches antisemitisches Gerücht mit einem realen Völkermord in der Gegenwart zusammenhängt, bleibt ebenfalls unerklärt. Die Möglichkeit, dass jemand, der abwertend über Israel spricht, ein Antisemit sein könnte, wird zu einem Muss umgedeutet, weil die verbalen Angriffe auf Israels Handlungen entweder als zu emotional empfunden werden oder schlicht als politisch unbequem. Es überrascht daher nicht, dass das nicht-antisemitische Beispiel, wie man die Tötung palästinensischer Kinder kommentieren sollte, im Passiv gehalten ist: »Neun Kinder starben letzten Monat in Gaza infolge von Luftangriffen.« Nach Ansicht der Autorin des Kapitels ist dies nicht antisemitisch, da »die Aussage kein vorsätzliches Handeln suggeriert und die Aufmerksamkeit auf die tragischen Todesfälle lenkt« und »die Wahl des Verbs ›gestorben‹ anstelle von ›wurden getötet/ermordet‹ […] zusätzlich die emotionale Intensität reduziert«.

Zum Thema Palästina und Israel scheint Decoding Antisemitism einer Logik zu folgen, die emotionale Reaktionen auf einen live-gestreamten Völkermord nicht als menschliche Reaktion, sondern als Beweis für antisemitische Überzeugungen sieht. Das emotionale, irrationale und rassifizierte palästinensische Other zeigt sich ebenfalls in der Kriminalisierung der palästinensischen Diaspora und der palästinensischen Solidarität in Deutschland und darüber hinaus.

Diese Logik hinsichtlich der möglichen Motivation hinter emotionalen oder vielleicht beleidigenden Kommentaren spiegelt eine Weltanschauung wider, die Antisemitismus überall vermutet, insbesondere dort, wo er nicht existiert. Becker macht dies in einem Seminarvortrag des Projekts deutlich, in dem er die Analogie des Eisbergs verwendet. Die sichtbare Spitze des Eisbergs ist der Antisemitismus, den wir heute verstehen und identifizieren können, der überwiegende Teil des Antisemitismus schwelt jedoch unter der Oberfläche und kann nur mit dem richtigen, noch zu entwickelnden methodischen Ansatz entschlüsselt werden. Der Glaube, dass sich der größte Teil des Antisemitismus unter der Oberfläche verbirgt, unentdeckt und unsichtbar, deutet auf eine paranoide Neigung hin – ein Phänomen, das in der politischen Kultur Deutschlands, aber, was noch besorgniserregender ist, auch in der akademischen Kultur, nur allzu häufig vorkommt.

Diese paranoide Weltsicht hat einen ihrer Ursprünge in der deutschen Antisemitismus-Forschung der Nachkriegszeit, oder genauer gesagt in der Verzerrung und unkritischen Bewunderung dieser Forschung. Die einflussreichste Theorie, die heute häufig Verwendung findet, um die Kriminalisierung der palästinensischen Solidarität zu rechtfertigen und die Opposition zu Israel als antisemitisch zu diffamieren, ist die der Umwegkommunikation. In einem Vortrag bei der Shoah Foundation der UCLA betont Becker, dass Umwegkommunikation Teil des konzeptionellen Rahmens des Decoding-Antisemitism-Projekts ist.

»Decoding Antisemitism ist bis heute der autoritärste Versuch, mithilfe der Antisemitismusforschung nicht nur die unbequeme Opposition gegen Israel, sondern auch Millionen palästinensischer Stimmen aus dem öffentlichen Raum zu tilgen.«

Die These der Umwegkommunikation entstand 1986, als sich die Soziologen Werner Bergmann und Rainer Erb – völlig zu Recht – fragten, wohin der offene Antisemitismus, der während der Nazizeit so weit verbreitet und institutionalisiert worden war, nach der Auflösung des Dritten Reiches verschwunden sei. Antisemitismus war praktisch über Nacht aus der Öffentlichkeit verbannt und was einst zum alltäglichen politischen Diskurs gehörte, wurde nicht nur zum Tabu, sondern auch strafrechtlich relevant.

Das Gros der wissenschaftlichen und philosophischen Auseinandersetzungen in Deutschland und im Westen konzentrierte sich auf die historische Entstehung eines eliminatorischen Antisemitismus im Europa des frühen 20. Jahrhunderts, dessen katastrophales Ende sich im Holocaust fand. Am prominentesten wurde diese Debatte von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer geführt. Umfragen in der westdeutschen Gesellschaft der Nachkriegszeit ergaben jedoch, dass sich antisemitische Einstellungen nicht wesentlich verändert hatten, sondern lediglich nicht mehr öffentlich geäußert wurden. Daher stellten Bergman und Erb fest, dass sich Antisemitismus von einem institutionalisierten Phänomen zu einem latenten, verborgenen Phänomen gewandelt hatte, das nur unter bestimmten Umständen und Bedingungen zu Vorschein kam.

Sie stellten deshalb die These auf, dass Antisemitismus nicht nur ein psychosoziales und kulturelles, sondern auch ein kommunikatives Phänomen sei. Da Antisemitismus im öffentlichen Diskurs ein Tabu war, mussten andere Wege gefunden werden, antisemitische Ansichten zu äußern, ohne die gesellschaftlichen Folgen dieser Tabuverletzung zu tragen. Eine Möglichkeit ist, sicherzustellen, dass das soziale Umfeld des Sprechers sich seiner antisemitischen Überzeugungen bewusst ist und diese akzeptiert oder zumindest toleriert, sodass es keinen Tabubruch gibt – dies geschieht vor allem im privaten Umfeld.

Im öffentlichen Raum ist der Sprecher jedoch gezwungen, eine verschlüsselte oder kodierte Sprache zu verwenden, die sicherstellt, dass die antisemitischen Absichten seiner Rede nicht als solche identifiziert werden, da keine Gewissheit besteht, dass die Übertretung des Tabus toleriert wird. In diesem Sinne ist das Konzept der kodierten Sprache dem rassistischen Dogwhistle nicht unähnlich. Im Kontext des Antisemitismus schlagen Bergmann und Erb vor, dass eine solche Kodierung darin bestehen könnte, über Israel zu sprechen, wenn man Juden meint, diese aber nicht offen erwähnen kann. In diesem Zusammenhang ist es ein strategischer Umweg, negativ über Israel zu sprechen, anstatt Juden offen ins Visier zu nehmen.

Was von Bergmann und Erb als theoretische Überlegungen zum Antisemitismus der Nachkriegszeit dargelegt wurde, die einer sorgfältigen empirischen Prüfung bedurfte, wurde nach und nach von anderen Antisemitismusforschern unkritisch aufgegriffen. Im Laufe der letzten drei Jahrzehnte verwandelte sich das theoretische Konzept in einen unumstößlichen Fakt für viele Antisemitismusforscher, Antisemitismusbeauftragte, Israel-Lobbyisten und anderen sogenannten Experten, obwohl die empirischen Beweise mehr als dürftig ausfallen. Es wurde zum Hauptargument dafür, warum Antizionismus eine Form des Antisemitismus ist und radikale oder emotionale Kritik an Israel ein Code ist, der antisemitische Überzeugungen verbirgt.

Seit 2019 ist Umwegkommunikation im Eintrag »Israelbezogener Antisemitismus« auf der Website der Bundeszentrale für politische Bildung und ihrer regionalen Partner gelistet. Der von Professor Lars Lermann von der Universität Passau verfasste Beitrag erklärt Umwegkommunikation in einer verzerrten Version des Originalwerks und fügt hinzu: »verbalantisemitische Umwegkommunikationen sind dazu geeignet, unmittelbare Gewalt gegen Juden zu legitimieren und zu entfesseln« – etwas, das Bergmann und Erb weder behaupten noch untersucht haben und was bis heute nicht empirisch bewiesen wurde.

»Fünf Jahre nach seiner Einführung scheint der konzeptionelle Rahmen des Projekts und sein Glossar von der Realität überholt worden zu sein.«

Während die frühe Antisemitismusforschung der Nachkriegszeit für ihre neuen Einblicke geschätzt werden sollte, wird die These der Umwegkommunikation von Bergmann und Erb von ihrer Politisierung überschattet. Darüber hinaus ist das fast vierzig Jahre alte Konzept im Kampf gegen Antisemitismus weitgehend überholt. Wir leben in einer Zeit, in der die öffentliche Unterstützung Israels zum Markenzeichen einer extremen Rechten geworden ist und prominente Politiker und Milliardäre, die antisemitische Verschwörungstheorien verbreiten, die extreme Rechte materiell unterstützen und ermutigen, während sie für Fototermine in Auschwitz und Israel posieren – alles im Namen von »Nie Wieder«.

Diese offensichtliche Tatsache wird weitgehend ignoriert, um den politischen Nutzen der These nicht zu gefährden – insbesondere für staatlich eingesetzte Expertinnen, Wissenschaftler und Strafverfolgungsbehörden in Deutschland, die sie als wissenschaftliche Tatsache ausgeben und nutzen, um immer drakonischere Sanktionen und Verbote gegen Israels Kritiker zu rechtfertigen. Vor allem seit die extreme Rechte Israel als Blaupause für ihre eigenen ethnonationalistischen Fantasien erkannt hat, ist das Konzept der Umwegkommunikation von einem Instrument zur Begriffsbildung und Erforschung des Antisemitismus zu einem Mittel geworden, mit dem die Linke bekämpft wird – während die extreme Rechte ignoriert oder sogar in Schutz genommen wird.

Das Projekt Decoding Antisemitism ist das beste Beispiel dafür, wohin diese Logik führt. Es ist bis heute der autoritärste Versuch, mithilfe der Antisemitismusforschung nicht nur die unbequeme Opposition gegen Israel, sondern auch Millionen palästinensischer Stimmen aus dem öffentlichen Raum zu tilgen. Derzeit ist nicht klar, wohin das Decoding-Antisemitism-Projekt als nächstes gehen wird oder wer genau die gesammelten Daten und das Large Language Model nutzen wird. Eine Anfrage auf Einsicht in den Datensatz wurde abgelehnt, weil »der finanzielle Wert des annotierten Datensatzes zu einem Faktor geworden ist«, es nicht zu veröffentlichen – obwohl die Veröffentlichung der Daten guter wissenschaftlicher Praxis entsprechen würde. In einem Interview mit der israelischen Nachrichtenagentur Mako weist Becker darauf hin, dass Social-Media-Plattformen ihre Türen öffnen und seinen Bedenken Gehör schenken. Dies deutet stark auf eine zukünftige Kommerzialisierung und Implementierung dieser autoritären Software hin.

Fünf Jahre nach seiner Einführung scheint der konzeptionelle Rahmen des Projekts und sein Glossar von der Realität überholt worden zu sein. Wir erleben heute in Echtzeit, was Masha Gessen die Liquidierung eines Ghettos nannte und die vorsätzliche Tötung palästinensischer Kinder durch das israelische Militär, welches Gaza laut New York Times in einen »Friedhof für Kinder« verwandelt. Zudem haben deutsche Organisationen wie zum Beispiel die Bildungsstätte Anne Frank in den letzten Jahren eine 180-Gradwendung gemacht. Etwa, als deren Leiter Meron Mendel dem Begriff der Apartheid den antisemitischen Charakter abgesprochen hat. Oder die Antisemitismusmeldestelle RIAS, die vor wenigen Tagen in einer Pressekonferenz auf Anfrage Tilo Jungs ebenfalls verkündete, dass der Vorwurf des Völkermords und der Apartheid ebenfalls nicht mehr antisemitisch sei.

Zehn Tage zuvor wurde RIAS in einem Report der Diaspora Alliance zudem schwerwiegende Fehler bei der Sammlung antisemitischer Vorfälle vorgeworfen. Während diese Realität die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit von Decoding Antisemitism infrage stellt und seinen konzeptionellen Rahmen widerlegt, könnte das Projekt dennoch eine mächtige Waffe für all jene sein, die palästinensische Stimmen und die ihrer Unterstützer online zum Schweigen bringen und offline verfolgen wollen.

Letztlich ist Decoding Antisemitism keine Ausnahme der deutschen Antisemitismusforschung. Es ist das jüngste autoritäre Abenteuer, das sinnbildlich für einen akademischen Zweig steht, der oft von einer provinziellen Hysterie und Paranoia geplagt scheint, die sich eng mit der deutschen Außenpolitik verbunden sieht und mehr um den Ruf Israels sorgt als um die Bekämpfung des tatsächlichen Antisemitismus. Noch wichtiger ist jedoch, dass diese Disziplin in den letzten vier Jahrzehnten wie keine andere die Entmenschlichung der Palästinenser vorangetrieben hat. Sie hat ihr Leben, ihr Leiden und ihre Unterwerfung für notwendig im Kampf gegen den Antisemitismus erklärt. Auf diese Weise wurde die deutsche Antisemitismusforschung zu einem integralen Bestandteil einer politischen Kultur, die sich nun der Komplizenschaft des Völkermordes in Gaza verantworten muss.

Daniel G. B. Weissmann promovierte im Bereich der politischen Kommunikation. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählt unter anderem die Nutzung der Antisemitismusforschung als Instrument der Aufstandsbekämpfung gegen Solidaritätsbewegungen mit Palästina.