19. Juli 2025
Inmitten der strikten DDR-Kulturpolitik machten einige wenige Regisseurinnen Filme, die das Leben von Frauen ins Zentrum rückten. Sie erzählen von Selbstbehauptung und solidarischer Stärke – schnörkellos und ungeschönt.
Szene aus »Das Fahrrad« von Evelyn Schmidt.
In der staatlichen Filmproduktion der DDR, der Deutschen Film AG, kurz DEFA, arbeiteten viele Frauen. Sie waren im Schnitt, in der Kostümabteilung, der Dramaturgie, als Maskenbildnerinnen oder in der Regieassistenz tätig. Ein Bruchteil davon führte tatsächlich selbst Regie – viele beim Fernsehen, einige beim Trickfilm, einige beim Dokumentarfilm. Noch weniger Frauen durften richtige Spielfilme fürs Kino drehen. Aber auch das Genre des Dokumentarfilms bot gute Gelegenheiten zur kritischen Erkundung der Gesellschaft, oft unterschätzt von den Machthabern – und manchmal von den Filmemacherinnen selbst.
Die drei erzählkräftigsten Spielfilmregisseurinnen der DEFA waren Ingrid Reschke, Evelyn Schmidt und Iris Gusner. Sie lieferten je ein Meisterstück ab, mit dem sie bekannt wurden, und die bis heute Bestand haben.
Ingrid Reschke, Jahrgang 1936, studierte von 1959 bis 1963 Regie an der Filmhochschule Babelsberg und drehte 1968 bereits ihren dritten abendfüllenden Spielfilm Wir lassen uns scheiden, der ein Achtungszeichen setzte. Als Komödie erzählt er eine Art sozialistische Variante von Arthur Schnitzlers Reigen. Ein junges Ehepaar will sich trennen, sie haben einen zehnjährigen Sohn. Beide, der Mann und die Frau, verlieben sich jeweils in jemand anderen, haben Affären. Was zunächst jeweils nach Neuanfang aussieht, entpuppt sich als Seitensprung. Am Ende kehren sie fröhlich in ihre Ehe zurück, die anderen beiden indes sind nicht allzu traurig, sondern finden ihrerseits zueinander.
Das Besondere an dem Film ist sowohl seine Erzählperspektive, es wird aus der Sicht des Kindes erzählt, als auch die Leichtigkeit seiner weiblichen Figuren. Auffällig ist die ökonomische und emotionale Unabhängigkeit der Frauen. Sie strahlen Lebenslust und Tatkraft aus. Ihnen gehört die sozialistische Welt nämlich genau zur Hälfte mit.
Drei Jahre später, 1971, erschien dann Reschkes Film Kennen Sie Urban?, mit dem sie zumindest in Fachkreisen und bei der Kritik berühmt, politisch von Funktionären aber auch beargwöhnt wurde. Es zeigte sich auch bei diesem Film, wie wichtig bereits eine gute Buchvorlage ist. Autor war Ulrich Plenzdorf. Kennen Sie Urban? erzählt die Geschichte vom jungen Hoffi, der wegen tätlicher Gewalt achtzehn Monate im Gefängnis saß und nun zusammen mit seinem Bruder auf Montage geht, um Urban, seinen einstigen Zimmer-Kameraden im Krankenhaus, auf einer der Baustellen wiederzufinden. Aber Urban bleibt verschwunden. Indessen verliebt sich der Prolet Hoffi in die Studierte Gila, sie bauen in Berlin eine Ladenwohnung aus, werden schwanger und feiern am Ende Verlobung. Auch Hoffis regulären Dienst in der Nationalen Volksarmee werden die beiden gut überstehen – das zumindest verspricht die letzte Szene.
Klingt wie ein sozialistisches Reha-Märchen. Aber wie Reschke inszeniert es mit ihrem schönen Ensemble an Schauspielenden, mit poetisch anmutenden Rückblenden, mit dynamischen Bildern von der breiten hellen Karl-Marx-Allee als Gegenstück zu düsteren Hinterhöfen im Prenzlauer Berg, den traurigen Überbleibseln alter Zeiten. Der Film macht das Überschäumende der neuen Welt des Sozialismus, zwar mit Problemen, gewiss, aber mit guten Aussichten, spürbar. Da fährt man lachend und ratternd gern auch mit dem Motorrad an der Mauer am Brandenburger Tor vorbei! Trotzdem waren nicht alle Funktionäre begeistert. Man fand einen Ex-Häftling keinen würdigen Helden.
Was Ingrid Reschke noch für gute Filme hätte machen können, war leider nicht mehr zu erfahren. Sie starb im Jahr der Premiere des Films, 1971, an den Folgen eines Autounfalls.
Iris Gusner, Jahrgang 1941, hat von den dreien die meisten abendfüllende Filme gedreht. Gusners Perspektive als Regisseurin wurde sicher entscheidend von ihrem Studium am WGIK, der Filmhochschule in Moskau, im Nachgang der Tauwetter-Ära nach Stalins Tod, bestimmt. Daraus erklärt sich, dass ihre Erzählstoffe oft grenzüberschreitend und ihre Schauspielbesetzungen oft internationaler Natur waren. Sie hatte jedoch erst mal einen langen Anlauf.
Ihr erster Film Die Taube auf dem Dach, wurde zwar nicht direkt verboten, aber von der Studioleitung so stark kritisiert und beschnitten, dass der Film seine Premiere erst 1990 erlebt. Die Geschichte ist allerdings auch nicht sehr flüssig erzählt, und es bleibt unklar, ob die tapsige Naivität der Hauptfigur unterlaufen oder beabsichtigt ist. Aber Qualität spielt bei den so genannten »Verbotsfilmen« der DDR nach dem Mauerfall nicht unbedingt die entscheidende Rolle. Sie sind quasi schon von vornherein große Werke.
Nach einem einen Ausflug ins Märchengenre mit der Grimm-Adaption Das blaue Licht, wo Gusner die Heldenrolle schon mal mit Viktor Semjonow, einem ehemaligen Kommilitonen des WGIK, besetzte und einem missglückten Krimi (Einer muss die Leiche sein) folgte 1980 Gusners gelungenster Film Alle meine Mädchen.
»Eine ungelernten Arbeiterin in der Stadt Halle, die ewig Geldsorgen hat und sich zugleich der spießigen Norm des DDR-Sozialismus verweigert – und am Ende doch eine Heldin ist.«
Wieder besetzte Gusner die männliche Hauptrolle mit einem osteuropäischen Schauspieler, dem Polen Andrzej Pieczyński. Die Motivation dafür ist nicht ganz klar, im Stoff lag es nicht. Im Gegenteil, Pieczyński spielte den deutschen Regiestudenten Ralf und wurde deutsch synchronisiert, damit sein Akzent nicht die Handlung irritiert. Dabei wäre es ein Leichtes gewesen, aus Ralf einen polnischen Gaststudenten zu machen. Wie auch immer, der Wirkung des Films tut dies keinen Abbruch. Die Idee lag sozusagen in der Filmhochschule selbst. Ralf soll seinen Abschlussfilm über die vorbildliche Frauen-Brigade eines Berliner Glühlampenwerks drehen. Darauf hat er aber keine Lust. »Wer will das am Abend sehen?«, fragt Ralf seinen Fachrichtungsleiter. »Ich weiß doch, was bei uns passiert, die Leute schalten sowieso um aufs andere Programm«, womit das West-TV gemeint war. Das war damals in dieser Direktheit fast schon gewagt. Aber die letzte Dekade der DDR brach an, die Menschen waren des realen Sozialismus etwas müde, man musste sie aufwecken. Das erinnert im Ton ein wenig an Konrad Wolfs Solo Sunny, der fast zeitgleich mit Gusners Film ins Kino kam.
Ralf muss natürlich trotz seines Protestes die Brigade filmen. Schließlich hat er fünf Jahre lang auf Kosten ebendieser Arbeiterklasse studiert. Und er und auch das Publikum sind überrascht von den quirligen, jungen, frechen Arbeiterinnen, die sich ohrfeigen, anschreien und dann einander wieder lachend in den Armen liegen, die unter der strengen und zugleich liebevollen Leitung der älteren Brigadierin Maria ihre Schichten am Band schaffen, jeden Tag. Höhepunkt des Films ist der Besuch irgendeines Funktionärs aus irgendeiner Leitung. Als Ralf die Blumenübergabe filmen soll, spielen die Frauen aber stattdessen für die Kamera eine Parodie auf diese Zeremonie und stellen die sozialistische Bruderumarmung witzig nach. Das wird in avantgardistischem Nouvelle- Vague-Schwarz-Weiß wiedergegeben. Die große Spiellust der Darstellerinnen bestimmt die Atmosphäre des Films, auch in ruhigen, tragischeren Szenen. Allen voran Lissy Tempelhof und Barbara Schnitzler vom Deutschen Theater. Aber es bleibt vor allem eine große Ensemble-Leistung, die Gusner gut zu leiten verstand. Der Abschlussfilm des Studenten ist am Ende ganz unwichtig, seine Erfahrung ist es, die zählt.
Vor allem die glaubwürdigen Arbeiterinnen-Figuren sind das große Pfund in Gusners Film. Sie sind – bei all ihren persönlichen Problemen – von dieser Unabhängigkeit und dieser inneren Kraft, die als Eigenschaften von Ost-Frauen hier beispielhaft sichtbar ist. Gusner selbst erreichte mit nachfolgenden Filmen diese Höhe nicht wieder.
Die Dritte im Bunde war Evelyn Schmidt, Jahrgang 1949. Im Gegensatz zu Iris Gusner war sie von ihrer eigenen Kunstkraft – auch sicher durch Reaktionen ihres Umfelds auf ihre Filme – nicht so sehr überzeugt. Wie Reschke studierte sie Regie an der Filmhochschule Babelsberg und war bis 1977 Meisterschülerin von Konrad Wolf. Obwohl ihr erster abendfüllender Kinofilm Seitensprung (1980) an vielen erzählerischen Mängeln und an der Ausstattung litt, wurde er gelobt und auch ausgezeichnet. Es folgte 1982 Das Fahrrad, der Film, der Schmidt heute einen guten Platz in der Geschichte der DEFA sichert.
Der Film ist in mehrerlei Hinsicht meisterhaft. Schon die erste Sequenz zieht das Publikum rein. Es regnet wie aus Eimern. Eine Frau fährt mit Regenjacke und Kapuze und ihrem Kind vor sich auf dem Fahrrad mitten zwischen PKWs und Lastkraftwagen, gefährlich allemal, Fahrradwege gab es damals noch nicht. Wie die zarten Figuren Mutter und Kind da den Elementen und den Autos ausgesetzt sind und dann auch noch einen vollen Schwall Extra-Wasser vom LKW abbekommen, das ist schönes realistisches Kino, rau und aufmerksam zugleich.
Was dieser Einstieg verspricht, hält der Film. Er erzählt das Drama einer ungelernten Arbeiterin in der Stadt Halle, die ewig Geldsorgen hat und sich zugleich der spießigen Norm des DDR-Sozialismus verweigert, verzweifelt, ein Fahrrad versteckt, um die Versicherungssumme zu kassieren, stolz der ewig missgelaunten Kindergärtnerin das Essengeld gibt, an der Kochwäsche schwer zu heben hat, sich »nach oben« mit dem hübschen Abteilungsleiter einer Fabrik liiert, mit der besten Freundin abhängt und das Kind nachts allein lässt und am Ende doch eine Heldin ist.
»Immer mehr wurde der Dokumentarfilm ein Genre, um Konfliktfelder im Sozialismus darzustellen.«
Gedreht wurde in echten Treppenhäusern und Betrieben, in piefigem Kulturhaus-Ambiente und surreal gestalteten Kellerkneipen. Genutzt wurden Wohnungsausstattungen, um ihre Bewohner zu charakterisieren, ihre Klassenzugehörigkeit und ihr Temperament. Der Film bekam seine Kinozulassung, aber mit so wenigen Kopien, dass ein größeres Publikum schon deshalb verhindert wurde. Es gab negative Kritiken, die sowohl aus dem linientreuem Kulturlager als auch aus Fachkreisen kamen. Die Susanne sei zu mager, asozial, kaputt, zerrissen, schrieb die Presse, eine Figur am Rande der Gesellschaft, die nicht zur Heldin tauge und nicht zu verallgemeinern sei. Seltsamerweise wurde dies zwei Jahre zuvor der Solo Sunny des mit der Partei-und Staatsführung gut vertrauten Meisterlehrers von Schmidt, Konrad Wolf, nicht vorgeworfen.
Die Konsequenzen für Evelyn Schmidts weitere Regie-Laufbahn waren einschneidend. Nie wieder konnte sie einen Spielfilm für Erwachsene drehen, und ihre Hauptdarstellerin, die zart-zähe Heidemarie Schneider, erhielt keine Hauptrolle mehr. Im Westen dagegen wurde der Film interessanterweise als berührendes Plädoyer für Solidarität und Menschlichkeit wahrgenommen und 1985 im ZDF gezeigt.
Einen späten Triumph konnten Schmidt und Schneider 2005 in New York City feiern, wo Das Fahrrad aus 300 DEFA-Filmen mit ausgesucht wurde, um im Museum Of Modern Art zu laufen. Evelyn Schmidt sagte darüber, dass sie es vor Freude lange nicht fassen konnte.
Außer dem Spielfilm war der Dokumentarfilm der DDR ein spannendes Feld, in dem Frauen jedoch leichter als Regisseurinnen arbeiten konnten. Dort war die Konkurrenz durch Männer nicht so groß wie beim Spielfilm, da Dokfilm weniger als Kunstform galt und weniger Geltung versprach.
Immer mehr wurde der Dokumentarfilm ein Genre, um Konfliktfelder im Sozialismus darzustellen und zur Debatte zu bringen, ohne dass dies so streng beobachtet beziehungsweise schon im Vorfeld abgewiegelt wurde wie im Spielfilm. Autorenfilmerinnen – hier im Dokumentarfilm gab es sie. Drei Frauen ragten mit ihrem Schaffen besonders heraus, drei Frauen aus drei Generationen: Gitta Nickel (Jahrgang 1936), Helke Misselwitz (Jahrgang 1947) und Petra Tschörtner (Jahrgang 1958).
Sechszig Filme konnte Gitta Nickel, die nie eine Filmhochschule besucht hat, im Laufe ihres Regie-Lebens drehen, eine für eine DEFA-Frau sonst unerreichte Zahl. In gewisser Weise hatte sie ein Sonderstellung. Da sie zunächst nicht als Regisseurin antrat, sondern erst mal unsichtbar bei vielbeschäftigten und anerkannten Regie-Männern wie Konrad Wolf und Karl Gass assistierte und ihnen über die Schulter sah, lernte Nickel das Handwerk des Filmemachens ganz praktisch und von der Pike auf. Zudem waren in ihren Anfangsjahren bei der DEFA (ab 1957) die Strukturen in der Filmpolitik noch nicht so machtvoll verkrustet.
»Nickels Filme bewegten sich zwischen Staatsauftrag und unbestechlichem Konfliktbewusstsein.«
1968 legte Gitta Nickel mit Lieder machen Leute ihren ersten eigenen Dokumentarfilm über einen damals frisch entstandenen Singeklub der FDJ (Jugendorganisation der SED), genannt »Oktoberklub«, vor. Der Film trägt bereits ihre Handschrift: kein Off-Kommentar, nur Beobachtung der Menschen vor der Kamera und dichte, spannende Montage. Dabei handelte es sich zwar um ein Auftragswerk – schließlich war der Oktoberklub ein staatstragendes Ensemble, das die Botschaft von der Überlegenheit des Sozialismus in Agitprop-Manier ins Land tragen sollte. Dieses Propaganda-Element in seinen beinahe noch naiven Anfängen beobachtet Nickel genau. Vornehmlich das schon ausgereifte Sendungsbewusstsein des später zum FDJ-Chef und noch später zum stellvertretenden Kulturminister aufgestiegenen Harry König, hier noch schlank und agil, fängt der Film gut ein.
Nickels Filme bewegten sich zwischen Staatsauftrag und unbestechlichem Konfliktbewusstsein. Ihre Themen waren im Laufe ihres 30-jährigen Regie-Lebens breit gefächert: polnische Vertragsarbeit in einem Hühnermastbetrieb (Und morgen kommen die Polinnen …, 1975), Atombombe in Hiroshima (Verbrennt nicht unsere Erde, 1980), eine nicht so vorbildliche Jugendbrigade auf einer Baustelle in Berlin-Marzahn (Manchmal möchte man fliegen… ,1981), das Porträt einer alleinerziehenden Krankenschwester (Gundula - Jahrgang '58, 1983) und, im vorletzten DDR-Jahr, der abendfüllende Dokumentarfilm Zwei Deutsche über den Besuch bei zwei Männern, deren Fotos als 16-Jährige, 1945 aufgenommen, weltbekannt wurden. Dieser Auftrag war prestigeträchtig und weist zugleich auf veränderte Wahrnehmungen in der DDR von Kriegsschuld und deutsch-deutschem Erbe hin.
Eine nächste hervorragende Dokumentarfilmregisseurin der DDR war Helke Misselwitz. Sie selbst wollte nicht so genannt werden, wie sie einmal bekannte. »Ich bin nicht Dokumentarfilmregisseurin. Ich bin Regisseurin«, sagte sie in einem Filmgespräch lange nach dem Mauerfall. 1982, nach dem Abschluss des Regiestudiums an der Filmhochschule Babelsberg, wollte sie eigentlich Spielfilme machen, aber nur der Dokumentarfilm bot für ihr für Regie ein »kleines Türchen«, durch das sie glücklicherweise ging.
Misselwitz‘ erster wichtiger Dokumentarfilm Aktfotografie, z.B. Gundula Schulze von 1983 ist gerade mal 12 Minuten lang. Er fängt Ansichten der Fotografin Gundula Schulze, damals 29, über Aktfotografie ein und präsentiert ein paar ihrer Fotos. Das Erlebnis dieser jungen Frau, die ruhig und doch leidenschaftlich und zornig und stets mit einer Zigarette in der Hand, die herrschenden Klischees der von Männern beherrschten Domäne der Aktfotografie angeht, ist ein feministischer Knaller. Schulze widerspricht den »Lehrsätzen« des Star-Aktfotografen Klaus Fischer, die anfangs zitiert werden. Das unrealistische Schönheitsbild verunsichere Frauen, so Gundula. Ja, die idealisierten Frauen auf den Fotos ähnelten in Wirklichkeit nicht mal ihrem eigenen Selbst. »Wenn ich jemanden fotografiere, dann ist das wie eine Liebeserklärung.« Aktfotografie sei nichts anderes als ein Porträt des Menschen mit seinem Körper, seinem Gesicht, seiner Vergangenheit. Das fände sie spannend.
Der kurze Film von Misselwitz über Schulze, die eine wichtige Fotografin fern des DDR-Establishments wurde, ist ein Film über weibliche Perspektiven vor und hinter der Kamera, ein ganz unspektakulär daherkommendes kleines Manifest.
»Wenn ich jemanden fotografiere, dann ist das wie eine Liebeserklärung.«
Im selben Jahr drehte Misselwitz den kleinen, aber bemerkenswerten Film Marx-Familie. Ganze 6 Minuten lang werden Briefe von Karl Marx vorgelesen, ganz private, die sich um Geldsorgen, Pfandleihe, drohenden Hunger und den frühen Tod der beiden Marx-Kinder Franziska und Edgar drehen. Sehr nah rücken da die Alltagsbedingungen des berühmtesten Kapitalismus-Analysten der Weltgeschichte und seiner Familie. Im Abspann laufen dann die epochalen Titel von Marx, die er zu der Zeit geschrieben hatte, eindrucksvoll über den Schirm. Der Film war eigentlich zu Ehrung zum 100. Todesjahr von Karl Marx gedacht, der in der DDR als staatstragend galt. Aber Misselwitz‘ ungewöhnlicher gestalterischer Zugriff gefiel den Filmfunktionären nicht und er durfte nicht erscheinen, so winzig er war. Erst 1988 lief er unbeachtet im Kino-Vorprogramm.
1988 dann erschien auch Misselwitz‘ abendfüllender Dokumentarfilm Winter adé im Kino, der sie schlagartig bekannt machte und in ungewöhnlich vollen Sälen lief. Misselwitz, die im Off-Kommentar als Ich-Figur beginnt, begegnet in einer Art Road-Movie einer Reihe von Frauen, zufällig oder verabredet, und spricht mit ihnen über deren Lebensläufe, Lebenslagen, über Scheitern, Schmerz, Erfolge und Träume. Die Art, wie Misselwitz den Menschen zuhört, bringt sie zum Reden. Das soziale Spektrum ist breit.
Besonders prägt sich Christine ein, Arbeiterin in einer Brikettfabrik, die allein zwei Kinder versorgt und im Dreischichtsystem einmal pro Stunde mit schwerem Hammer die Rohre nach Rückständen abklopft und so gar nicht wie eine siegreiche Proletarierin wirkt. Unvergesslich auch die beiden jugendlichen Punkerinnen Anja und Kerstin, die von zu Hause »ausgerissen« sind. Der Film gilt heute als filmischer Abgesang auf die DDR, als Krisen-Anzeiger, als Bestandsaufnahme.
Petra Tschörtner war die dritte bedeutende Dokumentarfilmerin der DDR. Sie schloss 1984 ihr Regiestudium an der Filmhochschule Babelsberg ab. Ihr Diplomfilm Hinter den Fenstern erregte bereits Aufsehen. Die Idee war einfach: Vor laufender Kamera klingelte Tschörtner mit ihrem Kameramenschen an Türen eines Neubaublocks in Potsdam und fragte die Menschen, ob sie eintreten und mit ihnen sprechen dürfte. Sie durfte.
Tschörtners warmherzige, spontane, gänzlich unverstellte Art weckte sofort Vertrauen. Wie sie sich Menschen nähert, dokumentierte sie oft vor der Kamera, scheinbar ohne Vorgespräche, ohne Verabredungen, so schien es jedenfalls hier. So befragte sie drei Ehepaare in ihren Wohnungen nach dem Eheleben, den Problemen, Sorgen, Fremdgängen. Bildungsabschlüsse spielen eine Rolle, gemeinsame Pläne werden unterschiedlich von den Ehepartnern getragen, Konflikte zwischen den Zeilen. Der Film hatte für einen Diplomfilm einen enormen Erfolg und wurde sogar zu den Oberhausener Kurzfilmtagen »im Westen« 1984 nicht nur eingeladen, sondern mit dem Hauptpreis der Internationalen Jury ausgezeichnet.
Petra Tschörtner hatte von Beginn an einen unverwechselbaren Stil, der selbst in sehr kurzen Dokfilmen, die als Vorfilme produziert wurden, oft nur von wenigen Minuten, im Zirkus, auf der Pferderennbahn, Filmkinder beim Dreh, sichtbar wird. In langen Kameraeinstellungen erkundet die Regisseurin gemeinsam mit den Zuschauenden das Gelände, die Menschen, beobachtet oft von weitem, nähert sich, spricht Menschen an, beobachtet weiter, hakt nach, sieht sich weiter um. Der Wechsel von totalen zu nahen Einstellungen zeigt bei Tschörtner, in welchem Umfeld sich ihre Protagonistinnen und Protagonisten befinden, welche räumlichen und lebensweltlichen Bedingungen sie haben, wie die Lage ist.
Tschörtner selbst hat mehrere Rollen: als Neugierige, als Fragende, als Mitstreiterin, als Regisseurin und auch als Mitmensch und selbst Mutter befindet sie sich in ihrem Filmen. Tschörtner ist auf eine warmherzige Weise anwesend wie keine andere Dokumentaristin der DDR.
»Und doch weist die DDR eine Besonderheit auf: Die Dokumentar- und Spielfilme der Frauen erzählen vor allem von Frauen, lakonisch und ohne Schnörkel.«
Als nach dem Mauerfall die alte DDR zusammenbrach und die Revolution schon abgesagt war, da drehte Petra Tschörtner im Frühjahr 1990 den Dokumentarfilm Berlin – Prenzlauer Berg. Acht Wochen lang zog sie mit einem kleinen Filmteam vom 1. Mai bis zum 1. Juli, dem amtlichen Termin für die Währungsunion, durch ihren Wohnbezirk Prenzlauer Berg, der später für den gierigen Zugriff kapitalistischer Immobilienleute besonders attraktiv war.
Tschörtner beobachtete und fragte und hörte zu, auf der Straße, in einem Textilbetrieb, in einem Bekleidungsladen, sah eine Demo von weitem mit dem Transparent »Gegen Hass und Ausländerfeindlichkeit«, besuchte öfters eine bestimmte Kneipe und natürlich den Wurststand Konnopke, Ecke Schönhauser, wo die Chefin Ziervogel am Ende des Films das erste Westgeld für ihre berühmte Currywurst einnimmt.
Der Film fing fern vom Einheitsjubel die neuen Existenzängste ein, den Zorn, verhaltene Hoffnung, Resignation, Sarkasmus, Lebensfreude in allen Alters- und sozialen Klassen. Er ließ sich seine Zeit. Unvergesslich ist die Inhaberin des Bekleidungsladens, die in einem langen Monolog sagt: »Wir werden uns alle noch die Mauer zurückwünschen!« Unvergesslich auch der Vortrag des Liedes: »Unsre Heimat – das sind nicht nur die Städte und Dörfer«, auf nächtlicher Straße gesungen von Tschörtners Mitstreiter Jochen Wisotzki, in schier unerreichbarer Stimmhöhe und mit nicht mehr feststellbarer Promillezahl.
75 Minuten eines historischen Moments hat Tschörtner in ihrem unvergleichlichen Stil eingefangen. Der Film ist heute ein kostbares Zeitdokument.
Es sollte der letzte große Dokumentarfilm von Petra Tschörtner sein, sie verdiente sich bald ihren Lebensunterhalt besser beim Fernsehen und regelmäßiger in der Regieassistenz bei befreundeten Filmemacherinnen und Filmemachern als in der Ungewissheit freien Filmemachens. Ein Kind musste versorgt sein. »Ich kann nur versuchen, so zu bleiben wie ich bin«, sagte sie 1991 in einem Interview. Petra Tschörtner starb im Sommer 2012 an Krebs. Sie bleibt unvergessen und geehrt und gesichtet auf Festivals und Special Screenings.
Andere sozialistische Staaten in Osteuropa hatten ebenfalls nur sehr wenige Frauen auf dem Spielfilm-Regiestuhl. Und doch weist die DDR eine Besonderheit auf: Die Dokumentar- und Spielfilme der Frauen erzählen vor allem von Frauen, lakonisch und ohne Schnörkel. Vom Alltag, von Konflikten in Familien, Betrieben und der heterosexuellen Liebe, von der Kraft der Solidarität, der Selbstständigkeit und Unabhängigkeit ostdeutscher Frauen, von starken Freundschaften. Umfassende Reflektionen der Gegenwart in großen Themen und gestalterische Experimente blieben in der DDR jedoch gern den männlichen Kollegen vorbehalten, ebenso die Erzählung männlicher Hauptfiguren.
Im Vergleich mit Polen, Ungarn, der Sowjetunion und der Tschechoslowakei war die kulturpolitische Linie der DDR besonders konservativ und strikt. In Polen gab es Agnieszka Holland, die vor ihrem Auszug aus Polen fünf große, teils preisgekrönte Spielfilme drehen konnte, in Ungarn machte Márta Mészáros mit ihren radikal und lebendig erzählten Geschichten um Frauen in den Kinos und auf Festivals Furore, die russisch-sowjetische Autorin und Regisseurin Larissa Schepitko, eine starke Protagonistin der Tauwetter-Periode nach Stalins Tod, wurde mit Filmgeschichten voller gestalterischer Poesie und philosophischer Tiefe weltberühmt, in der ČSSR konnte Věra Chytilová mit erzählerisch dekonstruierten Spielfilmen experimentieren.
Das waren grandiose künstlerische Erfolge von Filmregisseurinnen, die es so in der DDR nicht gegeben hat. Nur sechs Namen stehen für selbstständig Regie führende, erfolgreiche Frauen im Spiel- und Dokumentarfilm der DDR. Aber es gab sie, und ihre Filme berühren bis heute. Sie vermitteln jede auf ihre eigene Art eine andere Perspektive auf ihre Figuren als Regisseure – und nicht zuletzt auf die Gesellschaft, in der sie lebten. Spannend erzählen konnten sie alle, wenn sie zu Hochform aufliefen – und wenn man sie machen ließ.
Angelika Nguyen Autorin, Kuratorin und Filmjournalistin.