09. März 2023
Wer sich elend fühlt, ist selbst schuld – das zumindest will uns die boomende Glücksindustrie glauben machen. Sie verspricht kein kollektives, sondern nur das individuelle Lebensglück – und schadet uns damit allen.
Vereinzelung und Unzufriedenheit: Die Glücksindustrie sucht die Ursachen für diese weit verbreiteten Gefühlslagen vor allem beim Individuum – und nicht bei den Verhältnissen.
Unsplash / Maria TenevaWer sich hart genug anstrengt, schafft es. Und wer es nicht schafft, hat sich eben nicht genug angestrengt – diese Erzählung hält sich hartnäckig. Diese Grundannahme führt dazu, dass wir uns in einem gnadenlosen Wettbewerb zueinander begreifen, in dem das individuelle Vorwärtskommen und nicht das gesellschaftliche Gemeinwohl zählt.
Michael J. Sandel hat zuletzt in seinem Buch Von Ende des Gemeinwohls darauf hingewiesen, dass das Prinzip des leistungsorientierten Wettbewerbs zwar oftmals als die Lösung für gesellschaftliche Ungleichheiten dargestellt wird, aber in Wirklichkeit nur als Legitimation für ebendiese dient.
Wenn Karl Marx in seiner Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie darauf aufmerksam macht, dass die Forderung danach, die Illusionen über den eigenen Zustand aufzugeben, darin besteht, einen Zustand aufzugeben, dessen Reproduktion auf unsere eigenen Illusionen angewiesen ist, dann hatte er die Religion im Sinn. Seine Kritik richtete sich vor allem gegen die Tatsache, dass die Religion – wie in Marx’ berühmtem Ausspruch – zum Opium des Volkes geworden war. Die Religion stellt laut Marx jenen transzendenten Zufluchtspunkt dar, der es den Menschen ermöglicht, ihren erbärmlichen Verhältnissen geistig zu entfliehen – ohne etwas an den Verhältnissen zu ändern, die für ihre prekäre Lage verantwortlich sind.
Heute ist es jedoch nicht die Religion, sondern eine riesige Glücksindustrie, die die Menschen glauben machen will, sie müssten nur ihren Mindset verändern, um ihr Leben zu verbessern. Ein sich immer weiter radikalisierender Neoliberalismus trägt – wie Eva Illouz und Edgar Cabanas in ihrem Buch Das Glücksdiktat anmerken – zu einer Individualisierung und Psychologisierung von eigentlich gesellschaftspolitischen Problemen bei, wie beispielsweise prekäre Beschäftigungsbedingungen oder die Zunahme von sozialer Ungleichheit.
Die Aufforderung, einfach mal an der eigenen Einstellung zu arbeiten, wird schnell zu einem argumentativen Instrument, um bestehende gesellschaftliche Ungerechtigkeiten zu legitimieren – entweder, um sich die eigenen prekären Umstände schönzureden oder aber, um den eigenen Reichtum zu rechtfertigen.
Illouz und Cabanas weisen in ihrem Buch folgerichtig darauf hin, dass es den meisten Vertreterinnen und Vertretern der Glücksforschung gar nicht darum geht, Menschen zu ihrem eigenen Glück zu verhelfen, sondern dass sie vielmehr zu einer Entpolitisierung von gesellschaftspolitischen Problemen beitragen. Dies geschieht, indem man das Prinzip eines atomisierten Individualismus ins Gewand eines – scheinbar – harmlos klingenden Glücksstrebens kleidet:
»Viele Vertreter der Glücksforschung haben den Begriff des Glücks im Mantel der positiven Wissenschaft in ein mächtiges, ideologisch passendes Instrument verwandelt, das der Betonung der persönlichen Verantwortung für das eigene Schicksal dient. Die Inthronisierung ausgesprochen individualistischer Werte ließ sich so als objektive psychologische und ökonomische Erkenntnis ausgeben. […] Man muss sich in diesem Zusammenhang allerdings klarmachen, dass die Idee des Glücks ihre zentrale Stellung nicht trotz, sondern wegen des ihr zugrundeliegenden Individualismus erlangt hat. Ihr Erfolg verdankt sich ja gerade dem Umstand, dass sie den Individualismus mit einem legitimierenden, verallgemeinernden und apolitischen Diskurs unterfüttert – einen Diskurs, der das Leben des Individuums von dem der Gemeinschaft trennt und das Selbst als Ursache und Ursprung allen menschlichen Verhaltens versteht.«
Kurzum: Individualistisches Gewinnstreben, das sich von jeglicher Form der Gemeinschaftlichkeit entkoppelt sieht, wird zum Diktum des richtigen Handelns erklärt. Mit derartigen Ratschlägen streicht die Glücksforschung, die sich als Positive Psychologie bezeichnet, riesige Gewinne ein. Seit Jahren verkauft sie ihre Erkenntnisse an verschiedenste Sektoren, wie etwa das Bildungssystem, die Politik, Wirtschaftsunternehmen, aber auch das Militär.
So wurde bereits vor Jahren von Martin Seligman, einem der bekanntesten Vertreter der Positiven Psychologie, das sogenannte Comprehensive Soldier Fitness (CSF)-Programm entwickelt, das dazu dient, die Angehörigen des US-Militärs in psychischer Belastbarkeit und positiven Emotionen zu schulen. Der Untertitel des Programms verspricht: »Building Resilience and Enhancing Performance«. Mit der richtigen Einstellung soll also die mentale Widerstandsfähigkeit gestärkt werden, um die eigene Leistungsfähigkeit zu steigern. Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist jedoch, um welche Art von positiven Emotionen es sich hier handeln soll, wenn man sich inmitten eines Kriegsgebietes befindet. Fest steht jedoch, dass jenes Programm vom US-Militär mit 145 Millionen Dollar finanziert wurde.
Wie an diesem Beispiel unschwer zu erkennen ist, verfolgt die Glücksindustrie durchaus unterschiedliche Ziele – von der Erlangung des individuellen Lebensglücks bis hin zum Wohlbefinden des Soldaten. Vor allem geht es der Glücksindustrie aber um Kapitalakkumulation.
Der neoliberale Imperativ, demzufolge man mit dem richtige Mindset alle Probleme – die eigentlich nach einer politischen Antwort verlangen – alleine lösen könne, erzeugt auf individueller Ebene ein Gefühl der Vereinzelung. Die mit dem Neoliberalismus seit den 1970er einsetzende Privatisierung von gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen hat zugleich dazu geführt, dass sich Menschen als voneinander isolierte Individuen erfahren, die von jeglicher Form der Gemeinschaftlichkeit entkoppelt sind.
Die Psychologen Curran und Hill untersuchten in einer Studie, welche Konsequenzen diese Entwicklungen auf die Privatsphäre haben. Bei jüngeren Menschen sei beispielsweise ein deutlich höheres Maß an Eigeninteresse zu beobachten. Anstatt gemeinschaftlichen Freizeitaktivitäten nachzugehen, lasse sich eine Fokussierung auf individuelle Aktivitäten verzeichnen, die einen primär instrumentellen Wert aufweisen und dem persönlichen Vorankommen dienen. Curran und Hill argumentieren auf Basis ihrer Daten, dass diese Entwicklungen vermehrt zu Depressionen führen, da der neoliberale Imperativ in jungen Menschen ein dauerhaftes Streben nach Perfektionismus erzeugt, was wiederum Ängste darüber auslöst, den gesetzten Idealen nicht genügen zu können.
In seinem Buch Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? hält der britische Kulturtheoretiker Mark Fisher hinsichtlich der Privatisierung von persönlichen Problemen eine äußerst treffende Analyse bereit. Vor dem Hintergrund einer deutlichen Zunahme an Depressionen unter meist jungen Menschen stellt Fisher fest:
»Man behandelt psychische Krankheiten, als würden sie lediglich durch ein chemisches Ungleichgewicht im neuronalen System des Individuums und/oder durch ihren familiären Hintergrund verursacht. So werden psychische Probleme privatisiert und jegliche Frage nach einer gesellschaftlichen, systemischen Ursache ausgeschlossen.«
Die Verschiebung des Fokus von der gesellschaftlichen in die individuelle Sphäre führt nach Fisher dazu, dass psychische Probleme privatisiert und eine systemische Analyse der gesellschaftlichen Faktoren, die zu solchen Erkrankungen beitragen können, vollends unberücksichtigt bleibt. Der Ursprung der massiven Zunahme an Depressionen lässt sich laut Fisher wiederum dadurch erklären, dass eine allgemeine gesellschaftliche Resignation vorherrscht, die sich durch ein Phänomen erklären lässt, das Fisher als kapitalistischen Realismus bezeichnet.
»Analog zu der gedämpften Perspektive eines Depressiven, der glaubt, dass jeder positive Zustand und jegliche Hoffnung gefährliche Illusionen sind«, so erzeuge auch der kapitalistische Realismus in uns das Gefühl, dass es zu dem bestehenden kapitalistischen System keine Alternative gäbe und dass alle Beteuerungen des Gegenteils unvernünftig und illusorisch seien, so Fischer. Wie gerät man nun aus dieser Sackgasse heraus? Wie lässt sich ein Zustand aufheben, dessen Reproduktion selbst auf unseren Glauben angewiesen ist, dass die meisten Probleme unserer Welt mit unserer eigenen Einstellung zusammenhängen?
Hier lohnt es sich noch einmal zu dem eingangs erwähnten Zitat von Marx zurückzukehren: Würde man den durch die neoliberalen Wirtschaftsstrukturen entstandenen kapitalistischen Realismus aus marxistischer Perspektive analysieren, so käme man zu der Erkenntnis, dass es nicht die imaginierten Alternativen zum gegenwärtigen neoliberalen Wirtschaftssystem sind, die gefährliche Illusionen darstellen, sondern vielmehr die dauerhaft postulierte Alternativlosigkeit selbst. Die Glücksindustrie versucht, diesen Umstand zu kaschieren. Überwinden können wir ihn nur gemeinsam.
Florian Maiwald ist Doktorand in Philosophie an der Universität Bonn. Mit Sebastian Lenze moderiert er den Podcast »Keine Experimente – Politik für Alle und Keinen«.