15. April 2022
Die Klimakrise bringt den Staat zurück. Doch statt eine ökologische Transformation zu organisieren, soll er bloß die Investitionsrisiken des privaten Kapitals auf sich nehmen.
Grüner Ordoliberalismus ist en vogue in Europa. Er verkündet eine beruhigende Status-quo-Botschaft: Dekarbonisierung muss nicht auf Kosten des Wohlstands oder der bestehenden institutionellen Ordnung gehen. Das Kapital kann dazu gebracht werden, die Klimakrise zu lösen, die es mitverursacht hat, und sich selbst zu transformieren – ohne dass der Staat neu erfunden werden muss.
Vor der russischen Invasion in der Ukraine beschwor Sven Giegold, der frisch ernannte grüne Staatssektretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, die Dreifaltigkeit des grünen Ordoliberalismus: Wettbewerbsfähigkeit auf Grundlage sozialer und ökologischer Innovation, eine Makrofinanzpolitik, die ein stabiles Investitionsklima gewährleistet, und grüne Anreize zur Förderung von Infrastruktur und Innovation. Ein »bescheidener Staat, der sich seiner eigenen Grenzen und Ineffizienzen bewusst ist«, solle weder (mutmaßlich destabilisierende) öffentliche Großinvestitionen in die Dekarbonisierung vornehmen, noch gezielt bestimmte grüne Unternehmen oder Sektoren fördern. Vielmehr soll er ein günstiges Geschäftsumfeld schaffen, um private Investitionen zu mobilisieren, und so den Markt zu einer sozial verantwortungsvollen Entwicklung bewegen.
Das Versprechen der Grünen, Kapitalismus und Klima zu versöhnen, ist auch für Konservative politisch akzeptabel, sofern dabei bestimmte makroökonomische Regeln eingehalten werden. Deutschlands Liebe für ausgeglichene Haushalte wird nur noch von jener für Leistungsbilanzüberschüsse übertroffen. Wolfgang Schäuble verkündete bereits, dass Grüne Null und Schwarze Null sich leicht vereinbaren ließen: Der Staat müsse nichts weiter tun, als privatwirtschaftliche Innovationen, die der Welt eine »atemberaubende« Bandbreite an Klimatechnologien beschert hätten, zurückhaltend zu regulieren. Nach dieser Vision könnten Techno-Optimismus und ökologisches Eigeninteresse zu den beiden Motoren einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft werden, die jenseits Europas (wo große deutsche Handelsüberschüsse tendenziell unbeliebt sind, wie Schäuble zugab) auch in Afrika neue Absatzmärkte erschließt.
Obwohl in Europa gerade viel von »tektonischen Verschiebungen« gesprochen wird und Deutschland angekündigt hat, bei der geplanten »Energieautonomie« auf die Tube zu drücken, um bis 2035 vollständig auf Erneuerbare umzustellen, wird der grüne Ordoliberalismus allem Anschein nach auch den Krieg in der Ukraine überdauern. Die Versailler Erklärung der EU-Führungsspitzen vom März 2022 verspricht ein neues europäisches Wachstums- und Investitionsmodell. Doch der einzige Sektor, in dem die öffentlichen Ausgaben massiv erhöht werden sollen, ist die Verteidigung. Europa wird demnach nur noch mehr auf den grünen Ordoliberalismus setzen, um seine Energieabhängigkeit zu verringern und eine robustere wirtschaftliche Basis zu schaffen. Im Klartext bedeutet das: Steuergelder werden aufgewendet, um private Investitionen anzuregen (oder abzusichern) und eine »solide Finanzpolitik« (also Austerität) beizubehalten.
Um zu verstehen, warum der grüne Ordoliberalismus so standhaft ist, muss man zunächst festhalten, dass er kein spezifisch deutsches oder europäisches Projekt ist, sondern die Welt bereits in einer anderen Gestalt heimsucht, die ich Wall Street Consensus (WSC) nenne. Damit meine ich die zunehmende Einigkeit globaler politischer Kreise in der Frage, wie Nachhaltigkeitsziele erreicht und nach der Covid-19-Pandemie Übergänge zu einer emissionsarmen Wirtschaft organisiert werden können. Der WSC basiert auf dem Narrativ, dass der Staat auf private Investitionen angewiesen ist, weil er das nötige Geld selbst nicht aufbringen kann – sei es aus ideologischen Gründen (à la Schwarze Null) oder pragmatischen Erwägungen (Mangel an fiskalischem Spielraum oder Devisenreserven).
Gemäß dem WSC lassen sich die Herausforderungen von wirtschaftlicher Entwicklung und Klimaschutz stemmen, indem man ein günstiges Geschäftsumfeld schafft, das privates Kapital anzieht. Das bedeutet, aus Schulen, Straßen, Krankenhäusern, Wasser- und Energieanlagen, Parks und Häusern Vermögenswerte zu machen, in die investiert werden kann. Ohne Zutun des Staates würden diese (öffentlichen) Güter nämlich keine Risiko-Ertrags-Profile aufweisen, die den Anforderungen institutioneller Investoren wie Pensionsfonds, Versicherungen, Hedgefonds, Private-Equity-Gesellschaften und anderen Vermögensverwaltern entsprechen.
Die risikobereinigten Renditen sozial gerechter Transformationsprojekte genügen Blackrock oder PIMCO nicht. Um private Investitionen für solche Projekte zu mobilisieren – die zum Beispiel Arbeitsplätze für Bergleute schaffen, die aufgrund der Klimapolitik Südafrikas ihre Beschäftigung verlieren –, muss der Staat einen Teil dieser Risiken auf sich nehmen, indem er sogenannte Derisking-Maßnahmen ergreift. Diese regulatorischen, steuerlichen und monetären Eingriffe lassen sich mitunter nur schwer entschlüsseln und demokratisch kontrollieren.
Der WSC hat mit seinen Codewörtern »Partnerschaft«, »Derisking«, »günstiges Umfeld« und »Mobilisierung privater Investitionen« eine Reihe europäischer und globaler Initiativen geprägt: vom »Compact with Africa«, der 2017 unter der deutschen G20-Präsidentschaft ins Leben gerufen wurde, um private Investitionen in Afrika zu fördern, über das »Global Gateway« der Europäischen Kommission und »Maximising Finance for Development« der Weltbank bis hin zur »G20 Roadmap to Infrastructure as an Asset Class«. Seit Joe Biden Präsident ist, kann der WSC neben der Weltbank und dem IWF auch die US-Regierung zu seinen Unterstützern zählen. John Kerry, der Sonderbeauftragte des US-Präsidenten für Klimafragen, erklärte auf der UN-Klimakonferenz 2021 in Glasgow, die Staaten müssten eine »Mischfinanzierung verfolgen, das Investitionsrisiko verringern und die Grundlagen für bankfähige Geschäfte schaffen. Das ist machbar für Wasser, für Strom und für Verkehr«.
Auch Just-Transition-Strategien im Globalen Süden, die eine sozial gerechte Klimawende anvisieren, beziehen sich auf den WSC. Nehmen wir Südafrika, dessen Übergang zu einer emissionsarmen Wirtschaft aufgrund seiner starken Abhängigkeit vom Kohleabbau schwierig und mit erheblichen sozialen Kosten verbunden sein wird. Die vom südafrikanischen Präsidenten Cyril Ramaphosa eingesetzte Klimakommission ließ verlauten, dass das Derisking privater Finanzströme und ein grundsätzlicher Wandel im finanziellen Ökosystem unabdingbar seien. In einem Land, das mit den Nachwehen des Kolonalismus, der Apartheid und wirtschaftlicher Stagnation zu kämpfen hat, könne man die sozial Schwachen nur so vor den Auswirkungen des ökologischen Umbaus beschützen.
Paradoxerweise steht der WSC intellektuell tief in der Schuld des deutschen ordoliberalen Ansatzes zur Förderung der Märkte für erneuerbare Energien. Er ist in vielerlei Hinsicht ein ordoliberaler Frankenstein, der den Ansatz der EEG-Umlage in eine makrofinanzielle Ordnung zur Dekarbonisierung überführt und den ordoliberalen Staat für das Zeitalter des Finanzkapitalismus neu erfindet. Anders als im klassischen Ordoliberalismus macht sich dieser Staat jedoch weniger Sorgen um die Konzentration institutionellen Kapitals bei globalen Vermögensverwaltern wie Blackrock oder Private-Equity-Gesellschaften wie Blackstone.
Das ist die leidige politische Arithmetik des grünen Ordoliberalismus: Er muss sich damit anfreunden, dass sich politische, infrastrukturelle und marktwirtschaftliche Macht zunehmend in den Händen globaler Vermögensverwalter bündelt. Blackrock zum Beispiel hat das von ihm verwaltete Vermögen zwischen 2015 und 2022 auf 10 Billionen US-Dollar verdoppelt und damit seine Konkurrenten Vanguard (7 Billionen US-Dollar) und State Street (4 Billionen US-Dollar) überholt. Der Vermögensverwalter könnte sämtliche grüne Anleihen der Welt (2020 beliefen sich diese auf 1 Billion US-Dollar) sowie alle deutschen und französischen Staatsanleihen (2,4 Billionen respektive 2 Billionen Euro im Juli 2021) aufkaufen und hätte immer noch 4 Billionen Euro übrig, die er zum Beispiel in Infrastrukturprojekte investieren könnte. Kein Wunder, dass Befürworterinnen des WSC Partnerschaften mit institutionellem Kapital anstreben. Schließlich könnten die vielen Billionen ohne weiteres die »sozial-ökologische Marktwirtschaft« ankurbeln, sobald ein günstiges Geschäftsumfeld geschaffen worden sei.
Das Derisking-Paradigma ebnet den Weg für eine makrofinanzielle Ordnung, in der es Unmengen an privatem institutionellem und von Zentralbanken besichertem Kapital gibt, das auf neue Anlageklassen drängt, während ein Steuerstaat, der vor massiven öffentlichen Investitionen zurückschreckt, alle Risiken trägt. Ob man sich von diesem politischen Blendwerk verzaubern lässt, ist letztlich eine Frage der Doktrin. Man muss sich der Illusion hingeben, dass der grüne Übergang kein makroökonomisches Umdenken erfordert. (Grüne) Politiker tun so, als könnte der Wandel hin zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft in Partnerschaft mit dem Finanzkapital erreicht werden, und als gäbe es keinen fiskalischen Spielraum für eine Alternative.
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