29. September 2022
Der kürzlich verstorbene Filmemacher Jean-Luc Godard hat das moderne Kino revolutioniert. Er war in seiner Kunst genauso kompromisslos wie in seiner Politik. Mit ihm verliert der Film seinen bedeutendsten Innovateur.
Jean-Luc Godard in Berkeley, 1968.
CC BY 2.0Die Filme des französischen Regisseurs Jean-Luc Godard, der am 13. September im Alter von 91 Jahren verstarb, bleiben einzigartig. Die Vorstellung, dass das Persönliche politisch ist, durchzieht sein Werk. Entsprechend war Godards politische Praxis für eine gewisse Zeit vollends mit der Arbeit an seinen Filmen verwoben. Seine Entwicklung vom eigenwilligen Provokateur zum marxistischen Humanisten war ähnlich unvorhersehbar wie die Erzählstruktur vieler seiner Filme. Godards radikaler Ansatz des Filmemachens hat nicht nur das Denken über das Medium nachhaltig verändert, sondern wurde auch zum zentralen Bezugspunkt für viele Filmemacherinnen und Filmemacher, die ihm folgten.
Ob man Godard nun verehrt oder verachtet – und oft tut man im Laufe einer seiner Filme mal das eine und mal das andere –, muss man anerkennen, dass er die Spielregeln für immer verändert hat. Seine Filme bleiben der Zuschauerin noch lange nach dem Abspann im Kopf, wenn auch manchmal bloß aus Frust.
Godards Arbeit ist, wie auch seine Person, von Widersprüchen geprägt. Er wurde in eine kleinbürgerliche Familie hineingeboren, wurde erst Filmkritiker, dann Filmemacher, dann maoistischer Propagandist, bevor er letztendlich zu einem humanistischen Dokumentar menschlicher Konflikte wurde. Godard blieb zeit seines Lebens extrem konfrontativ. Er drehte Filme, die gleichermaßen gefallen und provozieren sollten. Diese Konflikt- und Kritikbereitschaft übertrug sich auch in sein Privatleben und hatte mehrere tiefe Zerwürfnisse mit Freunden und Kolleginnen zur Folge.
Godards Klassiker zeichnen sich vor allem dadurch aus, das Publikum anstacheln oder emotional aufwiegeln zu wollen. Als Godard ideologisch gefestigter wurde, verflüchtigte sich diese Tendenz. Radikale Politik war für ihn zunächst nur eine provokative Pose – bis er bemerkte, dass sie ihn tatsächlich überzeugte.
Godard, der 1951 begann, als Filmkritiker zu arbeiten, ist vielen für seine Beiträge in der einflussreichen französischen Filmzeitschrift Cahiers du Cinéma in Erinnerung geblieben. Hier traf er auf zwei Gleichgesinnte, die später auch Filmemacher werden sollten: Jacques Rivette, ein Vorläufer David Lynchs, und François Truffaut. Sie alle waren Teil einer Bewegung der französischen Filmkritik, die sich nicht nur dem typischen Prestigefilm, sondern auch dem europäischen und amerikanischen Genrefilm, insbesondere dem Film noir, dem Western und dem Krimi zuwandte. Godard bewunderte Regisseure wie Howard Hawks, Otto Preminger, Fritz Lang und Jean-Pierre Melville (in Godards Debütfilm Außer Atem sollte letzterer in einem denkwürdigen Cameo-Auftritt erscheinen). Offen »künstlerische« Filme, die seiner Meinung nach nicht massentauglich genug waren, verachtete er. Die Filmemacher, die ihn nicht interessierten, waren oft genau jene, die André Bazin, der Gründer der Cahiers du Cinéma – und Godards Chef – besonders schätzte.
Godard wollte damit vermutlich die Geschmäcker der Kritiker demokratisieren. Angesichts seines konträren Charakters schwamm er aber wahrscheinlich auch einfach aus Prinzip gegen den Strom.
Godard kehrte der Theorie des Kinos schließlich den Rücken. In den 1950ern drehte er einige Kurzfilme, bevor er 1960 mit Außer Atem seinen ersten Spielfilm vorlegte. Das Timing war perfekt. In dieser Zeit produzierten mehrere junge Filmemacher – darunter einige seiner ehemaligen Kollegen von den Cahiers – eine Reihe von Filmen, die der Bewegung der Nouvelle Vague den Weg bereiteten, und Außer Atem war einer davon.
Der junge Jean-Paul Belmondo spielt in Außer Atem einen Kriminellen mit einem Faible für Humphrey Bogart. Nachdem er einen Polizisten ermordet, flieht er und verliebt sich in eine amerikanische Studentin, die von Jean Seaberg gespielt wird. Dem Film gelingt es, zugleich spielerisch, melodramatisch und ein wenig selbstreflexiv zu sein, und dabei über die gesamte Handlung das Gefühl einer heraufziehenden Katastrophe zu erzeugen, wie man es von griechischen Tragödien kennt.
Der Film vermischt Hoch- und Popkultur. Anspielungen auf amerikanische B-Movies finden sich genau so wie Referenzen auf die Literatur von William Faulkner, Rainer Maria Rilke, um nur einige zu nennen. Impressionistische Kunst und klassische Musik verleihen dem Film die nötige Schwere. Außer Atem beginnt bemerkenswerterweise mit einer Widmung an die Monogram Pictures – dem berüchtigten Poverty-Row-Studio in Hollywood, das viele der billigen Film-noir-Krimis produzierte, die Godard so liebte –, bevor er direkt zu einer Aufnahme des Protagonisten schneidet. Der liest eine Zeitung und verkündet: »Im Grunde bin ich ein Arschloch.«
Godards Schnitttechnik, bei der träge, lange Einstellungen von Jump Cuts durchbrochen werden, war damals bahnbrechend und gibt Außer Atem eine gewisse draufgängerische Energie. Der Einsatz von Handkameras war ein weiteres zentrales Stilmittel, da sie es erlaubten, untypische Perspektiven einzunehmen und dem Film einen dokumentarischen, beinahe guerilla-artigen Charme verleihen.
Godard brach aber auch mit anderen Konventionen des visuellen Erzählens. So verzichtete er etwa auf Blickwechsel zwischen den Charakteren, sodass es schwerfällt, sich Figuren, die miteinander agieren, am selben Ort vorzustellen. Diese und weitere Filmtechniken, ohne die die Sprache des zeitgenössischen Films heute nicht vorstellbar wäre, verfeinerte Godard im Laufe seiner Karriere. Von Godard geprägte Regisseure wie Martin Scorsese sollten diese Techniken schließlich in den Mainstream überführen, auf das damalige Publikum müssen sie jedoch äußerst verwirrend und frustrierend gewirkt haben.
Unter Kritikerinnen und Kritikern war Außer Atem ein schlagartiger Erfolg und wurde mit dem renommierten Jean-Vigo-Preis ausgezeichnet. Godard avancierte daraufhin zu einem der wichtigsten Filmemacher seiner Zeit. Seine darauffolgenden Filme thematisierten Geschlechterverhältnisse (Eine Frau ist eine Frau, 1961), das Leben von Prostituierten (Die Geschichte der Nana S., 1962), den französischen Kolonialismus in Algerien (Der kleine Soldat, 1963) und die Absurdität des Kriegs (Die Karabinieri, 1963). In diesen Filmen zeigt sich Godards aufkeimender politischer Radikalismus, besonders in der Der kleine Soldat, der die französische Oberschicht dafür angeprangert, den Kolonialismus in Nordafrika ermöglicht zu haben. Man erkennt Godards Interesse an der Menschheit und der Not der Unterdrückten, dennoch bewahrt er sich zu diesem Zeitpunkt noch eine gewisse Zurückhaltung, um in keine politische Schublade gesteckt zu werden.
Mit Die Verachtung (1963), in dem Brigitte Bardot, Jack Palance, Michel Piccoli und Godards Held Fritz Lang (als er selbst) mitspielten, versuchte sich Godard an einem aufwendig produzierten Melodrama. Danach drehte er mit Die Außenseiterbande (1964), Lemmy Caution gegen Alpha 60 (1965) und Elf Uhr nachts (1965) drei Genrefilme, die für seinen Stil der folgenden Jahre tonangebend sein sollten. Seinen elliptischen und oft unbeständigen Erzählstil perfektionierte Godard in diese Filmen. Obwohl deren Geschichten auf altbewährte Stereotype des Genrefilms aufbauen, werden die Bezugspunkte des Plots zunehmend verworrener, da das Unwahrscheinliche eintritt und die Handlung eher der inneren Logik des Films als der erzählerischen Kohärenz folgt. Auch wenn sich Godards Filme schon immer narrativer Erwartungen widersetzten, fand diese Tendenz in den späten 1960er Jahren ihren Höhepunkt.
Elf Uhr nachts ist auch deswegen bemerkenswert, weil sich Godard erneut mit Belmondo zusammenarbeitet und sich nun voll und ganz dem Farbfilm verschreibt (auch wenn Die Verachtung in Farbe gedreht wurde), indem er etwa die zarten Pastellschattierungen der französischen Mittelmeerküste mit grellen Rot- und Blautönen kontrastiert, die sich durch den ganzen Film ziehen. Das Blau setzt Godard als Zeichen für die unentrinnbare bürgerliche Erziehung von Belmondos Figur ein, während das Rot das Verlangen symbolisiert, sich aus ihr zu befreien. Elf Uhr nachts ist ein Film, der sich zwar mit der Idee der »Freiheit« auseinandersetzt, dem aber der Rahmen fehlt, um der Frage nachzugehen, wie diese politisch umzusetzen wäre (auch wenn der Film einige Male beiläufig auf den damaligen Vietnamkrieg anspielt). Und so endet Elf Uhr nachts mit einer weiteren für Godard typischen spielerischen Provokation. Aber das sollte sich schon bald ändern.
Im Jahr 1967 drehte Godard zwei Komödien, mit denen er sich einer entschiedenen marxistischen Kritik zuwandte: Die Chinesin und Weekend. Während sich beide Filme die Verspieltheit des frühen Godard bewahren, treten daneben explizit politische Botschaften.
Die Chinesin handelt von den oft anmaßenden Irrungen und Wirrungen einer Gruppe maoistischer Studierender, die beschließen, dass terroristische Gewalt der einzige Weg ist, um die Welt in ihrem Sinne zu verändern. Weekend wiederum ist ein brutaler Angriff auf den westlichen Materialismus und bürgerliche Wertvorstellungen. Darin versucht ein wohlhabendes Paar, die Eltern der Frau zu ermorden, um das Erbe an sich zu reißen. Doch dieser Wochenendplan wird zunächst durch einen endlosen Verkehrsstau durchkreuzt, der die Dysfunktion der modernen Konsumgesellschaft versinnbildlicht, und anschließend durch linke Paramilitärs. Der Film endet im Kannibalismus, eine Anspielung auf das Rousseaus Motto der französischen Revolution: »Eat the Rich«. Außerdem provozierte der Film, indem er Karl Marx als Jesus Christus ebenbürtig bezeichnete.
In beiden Filmen bediente sich Godard seiner zuvor entwickelten Stilmittel, inklusive der wiederkehrenden Anspielungen auf Hoch- und Popkultur. Doch mit seiner neuen politischen Agenda begann er, seine ohnehin schon revolutionären Ausdrucksformen experimentell weiterzuentwickeln. Seine Filme wurden immer elliptischer, wobei sich Godard langer Kamerafahrten bediente, die er für Weekend entwickelt hatte, und in denen sich die Kamera über eine große Fläche hinweg bewegt und oft einem der Paramilitärs folgt, während dieser einen langen Monolog über die Dysfunktionalität der Konsumgesellschaft hält.
Er begann auch, dokumentarische und narrative Elemente miteinander zu verweben. Diese Technik kommt sowohl bei Eins plus Eins (1968) zum Einsatz – wo politische Dokumentarbilder mit Studiomitschnitten kombiniert werden, die die Rolling Stones bei der Aufnahme ihres Songs »Sympathy for the Devil« zeigen – als auch bei Allen in Butter (1972). Diese Filme sind schwer verdaulich und stellen selbst das ergebenste Publikum auf die Geduldsprobe, da Godards Provokationen hier ihre spielerische Leichtigkeit verloren haben. Es drängte sich der Eindruck auf, dass sie bald ihr natürliches Ende finden würden. Auch Godard selbst hatte schließlich genug davon.
Bis zuletzt ein Vorreiter
Godard, den die Unruhen im Mai 1968 inspirierten und der sich nun nach außen hin offen zum Maoismus bekannte, begann anonym im Kollektiv der Groupe Dziga Vertov zu arbeiten. Er wollte Filme drehen, die seiner eigenen Aussage nach marxistische Propaganda waren. Auch wenn diese Filme gewichtige Themen behandeln, etwa den Vietnamkrieg, die Entkolonialisierung in Mosambik und den Klassenkampf im Allgemeinen, fehlt ihnen die Leichtigkeit von Godards früheren Werken. Im Dienst der politischen Botschaften, die er vermitteln wollte, ließ er seine eigene künstlerische Stimme verstummen.
In den 1980ern drehte Godard vor allem sehr persönliche, wenn auch weniger experimentelle Filme, und widmete sich gegen Ende seiner Karriere universelleren Fragen über den Humanismus und menschliche Konflikte. Sein Film Maria und Joseph (1985) sorgte dennoch für Kontroversen, da er eine moderne Nacherzählung der Jungfrauengeburt enthielt, die von der katholischen Kirche als Blasphemie eingestuft wurde. Notre Musique (2004) war eine betont humanistische Mischung aus Erzählung und Dokumentarfilm. Er befasste sich mit dem Krieg (unter anderem dem Krieg in Sarajevo, dem Israel-Palästina-Konflikt und dem Amerikanischen Bürgerkrieg), der Gewalt sowie ihrer filmischer Darstellung. Dabei spürte er vor allem den menschlichen Folgen dieser Konflikte nach.
Godard hörte nie auf, ein Pionier zu sein. Seinen in den 1960ern entwickelten Stil behielt er bei und experimentierte mit neuen Technologien wie dem Videofilm – und in seinem letzten großen Werk, Adieu au langage (2014), schließlich mit 3D-Kino. Godard, der nie Konventionen befolgte, setzte die 3D-Technik innovativ ein. Zum Beispiel teilt sich in dem Film eine einzige lange Einstellung in zwei Aufnahmen, die gleichzeitig jeweils mit dem linken und dem rechten Auge betrachtet werden können.
Seine politischen Überzeugungen hat er nie abgelegt, wie der Titel seines 2010 entstandenen Werks, Film Socialisme, bezeugt. Der dritte Akt dieses Films zeigt eine Reihe bedeutender historischer Stätten menschlicher Zivilisation und erkundet das Thema kollektiver Menschlichkeit – eine überraschende Wende für einen Provokateur erster Güte, der fünfzig Jahre vorher Außer Atem gedreht hatte.
Godard hat sie am Ende alle überdauert: seine alten Weggefährten von den Cahiers du Cinéma, seinen Kollegen und Sparringspartner Truffaut, seine ehemalige Geliebte und häufige Hauptdarstellerin Anna Karina, seinen wiederkehrenden Hauptdarsteller Belmondo, seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter der Nouvelle Vague Jacques Rivette, Alain Resnais, Claude Chabrol, Agnès Varda, Éric Rohmer, Louis Malle und Jacques Demy. Und er erlebte noch, wie viele seiner einst radikalen Ansätze vom Mainstream übernommen wurden.
Das moderne Kino ist ohne Godard unvorstellbar, und so wirkt sein Tod wie das Ende einer Ära. Godard war der letzte Radikale, der in einer Zeit arbeitete, in dem man mit dem Medium Film noch wirklich schockieren konnte. Er war ein Künstler, der seine moralischen und politischen Ansichten kompromisslos vertrat und nach ihnen lebte. Heute, wo Filmemacherinnen und Filmemacher immer häufiger gezwungen sind, sich den Vorstellungen ihrer Geldgeber zu fügen, damit ihre Arbeit ein großes Publikum erreicht, fühlt sich Godards Ansatz ein wenig verschroben an – aber auch zutiefst ehrwürdig.