26. September 2023
Nachdem die Revolution in Deutschland fehlschlug, hätte es ehrliche Aufarbeitung gebraucht. Stattdessen begab sich die kommunistische Führung auf die Suche nach Sündenböcken.
»Deutschlandweit entstanden informelle Kontrollausschüsse, in denen viele Frauen aktiv waren, die Preiswucher offenlegten und Mieterhöhungen bekämpften.«
Collage: Zane ZlemešaVor hundert Jahren versandete der »Deutsche Oktober«. Fast ein Jahr lang rebellierte die Arbeiterklasse gegen Hyperinflation und Ruhrbesetzung und trotzte dabei Polizeirepression und Angriffen faschistischer Freikorps. Kommunistische Beschäftigte und Aktive waren dabei meist der treibende Faktor. Die Zentrale der Kommunistischen Partei (KPD) entwarf nach dem Vorbild der russischen Oktoberrevolution einen Aufstandsplan – und kassierte ihn dann recht sang- und klanglos doch wieder ein. Am Ende stand, aus einer komplexen Gemengelage heraus, eine kampflose Niederlage.
Das wiederum hätte einer ehrlichen Auseinandersetzung bedurft. Doch in der KPD und der Kommunistischen Internationale (Komintern) wurden die Ereignisse von 1923 unmittelbar instrumentalisiert. Dass die Weltrevolution ausblieb, isolierte die Sowjetunion. Demoralisierung erfasste die kommunistische Bewegung. UdSSR und Komintern drifteten in den Stalinismus ab. In einem zunehmend repressiven System galt es, die jeweiligen Gegenüber in den brutaler werdenden Auseinandersetzungen in Komintern und KPD – recht ruppig im Umgang mit den Fakten – für die Niederlage in Deutschland verantwortlich zu machen.
Eine Geschichtsschreibung von unten, von einem Jahr der Rebellion, ist – auch auf der Linken und gerade in Deutschland – daher kaum präsent.
Aber was ist 1923 überhaupt passiert? Das Jahr begann damit, dass französische und belgische Truppen am 11. Januar das Ruhrgebiet besetzten. Frankreichs Ministerpräsident Raymond Poincaré begründete den Schritt damit, im Versailler Vertrag vereinbarte Reparationen durchsetzen zu wollen. Daraufhin rief Reichskanzler Wilhelm Cuno am 13. Januar zum »passiven Widerstand« in den besetzten Gebieten auf. Revolutionäre und nationalistische Stimmungen brandeten auf. Für kurze Zeit leisteten Arbeiterschaft und deutsches Kapital klassenübergreifenden Widerstand gegen die Besatzer.
Unter dem Einfluss von Wirtschaftskrise und galoppierender Inflation besann sich die Arbeiterbewegung allerdings recht schnell wieder auf Klassenkampf – unter dem Slogan »Schlagt Cuno und Poincaré an der Ruhr und an der Spree!«. Wellen von Streiks und Protesten schwappten über das Land, es folgten Zusammenstöße mit Polizei und Faschisten. Bei Betriebsratswahlen im Frühjahr gewannen revolutionäre Kräfte, unterstützt von der KPD, Mehrheiten in zahlreichen Betriebsräten von Großbetrieben. Deutschlandweit entstanden informelle Kontrollausschüsse, in denen viele Frauen aktiv waren, die Preiswucher offenlegten und Mieterhöhungen bekämpften. Gegen die staatliche Repression und zunehmende faschistische Umtriebe bildeten sich bewaffnete Proletarische Hundertschaften.
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Nelli Tügel lebt in Berlin und arbeitet als Journalistin für verschiedene deutschsprachige Medien. Seit vielen Jahren beschäftigt sie sich mit der Geschichte der Arbeiterbewegung und der Komintern.
Stephan Kimmerle lebt in Seattle und ist Mitglied bei Reform & Revolution, einem marxistischen Zusammenschluss in den Democratic Socialists of America (DSA).