22. September 2022
Die EU rückt ein kleines bisschen vom Dogma der Sparpolitik ab. Um die Energiekrise und die Inflation wirksam zu bekämpfen, reicht das nicht.
Ursula von der Leyen bei ihrer Rede zur Lage der Union, Straßburg, 14. September 2022.
IMAGO / UPI PhotoAngesichts der Energiekrise, die den sozialen Zusammenhalt in allen 27 Mitgliedsländern akut bedroht, bewegt sich die EU langsam und sehr zögerlich aus ihrer politischen Komfortzone. Als EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kürzlich in Straßburg vor dem EU-Parlament ihre jährliche Rede zur Lage der Union hielt, nutzte sie die Gelegenheit, um ein weiteres Maßnahmenbündel gegen die stetig steigenden Lebenshaltungskosten anzukündigen. Die »soziale Marktwirtschaft« sei das Kernprinzip des europäischen Projekts, wie sie betonte.
Von der Leyen, die in den Farben der ukrainischen Flagge gekleidet vor das Parlament trat, betonte, dass die EU entschlossen sei, die Sanktionen, die in Reaktion auf die russische Invasion vor sieben Monaten beschlossenen wurden, aufrechtzuerhalten. Europa »habe einen langen Atem«, so die Kommissionschefin. Währenddessen zerbricht sich die Politik auf dem ganzen Kontinent über zweistellige Inflationsraten und die akute Gefahr einer Rezession den Kopf.
Am 2. September stellte der russische Energiekonzern Gazprom die Lieferung von Erdgas nach Deutschland durch die Pipeline Nord Stream 1 bis auf weiteres ein. Die russischen Gasexporte in die EU belaufen sich seither nur noch auf eine geringe Restmenge, nachdem sie bereits im Sommer auf einen historischen Tiefstand gefallen waren. Russische Offizielle ließen verlauten, die Pipeline werde erst nach einer Aufhebung der EU-Sanktionen wieder befüllt. Doch das EU-Embargo auf russisches Öl tritt überhaupt erst Ende 2022 vollständig in Kraft. Europa bereitet sich auf einen Winter ohne fossile Energieimporte aus Russland vor. Die Verantwortlichen versuchen sich so gut wie möglich dagegen abzusichern, dass Inflationsmüdigkeit zu einem politischen Umschwung führen und die Unterstützung für die Sanktionen wegbrechen könnte.
Von der Leyens wichtigste Vorschläge umfassen eine Abgabe auf die exorbitanten Gewinne von Energieunternehmen, veränderte Regeln für den europäischen Energiemarkt und verpflichtende Vorgaben zum Energiesparen. Mehr Details will die Kommission in den nächsten Wochen vorstellen; vorher steht noch das Treffen der EU-Energieminister am 30. September an.
Wie ursprünglich vor dem Treffen der Ministerinnen und Minister am 9. September angekündigt wurde, möchte die EU Höchstpreise für Energieimporte vereinbaren. Anfangs war dies lediglich für die verbliebenen russischen Importe angedacht, doch nun wurden die Pläne auf den gesamten Handel ausgeweitet, da man sich derzeit bemüht, russische Lieferausfälle durch neue Einkäufe aus Nordamerika, Algerien und Norwegen auszugleichen.
Das sogenannte Merit-Order-Prinzip, das dafür sorgt, dass sich die Strompreise an den Produktionskosten des jeweils aktuell teuersten Kraftwerks im Netz richten, verzerrt derzeit die Kosten auf dem europäischen Energiemarkt. Das liegt auch daran, dass die russischen Gaslieferungen stark zurückgegangen sind – letztes Jahr wurden noch 40 Prozent des europäischen Gasbedarfs aus Russland importiert, dieses Jahr sind es laut der EU-Kommission nur noch 9 Prozent. Durch die angespannte Versorgungslage erhöhen sich also nicht nur die Produktionskosten für Gaskraftwerke, sondern die Strompreise insgesamt – jedenfalls für Endverbraucher. Die Margen von Stromproduzenten, die nicht auf fossile Energieträger zurückgreifen müssen, sind infolgedessen stark gestiegen. Von der Leyen möchte deshalb »die Dominanz des Gaspreises über den Strompreis aufheben«, und gab zu, dass »das gegenwärtige Marktdesign […] nicht mehr den Interessen der Konsumentinnen und Konsumenten dient.«
Die Kommissionspräsidentin achtete zwar peinlich genau darauf, den Begriff »Übergewinn« nicht in den Mund zu nehmen, de facto zielen diese Maßnahmen jedoch darauf ab, die grotesken Übergewinne von Energiekonzernen abzuschöpfen. Nichtfossile Energieerzeuger, die derzeit im Windschatten ihrer fossilen Konkurrenten hohe Gewinne einfahren, sollen mit einem »Einnahmendeckel« belegt werden. Die Produzenten fossiler Energieträger sollen einen »Krisenbeitrag« zahlen. Dadurch sollen Einnahmen in Höhe von 140 Milliarden Euro generiert werden, mit denen die Folgen der Inflation abgemildert werden sollen.
Wichtige Aspekte der angekündigten Maßnahmen bleiben jedoch ungeklärt. Die Details werden wohl erst in den Verhandlungen zwischen den Mitgliedstaaten ausgearbeitet werden, die allerdings mitunter sehr unterschiedliche Vorstellungen haben. Trotzdem bleibt der EU derzeit offenbar nichts anderes übrig, als linke Vorschläge für den Umgang mit der Energiekrise aufzugreifen: Preisobergrenzen und Nachverhandlungen mit Energielieferanten sowie die gezielte Besteuerung und Umverteilung von Gewinnen gehören schon seit längerem zu den Lösungsansätzen der Linken – und zwar nicht nur als Antwort auf steigende Inflationsraten, sondern als allgemeine Instrumente der Wirtschaftspolitik.
»Die EU-Kommission kann die Notlage nicht mehr länger ignorieren«, meint Manon Aubry, Vorsitzende der Linksfraktion im Europaparlament. Die Pläne der Kommission seien laut Aubry ein Beleg dafür, dass die Linke im »Kulturkampf« um die Grenzen und Befugnisse der EU-Politik Fortschritte mache. »Aber die grundsätzlichen Änderungen des EU-Regelwerks, die vor allem im Energiesektor unbedingt notwendig sind, sind nicht in Sicht«, wie Aubry gegenüber JACOBIN betont.
Von der Leyens Rede lieferte weitere Indizien dafür, dass die wirtschaftspolitische Orthodoxie der EU in ihren Grundfesten erschüttert ist: Die Präsidentin forderte eine Lockerung der strikten Regeln zur Neuverschuldung, die die wirtschaftliche Erholung des Kontinents von der Finanzkrise von 2008 torpedierten. Zwar bekennen sich europäische Politikerinnen und Politiker weiterhin dazu, die Regeln in Zukunft wieder einhalten zu wollen, doch in der Praxis werden sie seit Beginn der Coronapandemie 2020 weitgehend ignoriert. Von der Leyen, die ihr Amt im November 2019 antrat, handelte im Juli 2020 einen Kompromiss aus, der ein Hilfsprogramm im Umfang von 750 Milliarden Euro und eine gemeinsame Schuldenaufnahme vorsah – ein weiterer Schritt in Richtung einer integrierten Wirtschaftspolitik.
»Seit dem Beginn von von der Leyens Amtszeit kommen [die europäischen Planerinnen und Planer] mit jeder neuen Krise immer wieder zu dem Schluss, dass marktbasierte Lösungen nicht mehr funktionieren. Während der Coronakrise hat sich gezeigt, dass die Haushaltsregeln und -prüfungen im Rahmen des Europäischen Semesters, die Austeritätspolitik zur Folge hatten, nicht ideal dazu geeignet waren, öffentliche Krankenhäuser auf diesen beispiellosen Notstand vorzubereiten oder auch, dass Freihandelsabkommen nicht wirklich dazu beitragen, die europäischen Produktionskapazitäten zu schützen«, so Aubry.
In der Energiekrise muss die EU-Kommission nun erneut zurückrudern. Aubry fährt fort: »Langsam stellt sich die Erkenntnis ein, dass die Regeln am Energiemarkt die Menschen nicht davor bewahren werden, ein Vermögen aufwenden zu müssen, um ihre Rechnungen zahlen zu können.«
Angesichts der massiven Verwerfungen, die die inflationäre Krise hervorruft, wirken die neu angekündigten Gegenmaßnahmen der Kommission sehr zurückhaltend. Denn außer den Energiefirmen, für die neue Abgaben geplant sind, erleben gerade viele weitere Branchen sprunghafte Gewinnsteigerungen. Die Inflation ermöglicht Transport- und Logistikfirmen sowie auch Finanzdienstleistern satte Profite. Bislang ist nicht vorgesehen, diese Unternehmen ebenfalls mit »Krisenbeiträgen« zu belasten oder ihnen Einnahmenobergrenzen aufzuerlegen.
Selbst die geplante Abgabe auf Übergewinne im Stromsektor greift erst ab Preisen von 200 Euro pro Megawattstunde – das Preisniveau vor der Krise war um einiges niedriger. »Dies überlässt den Energieunternehmen weiterhin eine sehr satte Marge«, warnt Aubry. Die Einnahmen, die durch die Abgabe zur Verfügung gestellt werden, sind zwar für Unterstützungsmaßnahmen vorgesehen, könnten aber auch dazu führen, dass das extrem hohe Preisniveau festgeschrieben wird. Der »Krisenbeitrag«, den die Öl- und Gasindustrie zu leisten hat, könnte ebenfalls auf 33 Prozent der im Jahr 2022 über das Vorjahresniveau hinaus anfallenden Übergewinne beschränkt bleiben.
Obwohl die EU mit diesen Vorschlägen kleine Schritte in die richtige Richtung geht, so bleiben die geplanten Maßnahmen doch weit hinter einer umfassenden Demokratisierung der Energieinfrastruktur zurück – und die ist notwendig, um Bürgerinnen und Haushalte finanziell zu entlasten und einen schnellen Umstieg auf erneuerbare Energiequellen zu vollziehen, wie linke Politiker dargelegt haben. »Energieversorgung ist eine Basisdienstleistung, die jeder Einwohnerin der Europäischen Union zu bezahlbaren Preisen zugesichert werden sollte«, so Aubry.
Das Maßnahmenpaket der Kommission soll den europäischen Haushalten einerseits schnell helfen, unterstützt jedoch gleichzeitig die krisengeplagte Energiewirtschaft, die unter zunehmendem öffentlichen Druck steht, meint der EU-Abgeordnete und Ko-Parteivorsitzende der Linkspartei Martin Schirdewan.
»Die Pläne zielen ganz klar darauf ab, einen marktbasierten Energiesektor in Privateigentum zu erhalten und die Dividenden der Aktionäre zu sichern«, so Schirdewan gegenüber JACOBIN. »Wenn wir über eine Restrukturierung des Energiemarkts sprechen, dann muss es dabei auch um demokratische Kontrolle und die Überführung in öffentliches Eigentum gehen. Der Energiesektor muss regionalisiert werden und auf Erneuerbare setzen.«
Trotzdem zeuge die neue Experimentierfreudigkeit der EU von einem »sprunghaften Anstieg der Legitimation der europäischen Politik«, die sich zuerst während der Coronakrise bemerkbar machte, als »die Menschen die Europäischen Union als entscheidenden Akteur wahrnahmen«.
Die Versuche der EU, die immer gravierendere inflationäre Krise unter Kontrolle zu bekommen, sind letztlich ein Wettlauf gegen die Zeit. Am 25. September finden in Italien vorgezogene Neuwahlen statt, wo die postfaschistische Rechte voraussichtlich die Macht übernehmen wird. In den übrigen Mitgliedstaaten könnten die langsam anwachsenden Protestbewegungen linken Forderungen nach ökologischer Wirtschaftsplanung und aggressiven Maßnahmen gegen die Inflation – wie Preisdeckeln und Umverteilung – neuen Auftrieb verleihen. Aber auch die extreme Rechte, die nach einer Détente mit Russland und Moratorien beim Umstieg auf erneuerbare Energien ruft, könnte profitieren.
Von der Leyens Vorschläge signalisieren ein stillschweigendes Eingeständnis, dass die üblichen Instrumente der EU der gegenwärtigen Lage nicht gewachsen sind. Unklar ist, ob Europas Eliten willens sind, in naher Zukunft neue Wege zu beschreiten. Sollte ein solcher Bruch ausbleiben, so Schirdewan, könnten »die Europäerinnen und Europäer nicht nur das Vertrauen in die Fähigkeit ihrer Regierungen, Krisen zu lösen, verlieren, sondern auch in die Demokratie an sich.«
Harrison Stetler ist ein freier Journalist und Lehrer aus Paris.