20. Juli 2022
Im Gegenzug für den NATO-Beitritt von Schweden und Finnland fordert Recep Tayyip Erdoğan ein hartes Vorgehen gegen Kurdinnen und Kurden. Er beruft sich auf »legitime Sicherheitsbedenken« seines Landes. Doch es ist die Sicherheit der kurdischen Bevölkerung, die tatsächlich bedroht ist.
In Stockholm demonstrierten Kurdinnen und Kurden gegen das trilaterale Memorandum zwischen Finnland, Schweden und der Türkei, 9. Juli 2022.
Die NATO-Mitgliedschaft von Finnland und Schweden rückt immer näher – allerdings nur, weil der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan sein Veto gegen den Beitritt der beiden Länder zum Militärbündnis aufgegeben hat. Das geschah unter bestimmten Bedingungen: Unter Berufung auf »Sicherheitsbedenken« verlangte er von den beiden skandinavischen Ländern, den USA und der NATO eine Reihe von Zugeständnissen. Diese akzeptierte er erst, nachdem er ein Memorandum unterzeichnet hatte, das die Kurdinnen und Kurden erneut zu Opfern machen wird.
Das Memorandum verspricht der Türkei sehr viel – zum Nachteil der Kurdinnen und Kurden. Nach dem NATO-Gipfel in Madrid im vergangenen Juni bezeichnete der ultranationalistische Politiker Devlet Bahçeli – Erdoğans inoffizieller Koalitionspartner – das Memorandum als »strategischen Gewinn für unser Land und gleichzeitig als nationalen Erfolg«. In gewisser Weise hat er Recht: Für den Krieg der Türkei gegen die Kurden und für eine Regierung, die solche »Erfolge« braucht, um ihre Herrschaft im Inland zu stützen, ist das tatsächlich ein Durchbruch.
Ich bin der europäische Vertreter der Demokratischen Partei der Völker (Halkların Demokratik Partisi, HDP), der zweitgrößten Oppositionskraft und der größten linken Partei in der Türkei. Ich habe die traurige Erfahrung gemacht, dass über die Kurdinnen und Kurden gesprochen wird anstatt mit ihnen. Wieder einmal hört der Westen nicht auf die Kurdinnen und Kurden, sondern beugt sich der Erpressung durch Erdoğan.
Demokratie, Frauenemanzipation, Ökologie, Teilhabe und Freiheit sind universelle Werte, für die sich die kurdische Freiheitsbewegung seit Jahren politisch einsetzt. Sie strebt eine demokratische Alternative zu den autoritären Regimen im Nahen Osten an. Die westlichen Regierungen berufen sich auf viele dieser Werte, wenn sie die Ukraine gegen die russische Invasion unterstützen. Doch wenn es um die Kurdinnen und Kurden geht, ist der Westen durchaus bereit, diese Werte über Bord zu werfen und die kurdische Bevölkerung den Wölfen zum Fraß vorzuwerfen.
Es scheint, als habe der Westen praktisch allen Forderungen Erdoğans nachgegeben. Die USA werden der Türkei wieder F-16-Kampfflugzeuge verkaufen, der vollständige Waffenhandel mit Finnland und Schweden wird wieder aufgenommen, kurdische Exilanten und politische Persönlichkeiten werden ausgeliefert. Eine davon ist die iranisch-kurdische Abgeordnete, Amineh Kakabaveh, die im schwedischen Parlament ist und keinerlei Verbindungen zur Türkei hat. Auch die begrenzte Unterstützung eines politischen Dialogs mit kurdischen Vertreterinnen und Vertretern sowie der Autonomen Administration Nord- und Ostsyriens (Autonomous Administration of North and East Syria, AANES) wird beendet.
Noch schwerer wiegt jedoch, dass neue türkische Militärangriffe gegen die AANES mit einem neuen Versuch, dieses Gebiet zu besetzen, nun unmittelbar bevorstehen. Die Regionen Manbidsch und Tel Rifat sind nach den jüngsten Äußerungen von Erdoğan im Fadenkreuz. Im Namen der Welt führte die AANES vor Ort den Kampf gegen den IS an und verlor als offizielle Partnerin der internationalen Koalition zur Bekämpfung des IS mehr als 11.000 ihrer Töchter und Söhne. Das darf nicht vergessen werden. Tatsächlich wurden diese beiden Regionen befreit, als sich das föderale politische Projekt in Nordsyrien ausgehend von der kurdischen Region Rojava ausbreitete. Millionen von Araberinnen und Arabern, Kurdinnen und Kurden, Christinnen und Christen, Turkmeninnen und Turkmenen, Tscherkessinnen und Tscherkessen sowie Jesidinnen und Jesiden wurden so Teil eines direktdemokratischen, dezentralen Systems. Dennoch gaben sowohl Russland als auch die USA (unter der Regierung von Donald Trump) grünes Licht für Erdoğans verheerende Invasionen in der Region in den Jahren 2018 und 2019. Tausende wurden getötet und Hunderttausende von Zivilisten vertrieben.
Dasselbe Europäische Parlament, das kürzlich die »legitimen Sicherheitsbedenken« der Türkei gegenüber der kurdischen Bewegung anerkannte, forderte die Türkei noch letztes Jahr dazu auf, ihre Truppen aus Nordsyrien abzuziehen – ein Gebiet, das die Türkei »außerhalb eines UN-Mandats illegal besetzt hält«. Die Vereinten Nationen stellten fest, dass die türkische Besetzung der Region Afrin unter anderem zu Massenvergewaltigungen und Entführungen von kurdischen und jesidischen Frauen, Zwangsvertreibungen bestimmter ethnischer Gruppen, Folter in Anwesenheit türkischer Offiziere und der Zerstörung historischer, religiöser und kultureller Stätten geführt hat.
Aber auch innerhalb der Türkei ist der türkische Staat repressiv gegen unser Volk vorgegangen: Tausende entvölkerte kurdische Dörfer und ungeklärte Morde, Zehntausende von politischen Gefangenen und Verbote politischer Parteien, Organisationen und Vereinigungen zeugen davon. Tausende von HDP-Mitgliedern, darunter ehemalige Vorsitzende, Abgeordnete, Führungskräfte sowie Bürgermeisterinnen und Bürgermeister wurden seit den Parlamentswahlen im Juni 2015 verhaftet. Zwölf ehemalige HDP-Abgeordnete sind im Gefängnis und viele weitere im Exil, während 59 von 65 demokratisch gewählten HDP-Bürgermeisterinnen und -Bürgermeistern ihres Amtes enthoben wurden.
Darüber hinaus läuft derzeit ein Verfahren vor dem Verfassungsgericht, das ein Verbot der HDP zum Ziel hat. Es besteht die große Gefahr, dass die Regierung die Justiz, die vollständig unter ihrer Kontrolle steht, dazu einsetzen wird, um die HDP noch vor den für Juni 2023 angesetzten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen zu verbieten.
Die antikurdische Politik der Türkei ist in der Lage, dem demokratischen Kampf der Kurdinnen und Kurden den Boden zu entziehen, da es keine offizielle Organisation gibt, die die kurdischen Interessen und Rechte international vertritt. Das kurdische Volk wird von den Kolonialstaaten manipuliert und ausgenutzt. Es sind diese kolonialen Akteure, die den kurdischen Widerstand gegen Ausbeutung, Unterdrückung und ethnische Säuberung als »Sicherheitsbedrohung« darstellen. Dabei gefährdet genau das die Sicherheit von über 40 Millionen Kurdinnen und Kurden.
Wenn man den Kurden heute etwas vorwerfen kann, dann dass sie in der Vergangenheit nicht genug Widerstand geleistet und den Kolonialismus nicht besiegt haben. Das bedeutet nicht, dass wir unseren eigenen Nationalstaat aufbauen wollen. Die kurdische Freiheitsbewegung will vielmehr für Freiheit und demokratische Rechte mit autonomen Selbstverwaltungsstrukturen in ihren jeweiligen Staaten kämpfen – und sie hat auch ein Recht darauf, genau das zu tun. Denn alle Staaten, in denen Millionen Kurdinnen und Kurden leben – Türkei, Syrien, Irak und Iran – bedürfen dringend einer Demokratisierung. Die Kurden und ihr Kampf sind der Schlüssel zu dauerhaftem Frieden und Stabilität in diesen Staaten und im gesamten Nahen Osten. Die einzige Lösung liegt im Dialog mit der kurdischen Freiheitsbewegung, der Freilassung des inhaftierten kurdischen »Mandela des Nahen Ostens« – Abdullah Öcalan – und der Wiederaufnahme der Friedensgespräche, wie sie 2013–2015 stattgefunden haben.
Bevor ein solcher Prozess angestoßen werden kann, muss eine Flugverbotszone über der AANES eingerichtet werden, die völlig zu Recht gefordert wird. Verschiedene internationale Gremien können ihr politisches Gewicht nutzen, um weitere Angriffe der Türkei auf die Kurdinnen und Kurden im In- und Ausland zu verhindern. Generell sollten sie aufhören, allen Forderungen Erdoğans nachzugeben, in dem trügerischen Glauben, dass er eines Tages besänftigt sein wird. Das ist naiv und kurzsichtig.
In Wirklichkeit gründet Erdoğans antikurdische und ultranationalistische Politik auf demselben antikurdischen Hass, der im Laufe der Geschichte zu Völkermorden und Pogromen geführt hat (etwa den Völkermorden an den Armenierinnen und Armeniern sowie den Assyrerinnen und Assyrern). Diesen Hass macht er sich zunutze, um seine Umfragewerte in der Türkei zu verbessern.
Sein Gerede von »Sicherheitsbedenken« ist nur eine Ablenkung. Wie aus Recherchen des BBC hervorging, hat die türkische Regierung die praktisch nicht existente Bedrohung, die die AANES für die türkischen Grenzen darstellt, extrem dramatisiert. 2018 behauptete Erdoğans Regierung etwa, es habe »über siebenhundert« Angriffe aus der Region gegeben. In ihren Erklärungen sagten die Vertreterinnen und Vertreter der AANES jedoch, dass sich keiner der Angriffe aus ihrer Region gegen die Türkei richtete, und riefen zum Dialog und einer demokratischen Lösung auf. Keine der Regionen, die die Türkei angreifen will, liegt überhaupt an der türkischen Grenze. Autokraten und Unterdrücker können keine legitimen »Sicherheitsbedenken« haben. Im Gegenteil: Die Unterdrückten haben Sicherheitsbedenken, und sie sollten von allen anderen moralisch, politisch und rechtlich unterstützt werden.
Die Kurdinnen und Kurden gehören keinem Gremium an, das darüber entscheiden kann, ob die NATO erweitert, verkleinert oder aufgelöst werden soll. Aber sie haben das Recht, ein klares Bekenntnis zu Völkerrecht, Demokratie und Freiheit einzufordern, das auch für die Kurdinnen und Kurden gelten sollte. Hannah Arendt sagte, dass niemand das Recht hat, zu gehorchen. Die Kurdinnen und Kurden sowie die anderen verschiedenen Völker, die die HDP vertritt, gehorchen Erdoğan und seinem autoritären Regime nicht. Und andere sollten das auch nicht tun. Nicht Erdoğan, sondern unsere universellen Werte sollten die Zukunft bestimmen.
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Devriş Çimen ist Europavertreter der Demokratischen Partei der Völker (HDP).
Devriş Çimen ist Repräsentant der Demokratischen Partei der Völker (HDP) in Europa.