17. Juli 2023
Die Menschen haben nicht zu Unrecht das Gefühl, dass sich ihr Leben zunehmend ihrer Kontrolle entzieht. Der Hightech-Kapitalismus ist der Grund dafür – und weiß Profit daraus zu schlagen.
Wer den Algorithmus nicht versteht, kann schnell eine Verschwörung riechen – eine Neigung, die Elon Musk schließlich dazu brachte, Twitter zu einem enorm überhöhten Preis zu kaufen.
IMAGO / NurPhotoAm 27. Januar 1948 stellte IBM den Amerikanerinnen und Amerikanern in einer öffentlichen Inszenierung seinen brandneuen Computer vor, so spektakulär wie damals nur möglich. Hierfür hatte das Unternehmen in der Nähe seiner New Yorker Niederlassung ein ehemaliges Damenschuhgeschäft angemietet. Hinter einem riesigen Glasfenster installierte IBM seinen Selective Sequence Electronic Calculator (SSEC), den ersten Computer, der in der Lage war, seine eigenen gespeicherten Programme zu modifizieren. Der SSEC sollte der letzte große elektromechanische Computer sein, den IBM jemals bauen würde, und die unmittelbar bevorstehende digitale Revolution einläuten.
Wochenlang bestaunten massenweise Menschen im Vorbeigehen den SSEC, der aufgrund seiner knarrenden Geräusche liebevoll »Poppa« genannt wurde. Der SSEC war zweifellos ein faszinierender Anblick – er war riesengroß und unglaublich komplex. Sein Design, inspiriert von der Futurama-Ausstellung der New York World’s Fair im Jahr 1939, umfasste 1.200 Vakuumröhren und 21 elektromechanische Schalter und wirkte dennoch schlank und modern. Am zentralen Steuerpult saß Elizabeth »Betsy« Stewart aus der Wissenschaftsabteilung von IBM, die nicht nur die Berechnungen leitete, sondern auch auf vielen Werbefotos zu sehen war.
Die Öffentlichkeit wusste aber nicht, was die Maschine eigentlich tat. Nachdem sie einige Tage lang öffentlich angekündigt Berechnungen im Auftrag der NASA durchgeführt hatte (wobei die erzeugten Daten jedoch nie genutzt wurden), stellte IBM die Maschine heimlich in den Dienst des Los Alamos National Laboratory – dem Geburtsort der Atombombe. In den darauffolgenden Monaten führte die Maschine rund um die Uhr, sieben Tage die Woche, unter den neugierigen Blicken der vorbeiziehenden Leute, doch zugleich vor der Öffentlichkeit verborgen, Simulationen von Wasserstoffbombenexplosionen durch. Es waren genau diese Berechnungen, die im November 1952 die erste Zündung einer thermonuklearen Bombe durch die USA auf den Marshallinseln ermöglichten.
Unsere Gegenwart weist zahlreiche Analogien zur Geschichte des SSEC auf – dunkle Geheimnisse, die so offen vor unseren Augen liegen, aber dennoch im Verborgenen bleiben. Wir sind ständig von Systemen enormer Komplexität umgeben, die sich mächtig, alles verzehrend und verlockend futuristisch anfühlen. Doch die wahre Funktionsweise dieser Systeme bleibt für uns undurchschaubar. Oftmals ist der zugrundeliegende Quellcode nur wenigen Eingeweihten bekannt und entziehen sich die Operationen unter Vorwänden des Betriebsgeheimnisses oder der nationalen Sicherheit der öffentlichen Rechenschaft.
Es überrascht daher nicht, dass Verschwörungstheorien wieder einmal eine dominante Rolle im Alltagsleben einnehmen. Bereits in den 1960er Jahren prägte der Historiker Richard Hofstadter den Begriff »paranoider Stil«, um eine bestimmte Strömung innerhalb der US-amerikanischen Politik einzufangen.
Vor dem Hintergrund des Aufstiegs der Post-McCarthy-Rechten und der Ängste des Kalten Krieges entsteht das Bild eines unsichtbaren Feindes als »die Verkörperung von Niedertracht, eine Art amoralischer Übermensch – boshaft, allgegenwärtig, machtvoll, sinnlich und luxusliebend«. Das zentrale Kennzeichen dieses Feindes ist seine überwältigende Macht: »Im Gegensatz zu uns anderen ist der Feind nicht in der Mühsal des großen Mechanismus der Geschichte gefangen, kein Opfer seiner Vergangenheit, seiner Wünsche, seiner Grenzen. Er befehligt, ja er fabriziert den Mechanismus der Geschichte, oder er versucht, den normalen Lauf der Geschichte böswillig umzuleiten.«
Dieser Widersacher erhebt sich also über die Komplexitäten und Wirrnisse der Gegenwart, begreift die Situation in ihrer Gesamtheit und manipuliert sie auf eine Weise, wie es dem Rest von uns schlichtweg nicht möglich ist. Zu solchen Verschwörungsfantasien gelangen die Machtlosen, wenn sie sich vorstellen, wie es wohl wäre, in diesem chaotischen Zeitalter tatsächlich Macht und Kontrolle zu haben.
Es ist unschwer zu erkennen, wie sich Hofstadters Figuren der Angst und Niedertracht in der heutigen technologischen Realität wiederfinden. Wir sind uns nur allzu bewusst, dass wir in einem riesigen Mechanismus gefangen sind, der uns mittels der kleinen, quadratischen Bildschirme in unseren Taschen allwissend erscheinen lässt, uns aber gleichzeitig völlig ohnmächtig macht. Wir sind nur allzu empfänglich für die Vorstellung, dass die Mächtigen oder ominösen Anderen irgendetwas im Schilde führen. Irgendjemand muss doch für die Kluft zwischen unseren vermeintlichen Freiheiten und Möglichkeiten und unserer realen Machtlosigkeit, die wir tagtäglich erleben, verantwortlich sein. Der scheinbar grenzenlose Zugang zu Informationen – das zentrale Freiheitsversprechen der Netzwerktechnologie – unterstreicht nur, wie wenig Einfluss wir doch haben.
»Zu wissen, wer dahintersteckt, verleiht uns ein Gefühl von Erhabenheit. In solchen Gewissheiten erlangen wir unsere Handlungsfähigkeit zurück: Wir sind die Auserwählten, sind im Besitz der verborgenen Wahrheit.«
Handlungsfähigkeit beschreibt das Empfinden, das eigene Leben selbstbestimmt führen und die eigenen Umstände aktiv selbst gestalten zu können. Unser Bedürfnis nach Handlungsmacht ist so grundlegend, dass wir, sobald es bedroht scheint, beinahe jedwede Anstrengung zu unternehmen bereit sind, um sie zurückzugewinnen. Dieser psychologische Mechanismus treibt den Teufelskreis der Verschwörungstheorien an. Zum einen stimmen die grandiosen und dennoch einfach gestrickten Erzählungen über verborgene Mächte und Schattenstaaten mit unseren Empfindungen überein – immerhin muss doch irgendjemand für das Chaos, in dem wir stecken, verantwortlich sein. Zu wissen, wer dahintersteckt, verleiht uns zum anderen ein Gefühl von Erhabenheit. In solchen Gewissheiten erlangen wir unsere Handlungsfähigkeit zurück: Wir sind die Auserwählten, sind im Besitz der verborgenen Wahrheit, sind klüger als alle anderen, durchschauen die Lügen und wissen, was tatsächlich vor sich geht.
Das ist der Grund, aus dem das Internet Verschwörungstheorien liebt und derart gut darin ist, sie zu kreieren und zu verbreiten. Die komplexe und undurchsichtige Natur des Internets erzeugt genau die Verwirrung, die unser Gefühl von Handlungsfähigkeit untergräbt. Gleichzeitig sind seine Systeme sozialer Belohnung und Profitmaximierung perfekt aufeinander abgestimmt, sodass aus jedem Versuch, die Kontrolle zurückzugewinnen, letztendlich wieder finanzieller Gewinn geschlagen wird.
Ein Beispiel hierfür ist Youtube – eine nahezu perfekt konstruierte Maschine, um die Suche nach Handlungsfähigkeit in falsche Bahnen zu lenken. Viele sind frustriert von den voreingenommenen und elitären Mainstream-Medien, deren Berichterstattung unserer Realität so offensichtlich nicht gerecht wird. Daher wenden sich Millionen von Menschen alternativen Informationsquellen zu, wie Youtube sie massenweise im Angebot hat.
Die Empfehlungsalgorithmen der Plattform, die den Großteil des Inhalts für die Nutzerinnen und Nutzer auswählen und empfehlen, bieten anfangs eine Vielfalt diverser Standpunkte an, wobei sie neben den üblichen Verdächtigen immer wieder auch ein paar ideologische Ausreißer präsentierten. So ergibt beispielsweise eine einfache Suche nach »Klimawandel« auf Youtube unter den ersten fünf Empfehlungen drei fundierte Videos von BBC, Al Jazeera und Deutsche Welle, daneben einen Vortrag des Klimaleugners Ian Plimer am konservativen Heartland Institute und ein Video mit dem Titel »Jordan Peterson macht Tucker Carlson mit seinen Aussagen zum Klimawandel SPRACHLOS«. In diesem weitschweifigen Monolog schiebt der Psychologe, der als eine Art Selfhelp-Guru berühmt wurde, die Verantwortung für den Welthunger einer woken linken Elite zu.
Was die Algorithmen von Youtube im Laufe der Jahre gelernt haben, ist, dass Menschen es lieben, sich schlau zu fühlen. Wenn Menschen wählen können zwischen dem Gefühl der Angst und Ohnmacht angesichts globaler Veränderungen oder dem Gefühl, exklusiven Zugang zu Wissen zu haben, das anderen verwehrt bleibt, dann werden sich viele für letzteres entscheiden. Genau darauf ist der Algorithmus ausgelegt: Um ihnen ununterbrochen das Gefühl der Besonderheit zu vermitteln, versorgt er sie mit immer merkwürdigeren und extremeren Ideen, und zwar genau in der richtigen Menge, sodass sie das Gefühl bekommen, es bestünde einen Konsens um diese Vorstellungen und sie hätten eine Gemeinschaft gefunden. So stellt der Algorithmus ein Gefühl von Handlungsfähigkeit wieder her, selbst inmitten einer brennenden Welt, wobei Google und die anderen Tech-Giganten daraus beträchtliche Profite ziehen.
Wie sind wir an diesen Punkt gelangt? Macht Google das absichtlich? Offensichtlich ist es Google vollkommen egal, sonst würde das Unternehmen gewiss eine moralische Verantwortung für die Inhalte übernehmen, die es bereitstellt. Die Wahrheit scheint jedoch weitaus banaler und deprimierender zu sein.
»Je mehr Zeit die Menschen damit verbringen, Autounfälle anzuschauen, desto mehr Geld wird durch Werbung eingenommen. Diese kalte Berechnung bildet das Fundament für die Höllenlandschaft der heutigen ›sozialen‹ Medien.«
Die Vorgehensweise der Algorithmen verläuft nach dem »Autounfall«-Modell von Monetarisierung: Der Youtube-Algorithmus handelt im Grunde genommen wie ein Verkehrskoordinator, der den Fahrerinnen und Fahrern die bestmögliche Erfahrung ermöglichen will. Allerdings hat er dabei eine Sache missverstanden – oder vielleicht zu gut verstanden. Der Verkehrskoordinator hat bemerkt, dass die Leute langsamer fahren und aufmerksamer sind, wenn Autounfälle passieren. Anstatt also die Unfälle zu minimieren – die sicherste Option – optimiert er genau diesen Mechanismus, indem er extreme und kontroverse Inhalte fördert. Denn je mehr Zeit die Menschen damit verbringen, Autounfälle anzuschauen, desto mehr Geld wird durch Werbung eingenommen. Diese kalte Berechnung bildet das Fundament für die Höllenlandschaft der heutigen »sozialen« Medien.
Hier begegnen sich Hofstadters »paranoider Stil« und das, was Fredric Jameson in seiner Arbeit über Verschwörungstheorien »die totale Logik des Spätkapitalismus« nennt: die Fähigkeit des Kapitals, Widerstand in weiteren Gewinn zu verwandeln.
In der ersten Phase streben wir danach, einen Sinn und Erklärungen für die vom Kapital und Netzwerktechnologien verwüstete Welt um uns herum zu finden. Wir flüchten uns in vereinfachende Mythen über das Wirken ominöser Kräfte, anstatt die offensichtlicheren, aber zugleich weitaus komplexeren Ursachen direkt vor unseren Augen anzuerkennen. Denn dann müssten wir auch unsere eigene Verwicklung einsehen, was unser Gefühl von Handlungsfähigkeit noch weiter schwächen würde. In der zweiten Phase manipuliert der Kapitalismus geschickt unseren Zorn, unsere Angst und unsere Unsicherheit, um letztendlich immer mehr Profit zu generieren. Dafür konstruiert er eine bedeutende, sogar heroische Erzählung über unsere eigene Machtlosigkeit, und wir landen erneut – nur dieses Mal härter – in der gleichen altbekannten Falle.
Natürlich sind Unternehmen nicht die einzigen, die uns geschickt mit unseren Bedürfnissen nach Handlungsfähigkeit fehlleiten und davon profitieren. Politikerinnen und Politiker haben vielleicht am besten erkannt, dass sie aus zunehmender Unsicherheit mehr Nutzen ziehen können, als wenn sie sich ernsthaft bemühen, dagegen anzugehen. Im Westen neigen wir dazu, eine solche Art von Politik »anderen« zuzuschreiben. So dreht sich die Berichterstattung über »postfaktische« Politik, in der Verschwörungstheorien eine große Rolle spielen, meistens um Russland.
Nach den pro-demokratischen Protesten in Russland im Jahr 2011, die weitgehend über das Internet organisiert wurden, verstärkten die Verbündeten von Wladimir Putin ihre Online-Aktivitäten und setzten Armeen von regierungstreuen Trollen in sozialen Medien ein. Die Trollfabriken gaben sich alle Mühe, Putins Partei in Russland zu unterstützen und Gegnerinnen und Gegner in Ländern wie der Ukraine zu diffamieren. Doch sie mussten schnell einsehen, dass unabhängig davon, wie viele Beiträge und Kommentare sie produzierten, es kaum möglich war, die Menschen zu überzeugen und ihre Meinungen zu einem bestimmten Thema zu ändern. Daher gingen sie zur nächstbesten Taktik über: Verwirrung stiften.
Während des US-Wahlkampfs 2016 veröffentlichten dieselben russischen Quellen Unmengen an Content, die von Kritik bis Unterstützungen reichten und sich über alle Parteien erstreckten – von Hillary Clinton und Bernie Sanders über Ted Cruz bis hin zu Donald Trump. Ebenso beteiligten sich russische Sicherheitsbehörden offenbar an Leaks zu Ungunsten aller politischen Lager. Die Folge war, dass sich die politischen Debatten im Internet und auch darüber hinaus verschärften und stärker polarisierten. Wie ein russischer Aktivist es auf den Punkt brachte: »Das Ziel ist, es zu verderben, eine Atmosphäre des Hasses zu schaffen. Es soll so stinken, sodass normale Menschen nichts damit zu tun haben wollen.«
Russland übertrug diese Taktiken erfolgreich auf die Realpolitik. Ein Beispiel dafür ist die Besetzung der Krim durch die sogenannten »grünen Männchen« im Jahr 2014 und die Übernahme der Macht in der Ostukraine durch »separatistische Milizen«. Dabei spielte es keine Rolle, dass alle wussten, dass es sich um russische Streitkräfte handelte. Russland brach die Spielregeln, bei denen die Handlungen der Regierungen mit ihren Worten übereinstimmen sollten. Das, was auf der Ebene des Diskurses erreicht wurde, sollte nun auf dem Schlachtfeld umgesetzt werden. Interessanterweise waren die Akteure tatsächlich dieselben: der Chef der Söldnergruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, wurde ebenso als der Gründer der Internet Research Agency entlarvt.
»Gemäß der Rove’schen Weltanschauung besteht wenig Unterschied zwischen dem paranoidesten Verschwörungstheoretiker und der eifrigsten Wahrheitssucherin, die an empirischen Beweisen festhält.«
Natürlich war die russische Regierung nicht die einzige, die diese Strategie anwandte. Vor fast zwanzig Jahren spottete ein hochrangiger Berater von George W. Bush, von dem allgemein angenommen wird, dass es Karl Rove war, über die sogenannte »realitätsbasierte Gemeinschaft« – Journalistinnen, Kommentatoren und die Öffentlichkeit im Allgemeinen –, die »glaubt, dass Lösungen durch eine gründliche Untersuchung der wahrnehmbaren Realität entstehen«. Eine Vorstellung, die der Berater belächelt:
»So funktioniert die Welt heute nicht mehr wirklich. […] Wir sind jetzt ein Imperium, wenn wir handeln, erschaffen wir unsere eigene Realität. Und während Sie diese Realität gründlich studieren – wie Sie es mit viel Bedacht tun werden – werden wir erneut handeln und andere neue Realitäten schaffen, die Sie ebenfalls studieren können, und so nehmen die Dinge ihren Lauf. Wir sind die Akteure der Geschichte […] und Sie werden lediglich studieren, was wir tun.«
Diese Aussage, von wem auch immer sie stammen mag, ist zu einem Klischee der »postfaktischen« Welt geworden. Doch sie zeigt weitaus mehr als die Verachtung einer Elite für diejenigen, die immer noch daran glauben, dass die Herstellung einer unumstrittenen Faktengrundlage die Meinungen und Ergebnisse verändern kann.
Gemäß der Rove’schen Weltanschauung besteht wenig Unterschied zwischen dem paranoidesten Verschwörungstheoretiker und der eifrigsten Wahrheitssucherin, die an empirischen Beweisen festhält. Beide glauben an einen unanfechtbaren Kern der Realität, dessen Enthüllung uns erlösen soll. Politikerinnen und Politiker können jedoch beide gleichermaßen leicht ablenken und beeinflussen, indem sie rhetorische Positionen nach Belieben ändern, je nachdem, wie sie handeln möchten, und dabei Empörung und Verwirrung für ihren eigenen Vorteil nutzen. Hier spiegelt die Politik den Kapitalismus wider, in dem alle Bedürfnisse und Wünsche, unabhängig von ihrer Intention oder ihrem Ursprung, für den Profit ausgenutzt werden können.
Lange Zeit habe ich neben anderen Tätigkeiten politisch engagierte Kunst gemacht und mich intensiv mit den Kontroversen unserer Gegenwart auseinandergesetzt. Dazu gehörten Themen wie Massenüberwachung, autonome Waffensysteme, nationale Identität, Grenzen und Migration sowie der Einfluss von Tech-Unternehmen auf den Alltag. Meine Arbeit wird oft mit der Kurzformel »das Unsichtbare sichtbar machen« beschrieben, da sie versucht, mit Hilfe von Techniken wie Kartographie, Open Source Intelligence, Dokumentation und Visualisierung die unsichtbare Macht innerhalb technologischer Netzwerke aufzudecken. Kurzum lässt sich sagen, dass ich lange Zeit einer praktischen Realitätssuche nachging, die sich gegen Verschleierung und konspiratives Denken zur Wehr setzte, indem sie immer wieder grundlegende Wahrheiten enthüllte.
Vor einiger Zeit wurde mir klar, dass Enthüllungen allein keine Verschiebung der Macht bewirken – im Gegenteil, sie stärken das Machtgefälle sogar. Diese Erkenntnis gewann ich vor zwanzig Jahren, als die Proteste gegen den Irakkrieg scheiterten, obwohl allgemein bekannt war, dass die Begründung für die Invasion auf Lügen basierte. Ein Jahrzehnt später wurde mir dies anhand der Leaks von Edward Snowden erneuert bewusst. Die Veröffentlichung einer Vielzahl zuvor geheimer Informationen – dem Stoff, aus dem Verschwörungstheorien gemacht sind – führte nicht zur Absetzung des weitreichendsten Regierungsüberwachungssystems in der Geschichte, sondern stärkte es nachhaltig. Zahlreiche moralisch und rechtlich bedenkliche Praktiken wurden anschließend gesetzlich legitimiert statt aufgehoben.
Auch in meiner künstlerischen Praxis erlangte ich diese Erkenntnis, als meine Kunstwerke, die erschrecken, schockieren und zum Handeln anregen sollten, stattdessen bestehende Vorbehalte bestätigten, nichts als starre Blicke ernteten oder einfach in den Hintergrundgeräuschen des bereits ausreichend furchterregenden Alltags aufgingen. Es stellt sich heraus: Niemand braucht es, gesagt zu bekommen, was gerade vor sich geht. Um es mit den Worten des schwedischen Schriftstellers Sven Lindqvist auszudrücken: »Du weißt bereits genug. Das tue ich auch. Es fehlt uns nicht an Wissen. Was uns fehlt, ist der Mut zu verstehen, was wir wissen, und daraus Konsequenzen zu ziehen.«
Dafür müssen wir zunächst einmal anerkennen, dass Praktiken der Realitätssuche keineswegs neutral sind. Ein Fehler sowohl der Kunst als auch des Journalismus besteht darin, sich nicht eingestehen zu wollen, dass man Feinde hat. Zum Beispiel Versuche, das Bewusstsein für den Klimawandel zu schärfen, sind zum Scheitern verurteilt, wenn sie nicht explizit die Ölkonzerne benennen, die seit Jahrzehnten die Luft und die Meere vergiften und ihre Verbrechen verschleiern und gleichzeitig Umweltbewegungen infiltrieren, um die Aufmerksamkeit von ihren eigenen Vergehen auf individuelles Handeln zu lenken. Intellektuelle Überlegenheit wird uns in dieser Situation nicht retten.
»Praktische Fähigkeiten darüber, wie man einfache Solarmodule installiert, Energiegenossenschaften gründet oder Permakultur-Gärten kultiviert, haben eine nachhaltigere Wirkung als düstere Berichte über das Schmelzen der Polkappen.«
Im Grunde genommen verschlimmert diese sogenannte Objektivität die Situation nur noch. Wenn wir uns eines Problems bewusst sind, aber weder praktisch noch psychologisch damit umgehen können, zehrt es an uns, führt zu Leid und macht uns anfälliger für Verschwörungstheorien und die Akzeptanz politischer Kontrolle. Als ich mich mit Technologien beschäftigte, wurde mir klar, dass ich den größten Unterschied nicht dadurch machte, dass ich gegen die Übel der Tech-Riesen wetterte, sondern indem ich praktische Fähigkeiten erlernte und weitergab – angefangen von einfachen Codier-Übungen bis hin zu einem Verständnis über Computertechnik und -netzwerke. Allein mit diesem Hintergrundwissen können wir das Ungleichgewicht der Macht, von denen diese Unternehmen leben, benennen und dagegen ankämpfen.
Das Gleiche gilt für den Umweltschutz: Praktische Fähigkeiten darüber, wie man einfache Solarmodule installiert, Energiegenossenschaften gründet oder Permakultur-Gärten kultiviert, haben eine nachhaltigere Wirkung als eine Flut an Emissionsgrafiken oder düsteren Berichten über das Schmelzen der Polkappen. Es geht hier nicht um ein Ungleichgewicht von Bewusstsein für die Situation, in der wir uns befinden, sondern um ein Ungleichgewicht von Macht – und dem Gefühl, Macht innezuhaben. Im Kern geht es darum, die Handlungsfähigkeit zu verbessern und zu stärken.
Handlungsfähigkeit, erinnern wir uns, ist das Gefühl, die Kontrolle über das eigene Leben zu besitzen. Es ist die Handlungsfähigkeit, die unterminiert wird, wenn die Dinge um uns herum zu komplex erscheinen, als dass wir sie begreifen könnten, was durch ihre technologische Spezifizität und globale Dimension noch verstärkt wird. Diese Komplexität macht uns wiederum anfälliger für Verschwörungstheorien und populistische Kulturkriege. Die Lösung ist nicht, andere Realitäten zu behaupten, sondern sie zu schaffen.
Im Jahr 2016 gründete die irische Regierung eine Art Bürgerrat, um einige der verzwicktesten Themen des öffentlichen Lebens anzugehen, vom Klimawandel über parlamentarische Reformen bis hin zur alternden Bevölkerung und nicht zuletzt dem kontroversen Thema der Abtreibung. Das Besondere an diesem Bürgerforum war, dass man sich entschied, seine Mitglieder nicht in einer herkömmlichen Wahl, sondern per Losverfahren auszusuchen. 99 zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger kamen an aufeinanderfolgenden Wochenenden in einem Hotel vor den Toren Dublins zusammen. Dort wurden ihnen Expertenmeinungen präsentiert, angeregte Frage-und-Antwort-Runden abgehalten und intensive Diskussionen geführt.
Abschließend legten sie der Regierung ihre zusammen erarbeiteten Empfehlungen dar. Jede einzelne erwies sich als radikaler und progressiver als alles, wozu die Regierung je bereit gewesen wäre. Diese Empfehlungen umfassten unter anderem, einen Klimanotstand auszurufen und ein Referendum zur Aufhebung des Abtreibungsverbots in Irland einzuleiten.
In Bürgerversammlungen dieser Art wandelt sich nicht nur das Bewusstsein für das diskutierte Thema, sondern auch der Glauben an die eigene Handlungsfähigkeit. Ein solcher Gewinn an Selbstwirksamkeit ermöglicht es uns, Veränderungen nicht nur zu erträumen, sondern sie aktiv herbeizuführen. Wir sind viel zu lange in einem Wirrwarr von Verschwörungen und Gegenverschwörungen verstrickt gewesen und haben den Erzählungen der Macht – Wissen, Zugang und Zivilität – Glauben geschenkt, die ausschließlich denjenigen dienen, die sie für sich beanspruchen. Es ist Zeit, diesen Erzählungen ein Ende zu setzen. Es ist an der Zeit, eine neue Welt zu schaffen.
James Bridle ist Künstler, Computerwissenschaftler und Autor mehrerer Bücher, darunter New Dark Age: Technology and the End of the Future.