13. September 2021
Noch nie war eine Wahl in Deutschland so langweilig und doch so unberechenbar.
Einer der treffendsten Begriffe, den die kritische Soziologie in den letzten Jahren hervorgebracht hat, ist Hartmut Rosas »rasender Stillstand« – ein Zustand, der ihm zufolge unsere »spätmoderne Zeitlichkeit« ausmacht. Seine Definition klingt zwar etwas hochtrabend, ist aber ebenso präzise wie vorausahnend: »Die Dinge ändern sich, aber sie entwickeln sich nicht; es gibt unerschöpfliche Optionenräume, aber, da sie beständig ihre Gestalt verändern, keine langfristigen Strategien, sie kumulativ zu nutzen.« Hatte er etwa den lauwarmen Wahlsommer 2021 im Sinn, als er 2009 diese Zeilen schrieb?
Noch nie war ein Wahlkampf in Deutschland so zum Gähnen langweilig und doch so unberechenbar. Zu Beginn schien eine von den Christdemokraten geführte Regierung mit Unterstützung der Grünen ziemlich wahrscheinlich, für einige sogar sicher. Wenige Wochen vor der angeblich wichtigsten Bundestagswahl seit Jahrzehnten liegen jedoch wieder alle Bündnisoptionen auf dem Tisch – außer, so scheint es, Rot-Rot-Grün, der heilige Gral aller fortschrittlich gesinnten Grünen, Sozialdemokratinnen und Linkspartei-Unterstützer, die die Jagd auf den Roten Oktober aufgegeben haben. Ein solches Mitte-links-Bündnis scheint weder die Führung der Grünen noch das mit Skandalen (Brechmittel, Cum-Ex, Wirecard) reich beschenkte Stehaufmännchen Olaf Scholz ernsthaft in Erwägung zu ziehen – was auch mit den anhaltend schlechten Umfragewerten der Linken zusammenhängt.
Was hat sich also geändert, was führte zu den neuen, elektoralen »Optionenräumen«, wo doch der Wahlkampf selbst so verdammt eintönig vor sich hin plätschert? In der Tat, es brauchte nicht viel: Vielleicht wird am Ende eine verpatzte PR-Aktion des Unions-Kanzlerkandidaten nach einer Jahrhundertflut ausgereicht haben, um die Partei, die die Bundesrepublik sechzehn Jahre lang wie ein gut geöltes mittelständisches Unternehmen geführt hat, auf die Oppositionsbank zu bugsieren. Wo der Wahlkampf von nichts als Phrasen getragen wird, kann schon ein falsches Wort zum Absturz führen.
Unabhängig davon, ob die CDU/CSU das noch rechtzeitig wieder gerade gebogen bekommt, scheint sicher, dass auch die nächste Regierung von Deutschlands bemerkenswert stabilem politischen Zentrum bestimmt sein wird: »Die Dinge ändern sich, aber sie entwickeln sich nicht.« Seit über siebzig Jahren versucht die politische Linke in der Bundesrepublik, dieses Zentrum zu verdrängen – und scheitert daran bisher weitgehend. Erst wenn ihr das gelingt, werden wir den rasenden Stillstand überwinden können. Genau darum geht es in dieser Ausgabe.
Loren Balhorn ist Editor-in-Chief von JACOBIN.