28. Juni 2021
Brasilien steckt in der Krise. Die Corona-Pandemie wütet ungebrochen, der Unmut über die rechtsextreme Bolsonaro-Regierung wächst. Inmitten dieser brenzligen Lage zeigt der Bürgermeister von Belém im Amazonas, wie man den Rechten erfolgreich die Stirn bietet.
Der Bürgermeister von Belém Edmilson Rodrigues bei seiner Amtseinführung am 01. Januar 2021.
Belém, die Hauptstadt des nördlichen Bundesstaates Pará und Tor zum brasilianischen Amazonasgebiet, hat wieder einen linken Bürgermeister. In den Regionalwahlen im November 2020 gewann Edmilson Rodrigues von der Partei Sozialismus und Freiheit (PSOL) mit 51,76 Prozent der gültigen Stimmen. Dieser einzigartige Sieg für die Linke, der nicht von einem Kandidaten der etablierten Partido dos Trabalhadores (PT) angeführt wurde, sondern von der aufsteigenden Partido Socialismo e Liberdade (PSOL), wurde kaum beachtet. Inmitten von Brasiliens schlimmster sozialer Krise seit Jahrzehnten, zeigt sich in Belém eine richtungsweisende Strategie für den sozial-ökologischen Widerstand.
Edmilson Rodrigues ist in Belém breit bekannt. Er ist Architekt, Professor für Humangeographie, langjähriger Abgeordneter für den Bundesstaat Pará und war schon von 1997 bis 2005 Bürgermeister in Belém. Auch hier wurden die Kommunalwahlen letzes Jahr von der Fake-News-Maschine der extremen Rechten dominiert. Der relativ unbekannte Bolsonarista-Kandidat Everaldo Eguchi von der Partei Patriota ging mit einem so guten Ergebnis in die zweite Runde, dass sogar kulturelle Größen wie Chico Buarque oder Caetano Veloso öffentlich für Rodrigues warben.
Der Wahlsieger selbst verwies auf die tiefe soziale Spaltung: »Belém ist eine Hauptstadt des Amazonasgebietes, welches aufgrund von Bränden, Abholzung, Landraub, Völkermord an der indigenen Bevölkerung und Gewalt gegen landlose Landarbeiter im globalen Fokus steht. Unser Gegner ist kein Liberaler. Unser Gegner ist ein Kandidat, der das Denken der extremen Rechten vertritt. Diese Wahl war also ein Sieg über den Faschismus und eine Niederlage für Präsident Bolsonaro, der meinen Gegner unterstützt hat.«
Der Siegesabend, an dem Tausende auf dem Marktplatz im Stadtteil São Brás sangen, tanzten und feierten, zeigt, wie populär Rodrigues’ Kampagne »Belém das Novas Ideias« (»Belém neuer Ideen«) war, die soziale Sicherheit und Einkommen insbesondere für prekäre Bevölkerungsgruppen betonte. Rodrigues’ Berater Luiz Arnaldo Dias Campos nennt drei Aspekte, die für den Erfolg der Kampagne wesentlich waren: die Erinnerung an Rodrigues’ frühere Amtszeit, eine parteiübergreifende Einheit der Linken und die Unfähigkeit der traditionellen rechten Kräfte, sich auf einen Kandidaten zu einigen.
Selbst skeptische Beobachter und Kommentatorinnen drücken ihren Respekt aus, wenn man sie auf Rodrigues’ frühere Amtszeit anspricht. Rodrigues, der damals noch Mitglied der PT war, gelang es, in einer Periode extremer finanzieller Engpässe große Veränderungen zu verwirklichen. In den ärmsten Vierteln der Stadt, die am meisten von Überschwemmungen betroffen sind, startete er in Zusammenarbeit mit dem Bundesstaat und mit finanzieller Unterstützung der Weltbank Entwässerungsprojekte. Er führte eine partizipative Stadt- und Budgetplanung ein, die »Orçamento Participativo«, sowie Schulstipendien für arme und obdachlose Bürgerinnen und Bürger. Neben sozialen und kulturellen Programmen verwirklichte er eine neue Vision des öffentlichen Raums, einschließlich der Wiederbelebung von Beléms berühmtem Ver-o-peso-Markt und der Errichtung des Erholungsparks Ver-o-Rio. Diese Projekte der Stadtentwicklung wurden verwirklicht, obwohl Kapitalinteressen, wie etwa Frachtunternehmen, diesen entgegen standen.
Zwanzig Jahre später ist die politische Lage nach Ausbruch der Covid-19-Pandemie kritisch. Nach den ersten fünf Monaten Regierungszeit zeichnet sich ab, dass Rodrigues ähnlich wie damals die dringendsten Herausforderungen angeht, aber dabei auch Zukunftsfragen und den Klimawandel nicht aus den Augen verliert. Zu den ersten Maßnahmen gehörte die Einführung eines Grundeinkommens. Dieses hatte Rodrigues bereits während des Wahlkampfes angekündigt. Am 8. Januar wurde es einstimmig im Stadtrat beschlossen. Es kommt zunächst etwa 9.000 bedürftigen Menschen zugute, die schon registriert sind und monatlich 450 brasilianische Real (etwa 75 Euro) erhalten. Außerdem arbeitet die Sanitärbehörde unter der Leitung von Ivanise Gasparim (PT) mit Hochdruck an der Reinigung aller Kanäle der Stadt und plant die Installation der größten Kläranlage im Amazonasgebiet.
Anfang Mai hat die Stadtregierung die Bürgerratsplattform »Tá Selado« (»Es ist abgemacht«) ins Leben gerufen, die Bürgerversammlungen in verschiedenen Stadtteilen organisiert. Damit will die Politik der Vielseitigkeit der Stadt Rechnung tragen. 70 Prozent der Pará-Bevölkerung identifiziert sich als pardo – also als Person mit mehr als einem ethnischem Hintergrund – oder als caboclo, wie sich die durch den Kolonialismus assimilierten Indigenen nennen. Belém spiegelt diese Vielseitigkeit wider und zeichnet sich durch eine Mischung indigener, Schwarzer und europäisch-kolonialer Kultur aus, wie auch durch den erschwerten Zugang zu sozialen Dienstleistungen und politischer Mitsprache dieser Bevölkerungsmehrheit.
Im Sinne der sozialen Gerechtigkeit hat Rodrigues in Zusammenarbeit mit der Landesregierung im Februar das kommunale Landregularisierungsprogramm »Terra da Gente« (»Unser Land«) gestartet. Bis Dezember sollen 4.000 Landtitel vergeben werden – so viele, wie vorherige Regierungen in insgesamt sechzehn Jahren vergeben hatten. Diese Maßnahme trägt signifikant zur sozialen Absicherung der Ärmsten bei. Denn ungefähr 60 Prozent der Fläche von Belém, etwa 360.000 Grundstücke, sind »irregulär«. Das bedeutet, dass zwar aufgrund von jahrelanger Nutzung der Fläche ein legaler Anspruch auf das Land besteht. Da allerdings keine gültigen Titel vergeben wurden, ist das Risiko der Vertreibung dementsprechend hoch.
Rodrigues unterstützt indigene Communities und stärkt so den Widerstand gegen die neoliberale Agenda des »grünen Wachstums« und Bolsonaros rassistische Entwicklungspolitik. Da Belém als Tor zum Amazonasgebiet fungiert, bietet die Stadt der globalen Klimadebatte eine wichtige Plattform. Teil dieser Strategie ist die Austragung des Pan-Amazonischen Sozialforums 2022, welches vor zwanzig Jahren in Belém gegründet wurde. Dieser institutionelle Rahmen für regionale Allianzen zwischen sozialen Bewegungen und Organisationen soll die Autonomie indigener Communities stärken und ein Gegengewicht in einer Debatte bilden, die von nationalen und transnationalen Agrarintereressen dominiert wird.
Wie viele Metropolen in Brasilien hat auch Belém schwere ökologische Probleme, allen voran die Vernachlässigung von Grünflächen. Laut der Journalistin Catarina Barbosa wurden unter dem vorherigen Bürgermeister Zenaldo Coutinho (PSDB) zahlreiche Bäume gefällt. Zwar wurden auch neue gepflanzt, allerdings solche, die für die Gegebenheiten der Stadt ungeeignet sind. Programme für ökologische Nachhaltigkeit stehen vor der enormen Herausforderung, die gegensätzlichen Interessen der Bürgerinnen und Bürger zu vereinen und den städtischen Bedürfnissen nach Infrastruktur, Abwasserentsorgung, Aufforstung und urbaner Mobilität entgegenzukommen.
Unter anderem soll ein Markt für Bio-Produkte von Familienbauern und Landlosen entstehen. Die brasilianische Haushaltsplanung konzentriert sich sehr auf den Süden des Landes. Belém hat im Vergleich zu anderen historischen Metropolen wie Salvador in Bahia nur sehr geringe Mittel für Sozialausgaben, Abwasserentsorgung, aber auch Kultur erhalten. Diesen Schwierigkeiten will sich Rodrigues, der die Lage aller Viertel Beléms sehr gut kennt, durch Zusammenarbeit mit der Bevölkerung und Fachexpertinnen der Universität stellen.
Rodrigues’ Vorgänger Zenaldo Coutinho war in mehrere dubiose Bauprojekte verwickelt, wie etwa in ein immer wieder verschobenes BRT-Projekt, das seit 2013 versprach, die Mobilität in der Metropolregion zu verbessern. So steht Rodrigues nun vor der Aufgabe, mit dem Erbe der vorherigen Regierung aufzuräumen. Dringender aber ist die Massenimpfung der Stadtbevölkerung gegen Covid-19.
Rodrigues ist Vizepräsident des Komitees der Stadtverwaltungen, das die Beschaffung von Impfstoffen koordiniert. Er setzt ein umfassendes Impfprogramm in Zusammenarbeit mit der Landesregierung um. Viele zählen auf die Kompetenz und Verhandlungsfähigkeit des Bürgermeisters. Schon früher beteiligte er alle Parteien in der Regierung und setzte auf pragmatische Zusammenarbeit über ideologische Linien hinweg.
Ebendiese praktische Umsetzung linker Politik kann für die brasilianische, aber auch die internationale Linke richtungsweisend sein. Der relative Erfolg der traditionellen Rechten bei den Kommunalwahlen zeigt, wie hartnäckig sich die Anti-PT-Stimmung in Brasilien hält. Edmilson verließ die PT zwar nach seinen Mandaten in Belém und gründete 2005 die PSOL in Pará, doch seine Regierung vereint viele PT-Politiker, einschließlich des Vize-Bürgermeisters Edilson Moura.
Gleichzeitig schwindet die Popularität Bolsonaros. Noch nie wurden so viele Schwarze und indigene Abgeordnete gewählt wie im Jahr 2020. Die PSOL tritt als Alternative zu Lula und der PT an und gibt Vertreterinnen und Vertretern von bisher ausgegrenzten Sektoren eine Stimme. Ihr Erfolg deutet auf eine qualitative Veränderung im demokratischen und linken Lager in Brasilien hin.
Während Brasilien mit steigender Arbeitslosigkeit, Umweltzerstörung, Polizeigewalt, Hunger, der weiter anhaltenden Covid-19-Pandemie und nicht zuletzt Bolsonaros rechstextremer Regierung zu kämpfen hat, zeigt Belém exemplarisch, wie diesen zerstörerischen Entwicklungen Einhalt geboten werden kann.
Claudia Horn ist Soziologin und beendet zurzeit in Belém ihre Dissertation an der London School of Economics über Klimagerechtigkeit, transnationale Zusammenarbeit und den Schutz des Amazonas.
Claudia Horn ist Soziologin und beendet zurzeit in Belém ihre Dissertation an der London School of Economics über Klimagerechtigkeit, transnationale Zusammenarbeit und den Schutz des Amazonas.