02. Januar 2023
1925 bereiste Wladimir Majakowski die USA. Um gegen das Heimweh anzukämpfen, rezitierte er seine revolutionären Gedichte vor Versammlungen von Arbeitern. Von der industriellen Moderne war er gleichermaßen fasziniert und abgestoßen.
Wladimir Majakowski, 1938.
Während des gesamten 20. Jahrhunderts war es keine Seltenheit, dass führende linke Kulturschaffende aus den USA die Sowjetunion besuchten. W. E. B. du Bois, Langston Hughes, John Reed und Angela Davis bereisten das riesige sozialistische Land erwartungsvoll und aufgeschlossen. Dasselbe galt für viele sowjetische Bürgerinnen und Bürger, die trotz des Kalten Kriegs von der Dynamik der USA fasziniert waren.
So auch der revolutionäre Dichter Wladimir Majakowski, der 1925 in die Vereinigten Staaten reiste. Obwohl das nun beinahe ein Jahrhundert zurückliegt, zeigen seine Beobachtungen sehr eindrücklich, wie sich die US-amerikanische Gesellschaft in dieser Zeit aus der Perspektive eines Außenseiters darstellte. Majakowski, der 1893 im ländlichen Georgien geboren wurde, war ein junger Mann, als er in Amerika ankam. Er war der Begründer des russischen Futurismus – einer Bewegung von Künstlerinnen und Dichtern, die traditionelle Auffassungen von Kunst ablehnte und stattdessen das ruhelose Tempo der Moderne begrüßte. Die Reise, die Majakowski zwischen Mai und Oktober 1925 in die USA unternahm – die modernste Nation der Welt – war daher von künstlerischer, aber auch politischer Relevanz.
Um gegen sein Heimweh und seine Abscheu vor der politischen Rückständigkeit des amerikanischen Kapitalismus anzukämpfen, rezitierte er Gedichte vor Arbeiterinnen und Arbeitern und hielt Vorträge über proletarische Ästhetik. Es waren ausgesprochen unromantische Zeiten: Wladimir Lenin war ein Jahr zuvor verstorben und Russland noch immer von den Schrecken des Bürgerkriegs gezeichnet.
Poesie und Politik waren für Majakowski kaum voneinander zu trennen. Mit Blick auf seinen künstlerischen Lebensstil schrieb er: »Das ist mein großes Problem: meine ganze Bohème-Vergangenheit auszulöschen, um zu den Höhen der Revolution emporzuklettern.«
In den USA ließ er keine Gelegenheit aus, um sich mit anderen avantgardistischen Künstlerinnen und Künstlern auszutauschen, auch wenn die sprachlichen Barrieren die Kommunikation erschwerten. Einmal wandte er sich an sein Publikum und bat seinen Übersetzer, »ihnen zu sagen, dass, wenn sie nur Russisch könnten, ich sie mit meiner Zunge an die Kreuze ihrer Hosenträger nageln könnte, ohne auch nur einen Fleck auf ihrem läppischen Hemdchen zu hinterlassen, ich könnte diese ganze verlauste Meute um den Spieß meiner Zunge wickeln«. Sein Freund David Burliuk – ebenso Futurist und Dichter – paraphrasierte: »Mein wunderbarer Freund Wladimir Wladimirowitsch hätte gern noch eine Tasse Tee.«
Kaum etwas passierte während dieser Reise, das Majakowski nicht in Verse goss. Über die Brooklyn Bridge schrieb er: »Ich bin stolz auf diese Meile aus Stahl, das ist der Ort, an dem meine Visionen entstehen können«; über den Atlantischen Ozean hielt er fest: »Die Wellen sind meisterhafte Agitatoren: Sie können deine Kindheit heranschwemmen; oder aber – die Stimme deiner Geliebten.«
Das frühe 20. Jahrhundert war eine Zeit politischer Mobilisierung und Militanz in den USA. Die Sozialistische Partei Amerikas, die Kommunistische Partei Amerikas und die Gewerkschaft International Workers of the World wurden allesamt in den ersten beiden Jahrzehnten dieses Jahrhunderts gegründet.
Kommunistinnen und Sozialisten waren in der Pop-Kultur genauso präsent wie in der Politik: Man hörte sie im Radio (Paul Robeson, Woody Guthrie, Sis Cunningham), sah sie auf der Kinoleinwand (Charlie Chaplin, Orson Welles, Dalton Trumbo), las ihre Bücher (Langston Hughes, Richard Wright, Arthur Miller), zeigte ihre Kunst in Galerien (Pablo Picasso, Frida Kahlo, Alice Neel). Sie waren in Tageszeitungen und Magazinen vertreten – und davon hatten die Kommunistische und die Sozialistische Partei sehr viele.
Wie auch seine kommunistischen Genossinnen und Genossen in den USA ließ sich Majakowski vom Spektakel der Roaring Twenties nicht blenden. Immer wieder wies er in geradezu komischer Buchstäblichkeit darauf hin, dass das gesamte Wirtschafts- und Gesellschaftssystem auf kapitalistischer Ausbeutung basierte. So hielt er etwa fest, dass die Attribute weiblicher Schönheit hartherzig von den Kräften des Marktes diktiert wurden – ob man kurzes oder langes Haar bevorzuge, hänge lediglich davon ab, in welchem Maße man von Haarnadel-Herstellern (langes Haar) und Friseuren (kurzer Bob) beeinflusst sei.
Die amerikanische Wolga
Majakowskis »Entdeckung Amerikas« wird oft mit seinem langen und ereignisreichen Aufenthalt in New York assoziiert, wo er bekanntermaßen das Gedicht über die Brooklyn Bridge schrieb, legendäre kommunistische US-Schriftsteller wie Mike Gold kennenlernte und eine Affäre hatte, aus der eine geheime Tochter hervorging.
Aber er bereiste auch den Mittleren Westen und fuhr mit dem sogenannten Expresszug nach Pittsburgh, Cleveland, Detroit und Chicago, der leuchtenden Metropole der Region. Mit seinem typischen ironisierenden Witz machte Majakowski die Bemerkung, dass »ein Zug von Chicago nach New York 32 Stunden braucht, ein anderer 24 und ein dritter 20. Sie alle werden gleich genannt – Express.«
Der Mittlere Westen, der am Zugfenster vorbeiglitt, war in seinen Augen der Ort, an dem »die echten amerikanischen Städte begannen«. »Da blitzte die amerikanische Wolga durch – der Mississippi; der Bahnhof in St. Louis hat mich beeindruckt.« Er bewunderte die Weite der Landschaft, ihre scheinbare Endlosigkeit, ihre Nuancen, die unterschiedlichen Geografien, die Industrielandschaften von Detroit, die von der Autoindustrie geprägt waren, die Fabriken Chicagos – den strahlenden, unverbesserlichen Mittleren Westen.
Majakowski fühlte sich dem amerikanischen Kernland schon romantisch verbunden, bevor er über den Atlantik segelte. Im Jahr 1920 beschrieb er Chicago in seinem Gedicht »150.000.000« als eine Stadt, die auf einer einzigen »Spirale« stünde, alles sei elektrisch und mechanisch.
Was den Dichter an der Stadt faszinierte, war deren selbstbewusste Verschmelzung von Urbanität und Industrialisierung. »Chicago schämt sich nicht für seine Fabriken«, hielt er fest. »Sie werden nicht an den Stadtrand verdrängt. Es gibt kein Überleben ohne Brot, und McCormick [ein Produzent mechanischer Erntemaschinen] stellt seine Landmaschinenfabriken zentraler, und sogar hochmütiger zur Schau, als ein Paris seine Notre-Dame.«
Detroit war eine weltbekannte Stadt: Sie war das Zentrum der Autoindustrie, zwischen Chicago und Cleveland hatten die Fabriken von Packard, Cadillac, Dodge ihren Sitz, doch über allen thronte Ford, und wichtiger noch, der Fordismus. Majakowski schätzte das Potenzial dieses neuen kapitalistischen Managementssystems differenziert ein: Eine sozialistische Regierung könnte zwar einige dieser neuen Organisationsformen einführen, das allein würde jedoch nicht ausreichen. Der Fordismus könne nicht »ohne Änderungen auf das sozialistische System übertragen werden«, betonte er.
Im Zentrum von Cleveland hielt Majakowski eine Rede in der Carpenters Union Hall. Laut der kommunistischen Tageszeitung Daily Worker war es ein »proletarischer Kulturvortrag« für »alle russischsprachigen Arbeiter«. Majakowski bewunderte den Charme des Mittleren Westens, er kritisierte die Enge Manhattans und er fand »poetische Inspiration [in] irgendeinem zwanzigstöckigen Hotel in Cleveland, über das die Einheimischen sagen: ›Hey, dieses Gebäude pfercht uns ein.‹«
Der Mittlere Westen von 1925 und der Mittlere Westen von heute unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht drastisch. Damals war er der industrielle Kern des amerikanischen Kapitalismus. Aufgrund der steigenden internationalen Konkurrenz hat die Megaregion um die Großen Seen seither einen Großteil ihrer Industrie verloren. Dennoch ist Majakowskis Porträt dieser Gegend bestechend und bewegend. Und es ist noch immer so, dass man die spezifischen Bedingungen und Klassenverhältnisse der USA verstehen muss, um politischen Wandel realisieren zu können. Fast hundert Jahre später hält Majakowski noch immer bedenkenswerte Lektionen bereit.
Taylor Dorrell ist Autor und Fotograf. Er lebt in Columbus, Ohio.