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28. November 2025

Eine Linke, die zu Gaza schweigt, verliert ihren Kompass

Die französische EU-Abgeordnete Emma Fourreau sollte im Karl-Liebknecht-Haus über die Gaza-Flottilla sprechen – dann wurde die Veranstaltung abgesagt. Bei Jacobin kritisiert sie, dass Palästinasolidarität in der deutschen Linken noch immer angstbesetzt ist.

»Es muss verstanden werden, dass ›Nie wieder‹ unabhängig vom Täter gilt und dass es nicht darum geht, wer einen Völkermord begeht, sondern dass er begangen wird«, schreibt Emma Fourreau.

»Es muss verstanden werden, dass ›Nie wieder‹ unabhängig vom Täter gilt und dass es nicht darum geht, wer einen Völkermord begeht, sondern dass er begangen wird«, schreibt Emma Fourreau.

IMAGO / MAXPPP

Am Dienstag, dem 18. November, sollte im Karl-Liebknecht-Haus, dem Sitz der Partei Die Linke, eine Konferenz über die Flottillen für Gaza stattfinden. Sie wurde jedoch wenige Stunden vor Beginn abgesagt. Der Grund für die Absage ist offensichtlich: Das Thema der Konferenz – Palästina – stößt auf Unbehagen.

Die Eigentümer der Gebäude, in denen die Stiftung und die linke Partei untergebracht sind, gaben dem Druck eines islamfeindlichen Thinktanks nach und behaupteten, es bestehe die »Gefahr« von Demonstrationen vor dem Veranstaltungsort. Der Vermittlungsversuch eines Abgeordneten der Partei änderte daran nichts: Die Konferenz wurde untersagt. Diese Entwicklung ist bezeichnend. Über den Völkermord in Palästina zu sprechen, ist in Deutschland, selbst innerhalb der Linken, nach wie vor alles andere als selbstverständlich.

Ursprünglich hatten wir unsere Veranstaltung an einer Universität ausrichten wollen. Allerdings war keine bereit, eine Diskussionsrunde über Palästina zuzulassen. Wir hofften daher, in einem Haus der Linken eine geeignete Location zu finden: Dieses erschien uns als ein Ort in Berlin, an dem das menschliche Gewissen über historische Schuld hinausgeht und wo man Parallelen zwischen den heutigen Schrecken und der Vergangenheit erkennt.

»Wir müssen uns leiten lassen vom Freiheitsstreben unterdrückter Menschen, Gerechtigkeit für kolonialisierte Völker, Wiedergutmachung für die Opfer von Völkermord – und zwar nicht nur auf dem europäischen Kontinent.«

Dies war zum Teil auch der Fall. An besagtem Dienstag traf ich mich mit Vertreterinnen und Vertretern der Linksjugend ['solid] Berlin, die sich entschlossen für Frieden einsetzen, für ein Ende der israelischen Besatzung kämpfen und den Genozid in Palästina verurteilen. Ich habe einen Abgeordneten der Partei aus Berlin getroffen, der öffentlich Stellung bezieht, die Kriegsverbrechen Israels unmissverständlich verurteilt und eine klar antikolonialistische linke Position vertritt. Ich wurde von zahlreichen Genossinnen und Genossen sowie von gewählten Abgeordneten der Partei Die Linke kontaktiert, die das Verbot der Veranstaltung kritisierten und ihre Unterstützung für diejenigen Stimmen, die Frieden fordern, bekräftigten.

Dies sollte selbstverständlich sein. Denn darin liegt der Kern von Verantwortung und Würde der Linken. Man darf niemals die Orientierung verlieren. Palästina ist ein solcher Fall: Wir müssen uns leiten lassen vom Freiheitsstreben unterdrückter Menschen, Gerechtigkeit für kolonialisierte Völker, Wiedergutmachung für die Opfer von Völkermord – und zwar nicht nur auf dem europäischen Kontinent.

Das ist die Verantwortung der Linken, und manchmal – zu oft – versagt sie dabei. Wenn ein Teil der französischen Linken gemeinsam mit Rechten gegen La France insoumise hetzt und Genossen des Antisemitismus bezichtigt werden, nur weil sie auf die Verbrechen Israels hingewiesen haben, verliert die Linke ihre Orientierung, sie verliert ihren Kompass. Wenn die britische sogenannte Linke Donald Trumps neokoloniale Pläne für Gaza billigt und Demonstrationen zur Unterstützung Palästinas unterdrückt, verliert sie ihren Kompass. Wenn die deutsche Linke sich weigert, das Wort Genozid zu verwenden und eine Konferenz über die Gaza-Flottille zu veranstalten, verliert sie ihren Kompass.

»Da sich seitens derjenigen, die uns regieren, nichts ändern wird (insbesondere in Deutschland) müssen wir – die Menschen auf der Linken – diesen Wandel durchsetzen, in den Köpfen wie im Land.«

Deutschland hat bekanntlich eine komplexe Geschichte und ein schweres Erbe. Dieses kann aber genutzt werden. Es muss verstanden werden, dass »Nie wieder« unabhängig vom Täter gilt und dass es nicht darum geht, wer einen Völkermord begeht, sondern dass er begangen wird. Wenn vor unseren Augen ein Genozid stattfindet und alle internationalen Instanzen ihn verurteilen, ist es nicht hinnehmbar und schlicht unmöglich, wegzuschauen. Es ist unsere Pflicht, uns auf die Seite der Unterdrückten zu stellen, nicht auf die der Unterdrücker.

Denn es ist ein Genozid, und das muss ausgesprochen werden. Wenn 92 Prozent der Häuser und 95 Prozent der Schulen in Gaza von Israel zerstört wurden, ist das genozidal. Wenn mehr als 1.700 Angestellte im Gesundheitsbereich, mehr als 250 Journalistinnen und fast 600 humanitäre Helfer unter den Bomben sterben, ist das genozidal. Schulen, Krankenhäuser, Flüchtlingszelte, medizinisches Personal und Journalisten anzugreifen, jede Hoffnung auf Überleben zu nehmen, ist genozidal. Land und Kultur zu zerstören und dafür zu sorgen, dass nichts mehr nachwächst, ist genozidal.

Die Linke in Deutschland hat vielleicht noch mehr als anderswo auf der Welt eine Verantwortung: Sie muss standhaft bleiben, ihrem Kompass folgen und die Dinge beim Namen nennen. Ein Teil der deutschen Linken versteht dies und drängt in diese Richtung. Diejenigen, die sich dem widersetzen, müssen zu den Grundsätzen der Linken (nämlich der Menschlichkeit) zurückkehren und sich ihrer aktuellen Situation gewahr werden: Im Namen einer Vergangenheit, die auf rituelle Gedenkfeiern reduziert wird, ohne dass politische Lehren daraus gezogen werden, sind sie bereit, neue Verbrechen zu akzeptieren und zu rechtfertigen. Das ist nicht nur moralisch verwerflich, sondern auch politisch gefährlich. Denn es macht einen Völkermord unsichtbar und isoliert die Verteidiger des Friedens und der Menschenrechte.

»Die eingangs geschilderten Vorgänge sollten uns nicht dazu verleiten, die gesamte deutsche Linke über einen Kamm zu scheren. Aber sie erinnern uns daran, dass der Kampf für Palästina in Deutschland noch viel zu wenig Unterstützung findet.«

Ich möchte hier erneut meine volle Unterstützung, Solidarität und Verbundenheit all jenen bekunden, die innerhalb ihrer Partei oder ihres Landes niemals zurückstecken, wenn es um die Grundsätze der Menschlichkeit geht, und die bereit sind, dafür zu kämpfen. Wir von La France insoumise kennen die Situation: Wir werden seit zwei Jahren attackiert, beleidigt und in den Dreck gezogen. Ich kann mir daher vorstellen, wie viel Kraft es kostet, sich gegen die eigenen Genossen zu stellen und falsche Anschuldigungen an den Kopf geworfen zu bekommen. Doch wir müssen trotz aller Widrigkeiten standhaft bleiben, denn damit verteidigen wir etwas Ehrenhaftes: eine humanistische Orientierung, einen humanistischen Kompass.

Da sich seitens derjenigen, die uns regieren, nichts ändern wird (insbesondere in Deutschland) müssen wir – die Menschen auf der Linken – diesen Wandel durchsetzen, in den Köpfen wie im Land. Wir müssen die Augen offen halten und unseren Mitmenschen die Augen öffnen, damit sich das Bewusstsein verändert und weiterentwickelt. Natürlich ist diese Arbeit in Deutschland schwieriger als in Spanien oder Griechenland. Es sei daran erinnert, dass die Berliner Polizei sogar am Tag des Nakba-Gedenkens gewaltsam gegen Demonstranten vorgeht. Doch umso größer ist auch die Kraft der Menschen, die für hohe Ideale und für Menschlichkeit kämpfen.

Die eingangs geschilderten Vorgänge sollten uns nicht dazu verleiten, die gesamte deutsche Linke über einen Kamm zu scheren. Aber sie erinnern uns daran, dass der Kampf für Palästina in Deutschland noch viel zu wenig Unterstützung findet und dass sich überall in der Gesellschaft, auch in der Linken, nach wie vor Befürworter des israelischen Vorgehens finden.

Die Hoffnung ist da. Die Jugend leistet ihren Beitrag, die Denkweise beginnt sich zu ändern, und eines Tages wird man in Deutschland klar sagen können: »Nie wieder – weder hier noch anderswo.«

Emma Fourreau ist Politikerin der französischen Partei La France insoumise. Seit 2024 ist sie Mitglied des Europäischen Parlaments.