06. Oktober 2020
2008 wurde die EZB zu einem politischen Akteur. Sie setzte eine neoliberale Wirtschaftspolitik in der Eurokrise durch – abseits demokratischer Entscheidungsprozesse. Wie war es dazu gekommen?
Wird die europäische Demokratie die Einflussnahme der Zentralbanken überstehen?
»Jede Krise ist eine Chance.« Dieser Slogan wird in Zeiten wirtschaftlicher Not oft ausgerufen. Europa stellt dabei keine Ausnahme dar, vor allem die Eurozone nicht. Nach der Finanzkrise von 2008 begannen Politik und ökonomische Eliten, zwei neoliberale Glaubenssätze in der Wirtschaftspolitik zu zementieren –, nämlich dass staatliche Finanzierung über Defizite nur Schaden anrichtete und dass Lohnsenkungen und die »Flexibilisierung« von Arbeitsmärkten die Wirtschaft ankurbeln würden.
Ende der Achtzigerjahre bewarb die Europäische Kommission das Projekt der Einheitswährung unter dem Motto »Ein Markt, eine Währung«. Dabei lautete eines der Hauptargumente für den Euro, dass eine einheitliche Währung auch einen einheitlichen europäischen Zinssatz hervorbringen würde.
Dadurch, so das Argument weiter, werde es keine konkurrenzbedingten Abwertungen der Nationalwährungen mehr geben und Finanzmärkte müssten keine höheren Zinssätze von wirtschaftlich schwächeren Eurozonen-Mitgliedern verlangen, die von einer Währungsabwertung bedroht wären. Zinssätze, die für ein Land wie beispielsweise Italien schon immer deutlich höher waren, würden sich den niedrigeren Sätzen von Ländern wie Deutschland – also Ländern, denen die Finanzmärkte schon immer am meisten vertraut haben – angleichen. Dank der Einheitswährung würden in der ganzen Eurozone die Finanzierungskosten sinken, Investments boomen, Wirtschaften wachsen und neue Jobs geschaffen.
Ein Blick zurück zeigt, dass sich das Versprechen »Ein Markt, eine Währung, ein Zinssatz« erst einmal erfüllt hat – zumindest in den Jahren kurz vor Einführung des Euros und der ersten Dekade danach. Doch die Kommission hat bei ihrer Analyse zwei grundlegende Probleme übersehen.
Die Annäherung der Zinssätze wirkte sich zwar gewinnbringend auf viele der teilnehmenden Wirtschaften aus, nicht aber für Deutschland, wo die Einführung des Euro mit dem Verlust eines wichtigen Wettbewerbsvorteils einherging. Durch eine jahrzehntelange Praxis der »kompetitiven Inflationseindämmung« hatte Deutschland bereits einen der niedrigsten Zinssätze – ein Vorsprung, den das Land nun verlor. Als die Arbeitslosigkeit einen Höchststand von fast vier Millionen erreicht hatte, entschied die rot-grüne Koalition unter Gerhard Schröder eine Rückkehr zu einer wettbewerbsbasierten Lohnpolitik: Einerseits flexibilisierte sie mithilfe der berüchtigten Hartz-Reformen den Arbeitsmarkt und prekarisierte so Arbeitssuchende, die fortan nur noch maximal ein Jahr Arbeitslosengeld erhielten. Andererseits setzte sie auf Unternehmensebene das Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit durch: Vertreterinnen und Vertreter der Arbeitenden konnten nun mit dem Arbeitgeber zwar Jobsicherheit oder neue Investitionen aushandeln, mussten dafür aber Lohnkürzungen in Kauf nehmen, die den Tarifverträgen der Branche widersprachen.
Das zweite übersehene Problem bestand in der Nutzung des neuen, günstigen Kapitals durch Banken und Finanzmärkte. Würden sie dieses Kapital in eine Steigerung der Produktionskraft überführen oder in spekulative und unsichere Anlagen investieren? Wie wir mittlerweile wissen, findet sich die Antwort in Griechenland. Dort kurbelte der »Euro-Bonus« öffentliche Ausgaben zwar zunächst an, verursachte dabei aber riesige und versteckte Finanzdefizite. In anderen Euroländern wie Spanien oder Irland erzeugte der Zufluss Unmengen neuen Kapitals Immobilienblasen, begleitet von einem Anstieg privater Schulden.
Zwischenzeitlich hatten die Banken der zentral-europäischen Länder in großem Umfang Kredite an die verschuldeten Länder der Eurorandzone vergeben. Damit hatten sie die dortigen Immobilien-Booms finanziert und sich zu einer mächtigen Gläubigerposition aufgeschwungen. Daraufhin machten sich die Regierenden der Eurozone daran, die Geschichte neu zu schreiben, und etablierten ein Krisennarrativ, das die Schuld von den Banken ablenkte.
Doch irgendwann platzt jede Blase. Es hat fast zehn Jahre gedauert, bis französische und deutsche Bankerinnen und Banker eingesehen haben, dass das Ausschütten von riesigen Krediten in spanische oder irische Immobilienblasen irgendwann kollabieren musste. Der amerikanische Bankencrash von 2008 führte dazu, dass sowohl Spanien als auch Irland Schwierigkeiten hatten, ihre Hypotheken abzubezahlen. Als sich auf dem zentraleuropäischen Finanzmarkt abzeichnete, dass die lokalen Banken beider Länder in Schwierigkeiten gerieten, begannen die mitteleuropäischen Banken ihre Investitionen zurückzuziehen. Die Banken der Eurorandzone standen nun kurz vor dem Kollaps, dicht gefolgt von denen Zentraleuropas – und damit begann im Jahr 2010 die zweite Phase der Finanzkrise.
Die Regierungen standen zu diesem Zeitpunkt vor folgender Entscheidung. Entweder sie gaben zu, dass sie und ihre Finanzaufsichten die ihnen überantwortete Kontrolle der Banken, die mit dem Geld der Gläubigerinnen und Gläubiger kreditbefeuerte Booms in anderen Ländern der Eurozone ausgelöst hatten, massiv vernachlässigt hatten. Das würde de facto bedeuten, dass die eigenen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler für den Schaden aufkommen mussten. Oder aber sie beharrten auf die »Unantastbarkeit der Schulden« und bestanden darauf, dass die Regierungen der dezentralen europäischen Länder selbst für die Rettungsmaßnahmen aufkommen sollten.
Sie entschieden sich für Letzteres. Sobald diese Entscheidung jedoch gefallen war, mussten die Kosten für die Rettungsmaßnahmen politisch gerechtfertigt werden. Die europäische Politik behauptete im Zuge dessen, die Schuld an der Finanzkrise sei nicht etwa bei den Banken und dem Kapital zu finden, sondern vielmehr bei den Ländern der Eurorandzone, die »über ihre Verhältnisse« gewirtschaftet hatten. Diese Länder sollten jetzt den Gürtel enger schnallen. Um zum Normalzustand zurückzukehren und ihre Schulden zu begleichen, schränkten die Regierungen jener Länder den Lebensstandard ihrer Bürgerinnen und Bürger massiv ein. Das bedeutete einerseits eine Senkung der staatlichen Ausgaben und andererseits einen enormen Anstieg der Exporte.
So wurden zwei der tragenden Pfeiler des Neoliberalismus implementiert. Erstens: Fiskalpolitische Sparmaßnahmen, die staatliche Defizite beheben und eine staatliche Einflussnahme auf die Wirtschaft einschränkten. Zweitens: Das Prinzip der Wettbewerbsfähigkeit, welches Institutionen zur Stärkung der Arbeitnehmerinnenrechte schwächt, die Löhne drückt und exportbasiertes Wachstum fördert. Die Vehemenz, mit der der fiskalische Sparkurs und die Lohnsenkungen umgesetzt wurden, ist alarmierend. So wurde zwischen 2010 und 2014 beispielsweise das Bruttoinlandsprodukt der Eurozone um einen Durchschnitt von fünf Prozent durch Ausgabeneinsparungen und Steuererhöhungen vermindert – obwohl die Wirtschaft kaum wuchs. In Irland, Portugal und Spanien verringerte sich die gesamtwirtschaftliche Kaufkraft um fast zehn Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts. In Griechenland waren es sogar über zwanzig Prozent.
In den weniger bekannten Bereichen der Arbeitsmarktregulierung verliefen die Veränderungen sogar noch dramatischer. Länder der Eurozone mit hohen Defiziten setzten auf eine konkurrenzbasierte Lohnpolitik, indem sie die Verhandlungsmacht von Gewerkschaften schwächten und die Löhne nach unten drückten. In Portugal und Spanien wurde die Höhe des Mindestlohns für mehrere Jahre eingefroren, in Griechenland wurde er drastisch gesenkt. Die Regierungen Spaniens und Portugals gingen gegen branchenbezogene Tarifverhandlungen vor, die eine stärkere Verhandlungsposition der Gewerkschaften bedeutet hätten: Sie ergriffen Maßnahmen, um die rechtliche Anwendung von branchenbezogenen Vereinbarungen auf die jeweiligen Unternehmen zu erschweren. Das galt auch für Unternehmen, die nicht in Arbeitgeberverbänden organisiert waren.
Frankreich, Griechenland, Italien und Spanien drehten die klassische Hierarchie zwischen branchenbezogenen und unternehmensbezogenen Tarifverhandlungen um: Wurde bislang einem Arbeitsvertrag nur dann zugestimmt, wenn seine Konditionen auch den Maßgaben der höher gestellten Branchenverhandlungen entsprachen, konnten nun wesentlich schlechtere Konditionen durchgedrückt werden. Gewerkschaften wurden so dazu gedrängt, Zugeständnisse an die Arbeitgeberseite zu machen und den Einschränkungen zuzustimmen.
Einige Regierungen gingen sogar so weit, unternehmenskontrollierte Gewerkschaften wiederzubeleben, indem sie die Tarifverhandlungen den Belegschaftsverbänden überließen und nicht den Gewerkschaften – wobei diese Belegschaftsverbände meist unter starker Einflussnahme des Arbeitgebers standen. Ein weiterer Baustein der Deregulierungsmaßnahmen war die Aufhebung der absoluten Gültigkeit der Tarifverträge: Gewerkschaften mussten nun wieder jeden Vertrag von Neuem verhandeln, ohne sich auf bestehende Tarife beziehen zu können.
All diese Maßnahmen hatten einen massiven Einfluss auf die Löhne und die Tarifverhandlungen. Da nun Unternehmen, die nicht in Arbeitgeberverbänden organisiert waren, legal branchenbezogene Tarifverhandlungen unterlaufen konnten, begannen die Verbände, überhaupt keine Vereinbarungen mehr zu unterschreiben. In Portugal verminderte sich beispielsweise die Anzahl von geschlossenen Verträgen von 116 im Jahr 2010 auf gerade einmal 13 im Jahr 2014. Die Anzahl der Arbeiterinnen und Arbeiter, die durch gewerkschaftliche Tarifverhandlungen abgedeckt wurden, stürzte daraufhin von 1,4 Millionen (54 Prozent) auf 240.000 (10 Prozent) ab.
Dadurch konnten einzelne Unternehmen nun branchenbezogene Verträge ignorieren. Gewerkschaften waren gezwungen, Lohnkürzungen zu akzeptieren, da die Arbeiterinnen und Arbeiter angesichts mangelnder Vereinbarungen von der Bereitschaft einzelner Arbeitgeber abhängig waren, unternehmensbezogene Verträge auszuhandeln. Um es auf den Punkt zu bringen: Die europäische Politik hatte dafür gesorgt, dass bei Tarifverhandlungen nicht mehr Lohnsteigerungen, sondern Lohnkürzungen verhandelt wurden
Wie konnten die Länder der Eurorandzone das akzeptieren? Wieso haben sie diese verheerenden Maßnahmen so bereitwillig umgesetzt? Sie wussten ja ganz genau, dass diese Doppelpolitik aus steuerlichen Sparmaßnahmen und Lohndumping nicht nur wirtschaftliche und soziale Missstände verursachen, sondern auch die Risiken einer Preis-Deflation und einer Schuldenspirale erhöhen würde.
Die Antwort lautet schlicht: Sie standen mit dem Rücken zur Wand, da die Finanzmärkte jegliche Neuinvestitionen ablehnten. Wegen leichtfertiger Spekulationen auf den Finanzmärkten mussten die Banken und Regierungen der dezentralen Euroländer extrem hohe – und letztendlich untragbare – Zinssätze akzeptieren, um bestehende Schulden zu bewältigen. In einem Fall lag der Zinssatz bei stolzen 45 Prozent. Die Finanzmärkte erschufen eine sich selbsterfüllenden Prophezeiung: Die hohen Zinssätze, die aus Angst vor einer Zahlungsunfähigkeit festgelegt wurden, drohten genau diese Zahlungsunfähigkeit herbeizuführen.
Eigentlich müsste eine zentrale Notenbank einen solchen Vorgang verhindern. Indem Zentralbanken Geld drucken und es für den Ankauf notleidender Kredite verwenden, können sie dafür sorgen, dass Spekulantinnen und Spekulanten, die gegen eine Verschuldung wetten, ihr Geld verlieren. Genau das haben die Zentralbanken Großbritanniens und der USA in vergleichbaren Situationen getan. Die Europäische Zentralbank (EZB) zögerte jedoch bei genau dieser Entscheidung. Sie tat das Gegenteil: Von Beginn der Finanzkrise an erhöhte die EZB die Zinssätze, anstatt sie zu senken – mit der Begründung, sie würde sich um eine Inflation sorgen.
Die Regierungen, die unter einem massiven Druck der Finanzmärkte standen, baten verstärkt um die Unterstützung der EZB. Sie waren zu beinahe allem bereit, wenn die EZB sich dazu bereit erklären würde, ihre Schulden aufzukaufen und ihnen damit Schutz vor dem Druck der Märkte böte. Das rückte die zentraleuropäischen Notenbanken in eine extrem mächtige Position. Die EZB missbrauchte diese Macht und schickte der spanischen und der italienischen Regierung geheime Briefe zu, die konkrete Anweisungen zu fiskalpolitischen Sparmaßnahmen und zur Deregulierung des Arbeitsmarkts enthielten.
In einem Brief vom August 2011 forderte die Europäische Zentralbank Italien dazu auf, die gewerkschaftlichen Tarifverhandlungen zugunsten von lokalen Verhandlungsformen auszusetzen sowie Gehaltskürzungen im Öffentlichen Dienst in Erwägung zu ziehen und Anstellungs- und Kündigungsregularien zu überdenken. Die EZB setzte Berlusconi und seiner Regierung ein zeitliches Limit von zwei Monaten, um diese Maßnahmen umzusetzen. Spanien wurde dazu aufgefordert, den Einfluss unternehmensbezogener Vereinbarungen zu »stärken« und damit »den Einfluss von Branchenverträgen« zu verringern – was wiederum bedeutete, dass die Verträge auf Unternehmensebene mehr Spielraum bekamen, um die Branchenverhandlungen zu unterlaufen. Zudem erwartete die EZB von Spanien, den Inflationsausgleich der Löhne aus den gewerkschaftlichen Verträgen zu streichen, da diese »nicht angemessen« für eine Währungsgemeinschaft seien.
Diese Briefe wurden von den Finanzmärkten als Checklisten angesehen, anhand derer die EZB die Reformwilligkeit der jeweiligen Länder beurteilen und über den Ankauf von Staatsanleihen entscheiden würde. Regierungen, die die Briefe und ihre Maßnahmen ignorierten, riskierten eine Verschärfung der Krise in ihren jeweiligen Ländern. So entschieden auf einmal Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der EZB – von denen die meisten zuvor im Finanzsektor tätig waren und die nicht zur Verantwortung gezogen werden konnten – über ökonomische und soziale Maßnahmen, die eigentlich demokratisch gewählte Politikerinnen und Politiker hätten treffen müssen.
Das galt vor allem für Griechenland, Portugal und Zypern, wo die »Troika« aus EZB, Internationalen Währungsfond und der Europäischen Kommission grundsätzliche Strukturmaßnahmen verordnete. Diese neu gefundene Macht spielte eine zentrale Rolle bei der Reorganisation der allgemeinen Wirtschaftspolitik innerhalb der Eurozone. Blindlings wurden beinahe alle Vorschläge Deutschlands – einem der Schlüssel-Verbündeten der EZB, dessen Vorgehen und Philosophie sich weitestgehend mit der deutschen Bundesbank deckt – umgesetzt, um die Unterstützung verschuldeter Staatsanleihe-Märkte stückchenweise zu gewährleisten. Im Zuge dessen unterschrieben die Länder der Eurozone umgehend und ohne erwähnenswerte Debatte, den »Fiskalpakt« – einen internationalen Vertrag, der in den Nationalgesetzen eine strenge Sparpolitik vorsah.
Gleichzeitig verabschiedeten das Europäische Parlament und der Europäische Rat ohne jeglichen Widerstand das »Sixpack«: Ein erschreckend undemokratisches Maßnahmenpaket, das neoliberale Praktiken zementierte. So wurde der Europäischen Kommission nicht nur die Möglichkeit eingeräumt, den Regierungen »Empfehlungen« zur Umsetzung der Sparmaßnahmen zu geben. Sie hatte nun ebenfalls die Autorität, Nichteinhaltung zu sanktionieren. Doch vor allem eine Maßnahme pervertierte das Prinzip der demokratischen Entscheidungsfindung fundamental: Um fiskalpolitischen Vorschlägen der Kommission zuzustimmen, bedurfte es nicht weiter einer qualifizierten Mehrheit im Europäischen Rat. Das »Sixpack« verfügte, dass der Rat automatisch alle Vorschläge akzeptieren würde, sogar Sanktionen gegen Mitgliedsstaaten – es sei denn, eine Zweidrittelmehrheit der Mitgliedsstaaten stimme dagegen.
Schließlich erreichte diese »Erpressungspolitik« des Kapitals seine Grenzen. Im Sommer 2012 wurde klar, dass die Finanzspekulationen ein Ausmaß erreicht hatten, das die Existenz des Euros bedrohte. Der damalige Präsident der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, musste vor einer Gruppe von Investorinnen und Investoren seine Taktik ändern, und versprach, dass die Zentralbank »alles tun werde«, um den Euro zu retten. »Und glauben Sie mir«, versicherte er, »es wird reichen.«
Draghi vermittelte den Finanzmärkten den Eindruck, dass die EZB nun endlich die Staatsverschuldungen der Mitglieder der Eurozone abfedern würde. Doch obwohl die Spekulationen nachließen und die Zinssätze in den verschuldeten Ländern langsam sanken, dauerte es nach 2015 noch zweieinhalb Jahre, bis die EZB ein Programm zur quantitativen Lockerung einführte. Dieses beinhaltete den Kauf von hunderten Billionen Euro Staatsanleihen, um die Zinssätze schließlich auf das Niveau der geschwächten Schuldnerstaaten zu senken. Das geschah jedoch erst, als die Bank im Angesicht einer drohenden Deflation keinen anderen Ausweg sah.
Doch dieser Wandel änderte alles. Die EZB konnte keine fiskalpolitischen Sparmaßnahmen mehr im Gegenzug für finanzielle Erleichterungen verlangen. Die Mitgliedsstaaten konnten ihre Sparpolitik zurückfahren und zu einer expansiveren Fiskalpolitik zurückkehren. Die EZB trug dies den Regierungen sogar ganz konkret auf, um der Deflation entgegenzuwirken. Folglich erholten sich die Wirtschaften und Arbeitsmärkte der Eurozone – zumindest kurzfristig.
Die erste Lehre dieser Krise lautet, dass die meisten Grundsatzentscheidungen der gewählten Regierungen nur auf formaler Ebene getroffen werden. Hinter der Oberfläche demokratischer Entscheidungsprozesse regieren die Interessen des Finanzsektors, der massiven Einfluss auf demokratisch gewählte Repräsentantinnen und Repräsentanten ausübt. Es bleibt festzuhalten, dass es sich hier nicht um anonyme Finanzmärkte handelt, die die Wirtschaft in eine Art selbstzerstörerische Balance brachten. Das ist nur die Spitze des Eisbergs. Gravierender noch ist das Vorgehen der Notenbanken, die wirtschaftliche Krisen ausnutzen, um schocktherapeutisch ihre eigenen Vorstellungen von Wirtschafts- und Sozialpolitik durchzusetzen.
Jede progressive politische Agenda sollte einen Umgang finden, um mit der Macht der nicht-gewählten Notenbankerinnern umzugehen, die indirekt wirtschaftliche Krise lostreten. Jahrzehnte der Geld- und Ökonomietheorie haben die Idee manifestiert, dass Zentralbanken von den Regierungen unabhängig sein müssen, und dass Geldpolitik hauptsächlich der Inflation entgegenwirken soll. Die Realität hat jedoch gezeigt, dass die Zentralbank – gerade in Zeiten von Finanzkrisen – ein politischer Schlüsselakteur ist. Indem sie entscheidet, wie viel Geld gedruckt wird, wer dieses Geld bekommt und zu welchem Preis, hat sie eine Macht, die sie niemals haben sollte: Die Macht, demokratisch gewählten Regierungen ihre politischen Ansichten aufzuzwingen.
Dieses Problem stellt gerade die Eurozone vor eine besondere Herausforderung. Die amerikanische Federal Reserve und die Bank of England unterliegen immerhin in letzter Instanz der Kontrolle ihrer nationalen Parlamente. Um die Statuten der EZB abzuändern, bedarf es hingegen Änderungen europäischer Verträge, denen alle Eurozonen-Mitglieder, Deutschland miteingenommen, zustimmen müssen. Da das extrem unwahrscheinlich ist, hat die EZB viel mehr Handlungsspielraum als die Politik und die nationalen Regierungen.
Es wäre zudem ein Fehler zu glauben, dass die EZB nicht mehr in der Lage sei, Geldpolitik als eine »Gegenleistung« für Sparpolitik und Strukturreformen einzusetzen. Die EZB plant schon jetzt, quantitative Lockerungen zu reduzieren. Was wird passieren, wenn der Schutzschirm, der Regierungen momentan vor destruktiven Marktkräften schützt, verschwindet? Werden die Finanzmärkte erneut die schwächsten Mitglieder der Eurozone einkreisen? Und falls sie das tun, wird die EZB einschreiten – oder wird sie wie bisher, finanziellen Druck nur lindern, wenn eine aggressive Fiskalpolitik und Arbeitsmarktregulierungen durchgesetzt werden?
Das Schicksal der europäischen Demokratie wird sich an diesen Fragen entscheiden.
Ronald Janssen war von 2003 bis 2015 Chefökonom des Europäischen Gewerkschaftsbundes. Aktuell ist er Chefberater des Gewerkschaftlichen Beratungsausschusses der OECD in Paris, wo er zu Makroökonomie, Arbeitsmarktpolitik und Tarifverhandlung arbeitet.