16. Oktober 2021
In den Koalitionsgesprächen zwischen SPD, Grünen und FDP wird es für alle drei etwas vom Kuchen geben. Doch wie alle Vorhaben finanziert werden sollen, bleibt offen. Am Ende könnten die Schwächsten das Nachsehen haben.
Sieht so tatsächlich der Aufbruch aus?
Die Sondierungen der Ampel sind zu Ende. Nun stehen die Entscheidungen bei den Parteien darüber an, ob Koalitionsverhandlungen aufgenommen werden sollen. Dass es hier Überraschungen geben wird, ist sehr unwahrscheinlich, da sich alle drei Partner mit ihren Schwerpunkten durchgesetzt haben: So erreicht die SPD die im Wahlkampf versprochene Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro sowie ein stabiles Renteneintrittsalter und ein Rentenniveau von 48 Prozent. Die Grünen setzen ihrerseits beim Klimaschutz Akzente und versprechen den Ausstieg aus der Kohle »idealerweise« bis 2030 und die Solardachpflicht für geeignete Gebäude. Die FDP dagegen hat Pflöcke bei der Finanz- und Wirtschaftspolitik eingeschlagen, obwohl es einen grundlegenden Paradigmenwechsel in der Finanzpolitik bräuchte.
Stattdessen bietet das Sondierungspapier der Ampelparteien die Grundlage dafür, eine langsam zerfallende Infrastruktur weiter auf Sparflamme zu verwalten. Ansätze, die gewaltigen Herausforderungen der Zukunft ernsthaft anzugehen, sind nicht zu erkennen. Denn dazu müsste der Staat willens sein, mehr Geld in die Hand zu nehmen.
Auffällig ist: Der Abschnitt zur Finanzpolitik im nun veröffentlichten Papier liest sich anders als die anderen Kapitel. Während zum Beispiel bei Rente, Mindestlohn und Kohleausstieg konkrete Zahlen angegeben werden, ist das Kapitel zur Finanzpolitik eine reine Textwüste. In anderen Bereichen schrieb die FDP wenigstens konkrete Negationen ins Papier, so etwa beim Tempolimit, das ausgeschlossen wird. Bei der Finanzpolitik hingegen wird es extrem vage. Dort steht etwa, dass es bei Einkommensteuer, Körperschaftsteuer und Mehrwertsteuer keine Erhöhungen geben soll. Das schließt zwar einiges aus, aber vieles aber eben auch nicht; Steuersenkungen beispielsweise.
Während von einer Senkung der Einkommensteuer Geringverdiener und die Mittelschicht profitieren würden, würden durch Abschaffung des Solidaritätszuschlags oder die Senkung der Unternehmensteuer die oberen Schichten profitieren. Laut Habeck sind die Steuersenkungen für Geringverdiener aber schon vom Tisch, da sich die FDP dort durchgesetzt habe. Offen ist auch noch die Frage, ob es eine Senkung der Erbschaftssteuer auf eine Flat Tax von 15 Prozent gibt, wie der grüne Finanzminister Danyal Bayaz aus Baden-Württemberg vorschlug. Das würde die formalen Steuersätze noch weiter senken, wobei die steuerliche Privilegierung von Schenkungen und Betriebsvermögen die eigentliche Baustelle ist. Setzt sich die FDP auch hier durch, ist klar, dass es Entlastungen nur für Reiche geben wird. Genauso steht fest, dass Substanzsteuern wie die Vermögensteuer nicht eingeführt werden. Mit der FDP wäre dies ohnehin nie zu machen, doch die eingeschlagenen Pflöcke zeigen einen klaren Sieg der Liberalen im Abwehrkampf gegen links.
Insbesondere bei der Schuldenbremse gibt es keine Neuerungen. Das Papier legt vielmehr fest, dass die Schuldenbremse eingehalten wird und trotzdem die nötigen öffentlichen Investition irgendwie ermöglicht werden sollen – wie genau, bleibt allerdings ein Rätsel.
Die entscheidende Frage ist, welche Möglichkeiten es in dieser Konstellation zur Reform der Schuldenbremse und jenseits von ihr gibt. Robert Habeck hat die Rücklagelösung, also eine Schuldenaufnahme im kommenden Jahr zur Verwendung in den Folgejahren weitestgehend ausgeschlossen. Diese wäre möglich, da auch 2022 die Schuldenbremse noch ausgesetzt ist. Darüber hinaus hat Habeck mit ungewohnter Deutlichkeit klar gemacht, dass es darum geht, private Investitionen zu hebeln. Was das konkret bedeutet, lässt er offen. Zum einen könnte es einfach ein rhetorischer Trick sein, um Brücken zur FDP zu schlagen, da staatliche Investitionen in der Regel private Investitionen nach sich ziehen. Wenn man es wörtlich nimmt, wären andererseits zum Beispiel die Kofinanzierung von öffentlich-privaten Partnerschaften oder die Finanzierung eines Fonds, der zusätzlich Anleihen ausgibt, um privates Kapital zu mobilisieren, möglich. Letzteres ist mit der FDP schwer vorstellbar, da dies eine Instituionalisierung von Schattenhaushalten jenseits des Regelungsspielraums der Schuldenbremse wäre. Ebenso unwahrscheinlich sind die Optionen, die Berechnungsgrundlage der Schuldenbremse zu ändern oder sie erneut krisenbedingt aussetzen. Die »Superabschreibungen« für Investitionen in Klima und Digitalisierung sind vor diesem fiskalpolitischen Hintergrund von erheblicher Bedeutung. Isoliert sind bessere Abschreibungsregeln eine sehr sinnvolle Forderung, um private Investitionen zu fördern. Durch die neuen Regelungen würde die kalkulatorische Wertminderung des Vermögensgegenstands vorgezogen, was sich früher gewinnmindernd und somit auch steuermindernd auswirkt. Genau diese Minderung des Unternehmenssteueraufkommens in Kombination mit der Schuldenbremse und den Tilgungs-Verpflichtungen der Coronaschulden ab 2023, kann die kommende Regierung zum Anlegen der Axt an den Sozialstaat zwingen. Die Investitionsprojekte der Regierung dürften hingegen relativ sicher sein, wenn sie bis dahin aus dem Haushalt ausgelagert worden sind.
Neben diesen Großbaustellen gibt es außerdem kleine finanzpolitische Fortschritte, aber auch Rückschritte: Zu begrüßen ist einerseits das Verbot von Sharedeals und Barkäufen von Immobilien sowie der Altschuldenfonds für Kommunen. Hier hat sich die SPD offenbar durchgesetzt. Andererseits ist die weitere Teilprivatisierung der Rente, die Lindner als »Einstieg« beschreibt, ein Schritt in Richtung Finanzialisierung und Privatisierung. Auch wenn es bei der Aktienrente zunächst nur um ein individuelle Wahloption gehen würde, schwächt es die Rentenfinanzierung, was zu neuem Reformdruck führen wird. Erst die Details werden zeigen, wie gefährlich diese Experimente für das Rentensystem sein werden.
Fatal ist, dass Grüne und SPD beim Bekenntnis zum Wachstums- und Stabilitätspakt der Europäischen Union eingeknickt sind, obwohl beide Wahlprogramme immerhin die Reform vorsahen. Der Fiskalpakt sieht eine jährliche Neuverschuldung von maximal 3 Prozent des BIPs und eine Maximalverschuldung von 60 Prozent des BIPs vor. Er ist das wichtigste Druckmittel für die EU-Kommission, Südländer zu einer restriktiven Haushaltspolitik zu drängen, da sonst ein direkter Eingriff Brüssels in den Haushalt droht.
Genau solche Haushaltskonsolidierungen haben in Italien den politischen Rechtsrucks befördert und gefährden ganz akut das europäische Projekt. Auch die»Flexibilität« des Pakts zu loben ist mehr als fragwürdig. Er ist nämlich nur in Krisensituationen durch seine Aussetzung »flexibel«, aber sonst ein sehr starres Regelkorsett. Mit dem Festhalten an dem Stabilitätspakt und einem Finanzminister Lindner droht neuer finanzpolitischer Druck von Deutschland aus auf die südeuropäischen Länder; eine Bedrohung für die wirtschaftliche und politische Stabilität in der EU.
Erst wenn der Koalitionsvertrag steht und auch klar ist, ob Christian Lindner tatsächlich Finanzminister wird, wird sich die finanzpolitische Richtung der Ampel genauer bestimmen lassen. Um Themen wie Aktienrente, Schuldenbremse und Fiskalpakt müsste er allerdings gar nicht kämpfen, da er mit SPD und Grüne teils gleichgesinnte Partner hat.
Sozial- und umweltpolitisch zeigen Grüne und SPD durchaus, dass sie Ambitionen haben. Doch das Gewicht der FDP wird nicht nur beim Tempolimit, sondern auch in der Sozial- und Klimapolitik deutlich. So wird der Kohleausstieg für 2030 zwar angestrebt, aber nicht verbindlich vereinbart. Im sozialdemokratischen Kernbereich, der Arbeits- und Tarifpolitik, nimmt man »Experimentierräume« für eine höhere Tageshöchstarbeitszeit in Kauf. Formulierungen, die eine deutlich neoliberale Handschrift tragen.
Ohne Zweifel wären solche rückwärtsgewandten Maßnahmen nicht Teil eines rot-grün-roten Koalitionsvertrags gewesen. Viel mehr hätte die Linke bei jenen Punkten, die die FDP blockiert, den politischen Gegenpol eingenommen: Steuerentlastung für die große Mehrheit, Besteuerung von Milliardären und Multimillionären, Reformen und »Umgehungen« der Schuldenbremse. Dazu hätte sie die Sozialpolitik abgesichert und auch die finanziellen Auswirkungen des Klimaschutzes mitgedacht.
Nun bekommt man mit der Ampel also größtenteils das, was man erwartet hat: ein bisschen Soziales, ein bisschen Klimaschutz, doch nichts, was die großen Herausforderungen der Zeit wirklich angeht. Die Koalitionsverhandlungen dürften durch die finanzpolitische Leerstelle des Sondierungspapiers umso relevanter werden, da die Umsetzung nahezu aller Vorhaben am mangelnden Geld scheitern könnte. Wie soll die Koalition den 1,5-Grad-Pfad tatsächlich erreichen, wenn um jede Investition erst gerungen werden muss? Volker Wissing, der Generalsekretär der FDP, spricht nach der Pressekonferenz schon davon, Ausgaben auf den Prüfstand zu stellen. Im Klartext heißt das: Wenn dem Staat die Mittel ausgehen, trifft es im Zweifel die Armen und die öffentliche Daseinsvorsorge.
Lukas Scholle ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundestag für Finanzpolitik und betreibt den Podcast Wirtschaftsfragen.
Lukas Scholle ist Ökonom und Kolumnist bei JACOBIN.