13. Juni 2021
Wenn Du zu lange in den Freelancing-Abgrund blickst, blickt er irgendwann in Dich hinein.
»Schlafentzug ist Deine Lieblingsdroge. Vielleicht bist Du eine Macherin.«
Vor ein paar Jahren war ich auf einer Dinnerparty außerhalb meines gewohnten sozialen Habitats. Wäscheleinen, gespickt mit bunter Unterwäsche und Happy Socks® überspannten einen langen Korridor, der mit Türen zu Schlafzimmern von Erwachsenen gesäumt war – Lebensumstände, für die der Sozialismus einst kritisiert wurde, machen im Spätkapitalismus ihr gefeiertes Comeback. Rauch und Unternehmergeist hingen in der Luft. In der Küche unterhielt man sich aufgeregt über weltverändernde Apps, die den Klimawandel rückgängig machen, die Märkte und die Menschen befreien, die Flüchtlingskrise lösen oder irgendeinen Aspekt des täglichen Lebens automatisieren und so kostbare Zeit freisetzen könnten. »Noch mehr Zeit zum Arbeiten«, dachte ich mürrisch bei mir. Auch E-Mails hatten uns das einst versprochen. Doch nicht mehr zur Post gehen zu müssen, um einen Brief zu verschicken, bedeutete am Ende nur, immer mehr Mails beantworten zu müssen. Der neoliberale Arbeitskult, der die Erwartung weckt, man müsse bloß mehr arbeiten, um hinterher weniger arbeiten zu müssen, ist nichts als eine Lüge zur Maximierung der Motivation.
Mir gegenüber saß ein breitschultriger, blonder Mann mit einem breiten, warmen Lächeln. Um mich in die Abendgesellschaft zu integrieren, fing ich ein Gespräch mit ihm an. Er war Mitte bis Ende zwanzig, arbeitete bei einem Berliner Start-up und hatte die Go-Getter-Aura von jemandem, der morgens ganz unironisch zu »Eye of the Tiger« aufsteht. Wie viele andere am Tisch verbrachte er seine Wochenenden und seltenen freien Abende damit, an seiner eigenen technologischen Revolution zu tüfteln. Er war »Strategic Design Resident«. Wie ich später herausfand, heißt das so viel wie »ein unbefristet unbezahlter Praktikant, finanziert von der mvb« – der Mutti-und-Vati-Bank. Ich nahm es ihm und seinen Eltern nicht übel. Was die Gesellschaft heute vor dem Kollaps bewahrt, ist folgende unausgesprochene Wahrheit: Um über die Runden zu kommen, sind die meisten Millennials auf finanzielle Unterstützung angewiesen – in der Regel von ihren Eltern. Für jedes unterbezahlte Praktikum geht irgendwo einem Elternteil ein Lebensunterhalt vom Konto ab.
Weniger privilegierte Uniabsolventinnen haben keine andere Wahl, als ihre Sommerferien durchzuarbeiten, um sich die Teilnahme an der Praktikumslotterie leisten zu können und vielleicht einen Job zu ergattern. Das habe ich selbst auch hinter mir: Ich habe bis tief in die Nacht geschuftet und an den Wochenenden freiberuflich gearbeitet, um mir ein Vollzeitpraktikum zu finanzieren, das mich letztlich nicht weitergebracht hat. Der klägliche Rest der heimlichen Libertären in mir befeuerte mein ausgebranntes Selbst mit erschöpften Slogans: Du musst nicht die Beste sein, Du musst nur besser sein als der Rest; höre nicht auf, wenn es weh tut, höre erst auf, wenn Du fertig bist; schlafen kann man noch, wenn man tot ist.
Nach einer Runde Mexikaner, serviert in einer Vielzahl verschiedener Behältnisse von fleckigen Schnapsgläsern bis hin zu leeren Einmachgläsern, war ich an der Reihe, meinen Beruf zu verraten: Grafikdesignerin. Aber wie es sich für Millennials gehört, war ich außerdem auch Autorin, Erzieherin, Sozialarbeiterin, Retuscheurin, Studio-Fotografin, Video-Editorin, Illustratorin und gerade in einem kostenlosen html-Kurs eingeschrieben. Wie es der Zufall wollte, war mein Gegenüber auf der Suche nach jemandem, der ihm ein Logo designen würde. »Der Job ist bezahlt«, grinste er stolz. In der Kreativbranche ist es nicht selbstverständlich, für hochqualifizierte Arbeit Geld zu bekommen – ein Angebot wie dieses heftet man sich daher wie ein Ehrenabzeichen an die Brust.
Ich spitzte die Ohren und dachte nervös an die Mahngebühren für die Rückzahlung meines Studienkredits. Ich hatte es bereits aufgegeben, den Kredit jemals vollständig zurückzahlen zu können. Meine neue Strategie war, so lange zu überleben, bis die Gelddruckmaschinen der US-Notenbank eine Hyperinflation auslösen und meine Schulden nichtig machen würden. »Wie viel verlangst Du für ein Logo?«, fragte er. »Für 250 Euro würde ich es machen«, antwortete ich und bereute es sofort.
Selbst für ein einfaches und uninspiriertes Logo war das viel zu wenig. Wieder einmal hatte mich meine finanzielle Notlage dazu gebracht, einen Preis für meine Arbeit zu verlangen, mit dem ich mich unwohl fühlte. Nicht, weil ich sechs Jahre lang Design studiert hatte, weil ich mehr als zehn Jahre lang freiberuflich gearbeitet hatte oder weil die deutsche Krankenversicherung so dermaßen teuer ist – sondern weil ich wusste, dass der Stundensatz unter dem Mindestlohn liegen würde, wenn man den gesamten Prozess des Logodesigns berücksichtigte: Recherche, Skizzen, Konzept, Typografie, Farbpalette, Pitch, Kommunikation, Überarbeitungen, Endprodukt.
Mein breitschultriger Entrepreneur war sichtlich enttäuscht. »Ich hatte viel weniger erwartet. Ich weiß, dass Outsourcing schlecht für die lokale Wirtschaft ist, aber auf Fiverr bekomme ich ein Logo für 5 Euro«, erwiderte er schulterzuckend. »Wohin denn outsourcen?«, fragte ich, und verdrängte dabei den Gedanken an einen Artikel über die trostlose Akkordarbeit unterbezahlter Facebook-Content-Reviewer in Indien, den ich kürzlich gelesen hatte. Ihre Tätigkeit war so belastend, dass psychische Zusammenbrüche an der Tagesordnung waren. »Nach Amerika«, antwortete er; sein Gesichtsausdruck unergründlich.
***
Freelancer waren früher einmal ein stolzes Völkchen. Sie sahen sich gern als Rebellen, die aus ihren tristen Büros ausgebrochen waren, nachdem sie es sich mit ihren Chefs verscherzt hatten. Nun konnten sie ihr Gehalt und ihre Arbeitszeiten selbst bestimmen. Das »Gig« in »Gig Economy« weckte Assoziationen an einen Rockstar-Status – man kam, man rockte, ließ das Mikro fallen und ging, während die Menge noch am Jubeln war. Eine unabhängige Auftragnehmerin zu sein, bedeutet heute, dass man jemand anderem eine Menge Geld spart. Unternehmen stellen Freelancer nicht mehr wegen ihrer Fähigkeiten ein, sondern um Arbeitsgesetze zu umschiffen und Miete, Gesundheitsvorsorge und Renten einzusparen.
Dein eigener Chef zu sein, bedeutet, zu Deinem eigenen schlimmsten Feind zu werden. Dass Du Deine Arbeitszeiten selbst bestimmen kannst, heißt, dass Du die Wochenenden durcharbeiten wirst. Und was das Gehalt angeht: Unabhängige Auftragnehmer sind zu einer prekären Klasse mit nur geringen Ersparnissen geworden. Internationale E-Lancing-Plattformen wie Fiverr versprachen Freiheit durch Effizienz – da man weniger Zeit mit der Suche nach Kundinnen und Kunden verbringen würde, hätte man folglich mehr Freizeit. Die junge Generation jubelte – der uneingeschränkte Zugang zu Kundschaft machte unbezahlte Praktika überflüssig. Doch genau wie bei den E-Mails wurde dadurch alles nur noch schlimmer.
Fiverr ist vor gerade einmal elf Jahren an den Start gegangen und inzwischen Milliarden von Dollar wert. 3,4 Millionen aktive Käuferinnen und Käufer tummeln sich auf der Plattform. Während diese weiter wuchs, wurde ihre Belegschaft immer globaler. Der Mangel an Regulierung hatte einen weltweiten Wettkampf zur Folge, bei dem Freelancer aus San Francisco mit Freelancern aus Mumbai konkurrieren. Irgendwann erlaubte Fiverr, auch mehr als 5 Dollar für einen Auftrag zu verlangen – aufgrund des knallharten Wettbewerbs arbeiten dennoch viele zu Preisen in der Nähe dieses Basissatzes. Auch Deutschland ist davon nicht verschont geblieben. Nachdem eine Marktanalyse ergeben hatte, dass deutsche Freiberufler immer noch ihren Lebensunterhalt bestreiten konnten, eröffnete Fiverr ein Büro in Berlin und startete im Jahr 2020 eine deutsche Version der Plattform.
»Dein eigener Chef zu sein, bedeutet, zu Deinem eigenen schlimmsten Feind zu werden.«
Damit sich ein 5-Dollar-Logo für eine Designerin in Deutschland rechnet, muss sie es in weniger als einer Stunde fertigstellen. Wie ist das möglich? Auf der Homepage von Fiverr heißt es: Es gibt keine Stundensätze. Mit anderen Worten: Es gibt keinen Mindestlohn. Auf der Seite werden ausschließlich die Kundinnen und Kunden angesprochen. Den Arbeitenden hingegen werden keinerlei Versprechungen gemacht. Fiverr garantiert, dass die Zahlungen erst freigegeben werden, wenn die Arbeit abgenommen wurde. Das bedeutet, der Kunde hat immer recht: Die Designerin wird erst bezahlt, wenn der Kunde das endgültige Projekt angenommen hat. Wenn sie am Ende Überstunden schieben muss, weil er sich erst nach vielen Änderungen zufrieden gibt, ist eine Neuverhandlung des Gehalts nicht möglich. Außerdem bleibt ihm das Recht vorbehalten, eine Rückzahlung zu verlangen, auch nachdem ein Projekt abgeschlossen ist.
Es gibt unzählige Horrorgeschichten über Kunden, die Monate nach der Unterzeichnung eines Auftrags ihr Geld zurückverlangen, mit Begründungen wie »Ihr Logo ist daran schuld, dass mein Produkt gescheitert ist« oder »Ihr Lektorat ist der Grund dafür, dass mein Erotikroman von den Verlagen abgelehnt wurde«. Der Kundensupport steht dabei unerschütterlich auf der Seite der Käufer – selbst wenn die Freelancer rassistisch diskriminiert werden. Die Youtuberin Tyra The Creative berichtete von einem Kunden, der sich weigerte, zu zahlen, nachdem sie zehn fertige Produktfotos abgeliefert hatte. Der Grund? Auf den Fotos waren Schwarze Models zu sehen. Obwohl das Design-Briefing keine Angaben zur Hautfarbe gemacht hatte, stellte sich der Kundensupport auf die Seite des Klienten.
Fiverr wurde auf dem Rücken von Freelancern errichtet – das Geschäftsmodell des Unternehmens basiert auf saftigen 20 Prozent Provisionsgebühren, selbst auf Trinkgelder. Außerdem erheben sie Paypal-Gebühren, was bedeutet, dass bei einem 5-Dollar-Logo am Ende weniger als 4 Dollar an Einkommen übrigbleiben.
Du fragst Dich jetzt wahrscheinlich, wie ein 5-Dollar-Logo aussieht. Als ich Fiverr vor einigen Jahren erstmals durchstöberte, konnte man noch sagen: Man bekommt, was man bezahlt. Heute gilt das nicht mehr. Zwar sorgt das exponentielle Wachstum der Plattform dafür, dass die Qualität im Durchschnitt mäßig bleibt, jedoch haben inzwischen auch professionelle Designerinnen mit Abschlüssen und jahrelanger Erfahrung die Arena betreten. Es gibt einige beeindruckende Portfolios. Aber die bestbezahlten und beliebtesten Designer sind nicht unbedingt die talentiertesten.
Ein Auge für Design zu entwickeln, ist ein lebenslanger Prozess. Eine hervorragende Designerin ist nicht einfach eine angeheuerte Arbeitskraft, sondern eine Lehrerin, die den Kunden durch den Gestaltungsprozess führt und ihm die Prinzipien guten Designs nahebringt. Kunden mit großen Egos und schlechtem Geschmack gibt es überall, aber das Machtungleichgewicht auf Fiverr führt dazu, dass hochqualifizierte Arbeitskräfte als entbehrlich behandelt werden. Die Plattform anonymisiert die Beziehung zwischen Auftraggeberinnen und Auftragnehmern, indem sie die Weitergabe persönlicher Informationen und externer Links verbietet. Der Wettlauf gegen die Zeit verhindert jede sinnvolle Kommunikation. Machtlos und unsichtbar, produzieren talentierte Freelancer fade, immergleiche Inhalte.
Die Neoliberalen haben recht, wenn sie argumentieren, dass der uneingeschränkte Wettbewerb Kreative dazu zwingt, sich der neuesten Technologie anzupassen und ihre Arbeitsprozesse zu beschleunigen: Plagiate, Betrügereien und dubiose Workarounds sind Standard. Recherche, Inspiration und Konzeption lassen sich nicht automatisieren.
Der Verzicht auf existenzsichernde Löhne sorgt bekanntermaßen nicht dafür, dass die Lebenshaltungskosten auch wegfallen. Deshalb sind die Arbeiterinnen und Arbeiter gezwungen, mehr Output in kürzerer Zeit zu produzieren. In ihrer Verzweiflung beginnen sie, an allen Ecken und Enden zu sparen. Wer »wie kann man mit Fiverr richtig Geld machen« googelt, findet Hunderte von Youtube-Tutorials, die erklären, wie man mithilfe fragwürdiger Taktiken schneller produzieren kann. Da es unmöglich ist, ein Logo in weniger als einer Stunde zu entwerfen, und es ebenso unmöglich ist, von einem Stundensatz unter Mindestlohn zu überleben, greifen einige zur Technik des Plagiats. Kreative setzen auch zunehmend auf KI-Tools, die in Sekundenschnelle generische Logos ausspucken, sowie auf algorithmische gans-Technologie, welche die immergleiche Konzeptkunst erzeugt.
»Ich habe mir auf Fiverr drei Freundinnen gekauft.«
Viele Werbetexter, die mit dem Korrekturlesen von Romanen nicht über die Runden kommen, bieten nebenher illegale Leistungen an, wie das Verfassen gefälschter Amazon-Rezensionen. Ein weiterer, sehr beliebter »Tipp« zum Geldmachen: Arbitrage. Ein Artikel mit dem deprimierenden Titel »Fiverr Arbitrage: Ways To Build A Sustainable Business« ermutigt Unternehmer, gut bezahlende Kunden mit billigen Arbeitskräften zusammenzubringen und die Differenz einzusacken«. Um in das Geschäft des Lohnmissbrauchs einzusteigen, eröffnet man ein Konto auf einer anderen E-Lancing-Plattform, auf der die Freelancer etwas besser behandelt werden, um dann sämtliche Aufträge heimlich an Fiverr outzusourcen. In einer Welt, in der jeder jeden frisst, wird Innovation für Ausbeutung verschwendet.
Auf Fiverr gibt es keinen Unterschied zwischen einem Käufer- und einem Verkäuferaccount. So können ausgebeutete Arbeiter vorübergehend zu »Mini-Kapitalisten« werden, wie es die Ökonomin Grace Blakeley ausdrücken würde. Wenn man sich übergangen fühlt, kann man, anstatt sich darüber zu ärgern, jemand anderen übergehen. Diese gegenseitige Ausbeutung hat ein Youtube-Phänomen hervorgebracht, bei dem besser verdienende Freelancer schlechter verdienende dazu beauftragen, verschiedene, oft absurde Aufgaben auszuführen. Die Ergebnisse werden dann öffentlich zu Unterhaltungszwecken beurteilt.
Weil die Preise so niedrig sind, werden meist mehrere Leute auf einmal für die gleiche Sache angeheuert, wobei nicht immer klar ist, ob diese zugestimmt haben, auf Youtube vorgeführt zu werden. Die Titel folgen dem Muster »Ich habe auf Fiverr X für Y angeheuert« und laden das Publikum in den Zoo der unterbezahlten Arbeit ein. Zu bestaunen gibt es alles von Designwettbewerben – »Ich habe auf Fiverr fünf Designer für dasselbe Logo angeheuert« – über Kinderausbeutung – »Ich habe auf Fiverr einen zwölf-jährigen Pro-Gamer angeheuert, um mir bei Fortnite zu helfen« – bis hin zu emotionaler Arbeit: »Ich habe mir auf Fiverr drei Freundinnen gekauft.«
Die Hoffnung, dass solche Videos zumindest kritische Kommentare ernten, wird enttäuscht: Die meisten reagieren mit ekstatischem Unglauben darüber, wie viel man für 5 Dollar kaufen kann, und applaudieren den Youtubern für ihren Unternehmergeist. Die lächerlich günstigen Fiverr-Preise erleichtern es, sich selbst als potenzielle Käufer zu sehen und sich mit den schnäppchenjagenden Youtubern zu identifizieren anstatt mit den ausgebeuteten Arbeitern. Auf Fiverr zeigt sich nicht nur, wie erschreckend weit die Kommerzialisierung sämtlicher Lebensbereiche fortgeschritten ist – besonders beunruhigend ist, dass das Mindestalter für Freelancer auf der Plattform bei gerade einmal dreizehn Jahren liegt.
***
Alle lieben »Vom Tellerwäscher zum Millionär«-Geschichten. Jüngst ist die »Solopreneurin« und Fiverr-Millionärin Alex Fasulo zum Postergirl des Erfolgs digitaler Sweatshops geworden. Nachdem sie ihren miserablen Job gekündigt hatte, meldete sie sich in ihrer wirtschaftlichen Not als Texterin bei Fiverr an. Ihr Angebot: eine Pressemitteilung für 5 Dollar. Anfangs hatte sie Mühe, Kunden zu finden und verdiente nur magere 40 Dollar im Monat. Aber sie blieb hartnäckig und versprach, rund um die Uhr erreichbar zu sein. Als sie dann genügend Fünf-Sterne-Bewertungen gesammelt hatte, strömte die Kundschaft nur so herbei und sie konnte ihre Preise erhöhen. Nachdem sie fünf Jahre lang sieben Tage die Woche gearbeitet hatte – und an manchen Tagen bis zu achtzehn Stunden –, verdient sie inzwischen ein sechsstelliges Jahreseinkommen und bezeichnet sich selbst als »stolze Besitzerin eines Eigenheims« – unter den schuldengeplagten Millennials das ultimative Zeichen des Erfolgs. »Sechs Jahre, in denen ich mir nie einen Tag frei genommen habe. Ich habe alles gegeben«, lässt sie ihre wachsende Tiktok-Fangemeinde wissen und erinnert sie daran: »Man kann auf Fiverr niemals einen Tag frei machen.«
Aber wenn man einmal nachrechnet, offenbart sich ein anderes, eher düsteres Bild: Alex Fasulos Preise liegen zwar deutlich über dem Fiverr-Durchschnitt, sind für jemanden mit ihrer Erfahrung aber immer noch niedrig. Auf ihrem Fiverr-Account kann eine professionell geschriebene Pressemitteilung mit 300 Wörtern für 125 Dollar erworben werden. Ein E-Book mit 10.000 Wörtern kostet 1.200 Dollar – weit weniger als die 50 Cent pro Wort, die freiberuflichen Autorinnen und Autoren empfohlen werden. In ihren fünf Jahren bei Fiverr hat sie 11.000 Projekte abgeschlossen. Angenommen, dass sie sieben Tage die Woche arbeitet, entspricht das sechs Projekten pro Tag.
Fasulo ist ohne Zweifel eine außergewöhnlich schnelle Texterin: Sie schreibt mit einer Geschwindigkeit von 3.000 Wörtern pro Stunde und braucht nur zwei Tage für ein ganzes E-Book. Aber was ist mit den entscheidenden Arbeitsschritten, die vor dem Schreibprozess kommen – etwa nachdenken oder recherchieren? In einem Youtube-Interview beschreibt sie ihren Schreibprozess wie folgt: »Der Auftraggeber sagt zum Beispiel: ›Ich möchte einen Blogeintrag über die fünf Gründe, warum cbd dieses Jahr eine große Sache wird.‹ Diesen Satz kopiere ich dann zu Google rüber und sehe mir an, was andere dazu geschrieben haben. Ich mache keine Vorrecherche, ich lese und schreibe einfach drauf los. Ich suche mir Quellen heraus, die ich für solide halte, und übernehme ihre Ideen. Und ich füge sie so zusammen, dass dabei etwas Neues herauskommt.«
Heute, da Fiverr zu einem wahren Giganten in der digitalen Dienstleisungsbranche geworden ist, müssen Neulinge noch mehr Zeit investieren, bevor sie sich ein existenzsicherndes Einkommen verdienen können. Man müsse bereit sein, zwölf Stunden am Tag zu arbeiten, ohne dabei mehr als 10.000 Dollar im Jahr zu verdienen – so rät es Fasulo ihren Followern. Ihr Motto lautet: »Niemand schuldet Euch auch nur das Geringste.« Sie will vom Schreiben in die Lehre wechseln und vermarktet sich dieser Tage als »Vordenkerin«.
»Schlafentzug ist Deine Lieblingsdroge. Vielleicht bist Du eine Macherin.«
Das Thema Privilegien lässt sie in ihrer Erzählung jedoch außen vor. Man kann nicht guten Gewissens von jemandem verlangen, sich etwas anzusparen, um Monate über Monate unter dem Existenzminimum zu arbeiten. Ebenso sollte man von niemandem das geistige Durchhaltevermögen erwarten, ohne Wochenenden durchzuarbeiten. Fasulo wirbt bei Hunderttausenden von jungen Leuten für den libertären Traum, dass jeder erfolgreich sein kann, wenn er nur bereit ist, hart genug dafür zu arbeiten. Auch die Werbekampagnen von Fiverr werben für einen Lebensstil des Schuftens bis zum Abwinken: Eine Anzeige zeigt das Schwarz-Weiß-Foto einer jungen Frau mit der Tagline: »Du isst einen Kaffee zum Mittag. Wenn Du durchziehst, ziehst Du durch. Schlafentzug ist Deine Lieblingsdroge. Vielleicht bist Du eine Macherin.«
Manche Freelancer fühlen sich dabei vielleicht angehalten, anderen Freelancern vorzuwerfen, dass sie die Preise drücken, indem sie bereit sind, für so wenig Geld zu arbeiten. In der Welt der Selbstständigkeit sind Connections alles – Kaltakquise führt selten zum Erfolg. Gute Kunden neigen dazu, mehr gute Kunden mit sich zu bringen. Schlechte Kunden tun das nicht. Am Anfang verlassen sich Freelancer auf ihre Beziehungen: Familienunternehmen, Kommilitoninnen, Freundesfreunde. Aber wenn einmal ihre Mahngebühren eintrudeln und sie einige Aufträge an Fiverr verloren haben, werden sie vor Verzweiflung gezwungen sein, in Konkurrenz zu treten. Gute Connections zu haben und schlecht bezahlte Aufträge ablehnen zu können, ist ein Privileg.
Wenn Youtuber damit angeben, einen guten Deal auf Fiverr gelandet zu haben, dann prahlen sie damit, die schwächste Arbeiterin gefunden zu haben, die sich am meisten ausbeuten lassen muss. Dadurch erklärt sich auch ein Phänomen, das viele Zuschauer so sehr erstaunt – nämlich dass ein 5-Dollar-Logo genauso gut sein kann wie ein 100-Dollar-Logo. Da niedrigere Sätze die Wahrscheinlichkeit erhöhen, einen Auftrag zu bekommen, spiegelt der Preis nicht das Talent oder den Arbeitseinsatz, sondern den Grad der Verzweiflung wider.
An dieser Stelle dankst Du im Geiste vielleicht gerade Deinen Eltern, die Dich davon abgehalten haben, Deine kreativen Träume zu verfolgen. Aber Schätzungen zufolge wird bis 2027 die Mehrheit der Arbeiterschaft in den usa aus Vertragsarbeitern bestehen. Kein Job ist sicher. Fiverr ist nicht nur eine Plattform für visuelles Design, sondern ein Alles-Laden für Freelancer – und er expandiert rasant. Man kann heute schon eine Hellseherin, einen Lifecoach, eine Therapeutin, einen Anwalt, eine Biologielehrerin, einen Steuerberater, eine Promi-Imitatorin, einen persönlichen Assistenten, eine PR-Agentin, einen Influencer, eine Beziehungsratgeberin, einen Privatdetektiv, eine 4k-Video-Unboxerin und einen Chatbot-Programmierer auf Fiverr finden.
Der Mangel an Regulierung und Arbeitsschutz für unabhängige Auftragnehmerinnen macht Fiverr zu einem wilden Westen der Ausbeutung. Und Fiverr ist nicht einmal das schlimmste Unternehmen seiner Art. Auf Amazon Mechanical Turk – einer digitalen Dienstleistungsplattform für niedrigqualifizierte Arbeitskräfte – lag der durchschnittliche Stundenlohn 2018 bei rund 2 Dollar – und die Mehrheit der AMT-Arbeiter lebt in den USA.
Es ist vier Jahre her, dass ich zu der Dinnerparty dieser übermäßig optimistischen angehenden Entrepreneure eingeladen war. Es war meine erste Begegnung mit Fiverr. Seitdem habe ich viele weitere Kunden verloren. Obwohl die Mieten heute höher sind als damals, sind meine Freelancing-Sätze inzwischen niedriger. Meine Wochenenden sind ständig für Treffen mit potenziellen Kundinnen und Kunden reserviert. Ich bin jetzt über dreißig – ein Alter, bei dem frühere Generationen bereits ihre Eigenheime besaßen – und lebe immer noch in einer WG mit anderen Freelancern, die ebenfalls am Wochenende arbeiten. Ich weiß nicht, was aus meinem Tischnachbarn geworden ist, aber ich weiß, dass mehrere seiner nicht weniger motivierten Freunde den Hustle aufgegeben haben und wieder bei ihren Eltern eingezogen sind.
Den Gerüchten zum Trotz, dass wir Millennials all unser Geld für Avocado-Toast ausgeben, leben wir in Wirklichkeit ziemlich sparsam. Wir teilen uns unsere Wohnungen, nutzen Carsharing, vermeiden es, Kinder zu bekommen, vermieten halblegal unsere Schlafzimmer auf Airbnb, um unerwartete Rechnungen zu bezahlen, mieten Musik und professionalisieren unsere Hobbys. Das müsste nicht so sein – aus der Entfernung zu arbeiten kann wunderbar sein, wenn Arbeitsrechte durchgesetzt und Freelancer für ihre Tätigkeiten angemessen entlohnt werden. Aber das muss jetzt bald geschehen. Denn langsam gehen uns die Dinge aus, die wir noch teilen, auf die wir noch verzichten und die wir noch zu Geld machen können.