14. Dezember 2023
In Hettstedt in Sachsen-Anhalt feiern die Menschen am 3. Oktober nicht den Tag der Deutschen Einheit, sondern das Flammenfest.
»Die Region, die einst von Industrialisierung gekennzeichnet war, hat heute eine der höchsten Arbeitslosenquoten Deutschlands.«
Im Südharz »brennt« seit knapp fünfzig Jahren die Flamme der Freundschaft. Der Obelisk ragt mitten im Nirgendwo 15 Meter in die Höhe, auf einem Platz, der ziemlich verkommen aussieht. Um die Flamme herum zeugen Firmenwägen von Pflegediensten von der neuen Wirklichkeit: Anstelle des Kupfer-Bergbaus macht in der Region nur noch die Altenpflege Gewinn.
Die 1974 errichtete Flamme erinnert an die damalige Anbindung des Mansfelder Kupferabbaus an das sowjetische Erdgasnetz. Das von den Bergarbeitern selbst erstellte Monument besteht ebenfalls aus Kupfer, dem Stoff, der den Wohlstand in die Region brachte.
Es kommt also nicht von ungefähr, dass die Menschen hier jedes Jahr am 3. Oktober nicht den Tag der Deutschen Einheit, sondern das Flammenfest feiern. Seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine ist es auf tragische Weise auch zu einem Friedensfest geworden. Damals beinhaltete die Freundschaft schließlich auch die Menschen, die in der Ukraine lebten. Und das Erdgas ist durch die Energiekrise auch nicht weniger bedeutungsvoll geworden.
In diesem Jahr ist es stürmisch. Trotzdem kommen Menschen für Bratwurst, Hüpfburg und das Rahmenprogramm zum Platz vor der Flamme und setzen sich an die Biertische. Das Highlight sind die weißen Friedenstauben, die in den freien Himmel entlassen werden. Dazu singt ein Frauenchor von der Schönheit des Mansfelder Landes. Die Stimmung ist melancholisch, und das nicht nur wegen des grauen Wetters.
»Aus der Schlacke, die bei der Erzverhüttung entstand, machten die Bergarbeiter – wie immer in der DDR – etwas Neues, Aschenbecher zum Beispiel.«
Am Rand steht, auf seinen Krückstock gelehnt, Lothar Hentschel. Der Achtzigjährige hätte fast nicht kommen können, die Krankheit wollte ihn zwingen, zu Hause zu bleiben. Doch der ehemalige Bergmann und Gründer des Flammenvereins muss am 3. Oktober einfach zu »seiner« Flamme. Den Verein gründete er, um die Flamme der Freundschaft zu erhalten und an den Bergbau zu erinnern. Im Sockel des Obelisken befindet sich eine Ausstellung: Lothars Lebenswerk.
Hier versammelt er alle möglichen Relikte: alte Schuhe, Lampen und Werkzeuge. Aus der Schlacke, die bei der Erzverhüttung entstand, machten die Bergarbeiter – wie immer in der DDR – etwas Neues, Aschenbecher zum Beispiel. »Wir haben nichts weggeworfen.« Ein Foto des berühmten DDR-Radrennfahrers Täve Schur samt Autogramm ziert einen kleinen Tisch. Täve war auch schon beim Flammenfest, berichtet Lothar stolz. Für das kommende Jahr, das fünfzigste Jubiläum, wünscht sich Lothar, dass die letzte Wirtschaftsministerin der DDR, Christa Luft, zum Flammenfest kommt.
Lothar wollte nie etwas anderes als ein Bergmann sein. Er arbeitete acht Jahre unter Tage, auch im Thälmann-Schacht – einem der Schächte, die nach großen Arbeiterführern benannt wurden. Zu Recht, wie Lothar findet. Auch wenn es eine »schweinische Arbeit« gewesen sei, erzählt er: »Ich habe mich wohler gefühlt unter Tage als über Tage.« Als der Kupferabbau im Mansfelder Land dann vor sechzig Jahren beendet wurde, sattelte Lothar zum Maschinenbauer um und wurde ein bekannter Ringer der DDR. Doch den Schacht, davon zeugt dieses kleine Museum, hat Lothar nicht vergessen. Tagsüber, berichtet er, habe man Figuren von Lenin und Thälmann gegossen, »in der Nachtschicht dann die Naksche« – ein Lächeln wandert über das Gesicht des sonst sehr ernsten Mannes. Bei den Liedern des Frauenchors singt er mit. Hier bedeutet das Glückauf noch etwas.
Beim Rundgang wischt er Staub von den Bilderrahmen und Fundstücken. Es kümmert sich ja niemand mehr. »Manchmal«, sagt Lothar draußen während der Rede des Bürgermeisters, »möchte ich nur etwas mehr Respekt.« Die Region, die einst von Industrialisierung gekennzeichnet war, hat heute eine der höchsten Arbeitslosenquoten Deutschlands. Die Flamme der Freundschaft zu erhalten, hieße auch, die Hoffnung auf eine andere, eine bessere Zukunft für die arbeitenden Menschen wachzuhalten. Doch diesen Traum müssen schon andere erneuern und verwirklichen.
Wenn im nächsten Jahr Christa kommt, sagt Lothar, kann er danach auch sterben.
Ines Schwerdtner ist seit Oktober 2024 Bundesvorsitzende der Linkspartei. Von 2020 bis 2023 war sie Editor-in-Chief von JACOBIN und Host des Podcasts »Hyperpolitik«. Zusammen mit Lukas Scholle gab sie 2023 im Brumaire Verlag den Sammelband »Genug! Warum wir einen politischen Kurswechsel brauchen« heraus.