08. Dezember 2022
Zielgenauigkeit braucht es bei der Vermögensabgabe für das reichste Prozent, nicht bei den Entlastungen für die große Mehrheit.
»Lieber 1.000 Euro für Arme als 300 Euro für alle«, findet Friedrich Merz.
Die Menschen werden wieder ärmer – von den kleinen Einkommen bis zu den mittleren. Dennoch gibt es auf der Linken keine nennenswerten politischen Landgewinne, weder in der öffentlichen Debatte noch auf der Straße, die die Regierung unter Druck setzen und den rechten Protestlern das Wasser abgraben könnten. Dabei ist dies der Moment, zu beweisen, dass eine Politik für die große Mehrheit möglich ist. Stattdessen beherrschen neoliberale Dogmen die politische Debatte von rechts bis links.
Das größte Dogma ist die Annahme, alle Maßnahmen müssten notwendig durch Steuern gegenfinanziert werden. Aus ihr folgt die Mahnung, eine Politik der Gießkanne zu vermeiden, damit ja niemand entlastet wird, der nicht in absoluter Not ist. Diese Mythen untermauern den wirtschaftsliberalen Mainstream und blockieren einen progressiven Gegenentwurf, der die große Mehrheit der Gesellschaft kurzfristig entlasten und langfristig ermächtigen würde. Denn eine linke Erzählung, die selbst in diesen Dogmen verharrt, verstrickt sich notwendig in Widersprüche. Progressive Maßnahmen, die wirklich etwas ändern, erscheinen nämlich unter diesem Vorzeichen als ökonomisch wie umsetzungstechnisch fragwürdig.
Das zeigt sich zum Beispiel an den Direktzahlungen, die immer wieder ins Spiel gebracht werden: Aus Angst vor der Gießkanne werden da willkürliche Grenzen irgendwo durch die Mittelschicht gezogen, an denen die Hilfen einfach aufhören – als verliefe der Klassengegensatz zwischen Kapital und Arbeit bei der Hälfte oder zwei Dritteln der Bevölkerung.
So kommt es, dass vom CDU-Chef Friedrich Merz bis zum Chef des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Ulrich Schneider, viele das gleiche Bild bedienen: Das Geld ist knapp, daher sollten wir gezielt die Ärmsten entlasten und bei der Mittel- und Oberschicht sparen. Schneider meint, »die adäquate Antwort auf die Inflation wäre eine offensive Sozialpolitik, die nicht auf das Prinzip Gießkanne … setzt«. Merz bringt das auf den Slogan »lieber 1.000 Euro für Arme als 300 Euro für alle«. Das mag im ersten Moment einleuchten, da die Ärmsten selbstredend dringender Entlastungen benötigen. Im Endeffekt bedeutet das aber, die große Mehrheit gegen die Ärmsten auszuspielen. Dabei ist es allemal möglich und ökonomisch geboten, zugleich die Ärmsten und die große Mehrheit zu entlasten.
Um sich von diesen neoliberalen Dogmen zu befreien, benötigen Linke einen anderen Ansatz, der konsequent die 99 Prozent anvisiert und dabei neue politische Möglichkeiten eröffnet: eine Politik der großen Schritte, die umfangreiche materielle Verbesserungen vorstellbar macht und zugleich ihre Umsetzung erleichtert.
Bei den Forderungen der Kampagne Genug ist Genug haben wir genau das beherzigt. Ein zu versteuerndes Wintergeld von 1.000 Euro für alle soll vor allem die größte Not lindern. Daneben muss das populäre 9-Euro-Ticket wieder eingeführt werden, um günstige Teilhabe am öffentlichen Leben zu ermöglichen. Auch der Gaspreisdeckel ist in den Forderungen enthalten, da nur er die notwendige Planungssicherheit für den Winter und darüber hinaus geben kann. Die Kampagne kämpft außerdem für höhere Löhne, da nur diese gegen dauerhaft hohe Preise helfen. Ferner müssen die Energiekonzerne vergesellschaftet werden, um demokratische Kontrolle über die Energiesicherheit und Energiewende zu erlangen. Und damit sich niemand in der Krise die Taschen füllt, fordern wir eine wirksame Übergewinnsteuer, um die massiven Gewinne abzuschöpfen, die gegenwärtig auf Kosten der ganzen Gesellschaft eingestrichen werden.
»Nicht einmal theoretisch lassen sich die notwendigen Mittel über Steuern mobilisieren.«
Alle diese Forderungen liegen im Bereich des Möglichen, wenn auch unterschiedlich nahe. Wichtig ist, dass von der konkreten Direkthilfe bis hin zur langfristigen Perspektive auch Zwischenschritte eingezeichnet sind, für die es sich zu kämpfen lohnt. Blieben wir bei der Forderung nach Einmalzahlungen stehen, würden wir letztlich einen viel zu niedrigen Anspruch an Politik bedienen. Würden wir nur die Enteignung großer Energiekonzerne verfolgen, sänke insgesamt die Umsetzungschance. Erst das Ensemble an Forderungen macht deutlich, dass wir weder einfach nur flickschustern wollen, noch an Luftschlössern bauen, sondern mit beiden Füßen auf dem Boden der Tatsachen stehen und nichtsdestotrotz weitreichende Verbesserungen für die große Mehrheit verfolgen.
Damit es eine solche Politik geben kann, braucht es staatliche Handlungsfähigkeit. Dass der Staat in Wirklichkeit handlungsfähiger ist, als die Politik meist vorgibt, beweist gerade ausgerechnet die Ampelregierung, wenn auch längst nicht in ausreichendem Maße. Denn indem sie einen Schattenhaushalt nach dem anderen auf den Weg bringt und die Schuldenbremse immer wieder krisenbedingt aussetzt, zeigt sie, wie dehnbar die Spielregeln der Haushaltspolitik sind. Diese Ausweitung des Spielraums ist bereits ein Fortschritt – ihr Nutzen wird nur dadurch beschränkt, dass sie nicht von einer progressiven Regierung vorgenommen wird, sondern von einer, der man jeden sozialen Ausgleich mühsam abringen muss. Dieser Schritt, mit der Schuldenbremse zu brechen, erleichtert jedoch die Umsetzung aller nachfolgenden Maßnahmen. Eine linke Regierung würde ähnliches in viel höherer Intensität tun.
Wenn wir die bisherigen Entlastungspakete der Regierung kritisieren, geht es uns also nicht nur um die gerechte Verteilung der gegebenen Mittel, sondern vor allem auch um den Umfang der Hilfen. Bei einem Waldbrand reicht es auch nicht aus, nur einige Bäume zu löschen. Es müssen alle gelöscht werden, da sich der Brand sonst weiter ausbreitet. Mit diesem Bild im Hinterkopf gehen wir in der Kampagne auch gegen die einengende Logik der Gegenfinanzierung vor: Wenn Hunderte Milliarden Euro für Entlastungspakete und militärische Aufrüstung vorhanden sind, dann gibt es auch Geld für weitreichendendere Entlastungen der großen Mehrheit und die Vergesellschaftung der Energieindustrie. Es ist nur eine Frage des politischen Willens.
Erst dann, wenn wir mit der Logik der Gegenfinanzierung brechen, können wir auch wirkliche materielle Verbesserungen erreichen. Nur der Staat kann kurzfristig solche hohen Krisenkosten stemmen. Nicht einmal theoretisch lassen sich die notwendigen Mittel über Steuern mobilisieren – würde man es doch versuchen, wäre das mit erheblichen ökonomischen Schäden verbunden. Zum Beispiel eine vergleichsweise starke Vermögensteuer hätte ein Jahresaufkommen von rund 50 Milliarden Euro – und das auch nur für die Länder und nicht für den Bund. Für die Krisenbewältigung werden aber jetzt schon mehrere hundert Milliarden Euro veranschlagt, was angesichts der drohenden Wirtschaftskrise nicht mal viel ist.
Dieser eine große Schritt weg von der Logik der Gegenfinanzierung ist also die Grundlage für progressive Politik und ermöglicht erst alle weiteren Schritte, wie den Energiepreisdeckel oder die Vergesellschaftung der Energieindustrie. Diese stellen fundamentale Eingriffe in die Marktmechanismen und das Privateigentum an Produktionsmitteln dar und erleichtern dadurch wiederum weitere Maßnahmen zur Demokratisierung der Wirtschaft.
»Der Klassengegensatz verläuft nicht bei ein paar Prozenten am oberen Ende mehr oder weniger, sondern innerhalb des reichsten Prozents der Gesellschaft.«
Das gilt ebenso für die Verlängerung des 9-Euro-Tickets: Sie bildet einen Zwischenschritt zum kostenlosen ÖPNV und erleichtert die weitere Ausweitung der öffentlichen Daseinsvorsorge. Die Übergewinnsteuer, die die gegenwärtige Umverteilung von unten nach oben stoppt, kann der erste Schritt zur Umverteilung von oben nach unten sein. Auch die höheren Löhne, die man ja nicht einfach politisch beschließen kann, werden indirekt durch das große Volumen der Entlastungen ermöglicht. Denn solche großen Entlastungspakete sichern nicht nur die soziale Teilhabe, sondern stabilisieren auch die Nachfrage. Und nur bei einer gutlaufenden Wirtschaft haben die Arbeitenden die Verhandlungsmacht, wieder mehr vom Kuchen zu verlangen.
Im Zuge der Energiekrise bedeutet eine Politik für die 99 Prozent: Alle, die unter den steigenden Preisen leiden, werden mit der Gießkanne entlastet. Die Alternative wäre, willkürliche Grenzen zu ziehen, an denen die Hilfeleistung aufhört. Es kommt dann unweigerlich die Frage auf: Sollte man nur noch Menschen in Armut entlasten, Armutsgefährdete, die untere Hälfte – oder eine vollkommen verrückte Grenze mit sechs Nachkommastellen ziehen? Und was passiert, wenn man nur einen Euro über dem Grenzbetrag verdient – geht man dann einfach leer aus? Das bildet auch nicht gerade Klassenbewusstsein, denn auf diese Weise wird die arbeitende Klasse gespalten, anstatt sie trennscharf der Klasse der Besitzenden gegenüberzustellen.
Der Klassengegensatz verläuft nämlich nicht bei ein paar Prozenten am oberen Ende mehr oder weniger, sondern innerhalb des reichsten Prozents der Gesellschaft. Zu dieser Gruppe gehört man schon mit rund 2 Millionen Euro Vermögen, wenn man keine Schulden hat. Am unteren Ende des obersten Prozents besteht noch rund die Hälfte des Vermögens aus überwiegend selbstgenutzten Immobilien. Erst später drehen sich die Verhältnisse: Der Anteil des Immobilienvermögens nimmt rapide ab und der des Unternehmensvermögens rasant zu. Gleichzeitig steigt das Vermögensvolumen drastisch an. So besitzen die obersten 0,1 Prozent so viel wie die 0,9 Prozent unter ihnen.
Wenn man über die Superreichen spricht, die sich über Gewinn, Zins und Miete den Mehrwert der Vielen aneignen und entsprechend überproportionale gesellschaftliche Macht ausüben, dann meint man also einen kleinen Teil des obersten Prozents. Alle anderen gehören mehr oder weniger zur Klasse der Lohnabhängigen. Selbst diejenigen im obersten Prozent mit Spitzeneinkommen ab rund 280.000 Euro haben zwar auf Management-Ebene ein wenig Macht, aber nichts, das mit der Macht der Superreichen über Zehntausende Beschäftigte oder milliardenschwere Investitionen vergleichbar wäre. Daher ist der Blick auf das Vermögen so entscheidend.
Entsprechend setzen die hierzulande gängigen Modelle für eine Vermögensteuer effektiv immer erst irgendwo innerhalb des reichsten Prozents an. Die Vermögensteuer, die Bernie Sanders in den USA vorschlägt, würde sogar nur die obersten 0,1 Prozent treffen – Menschen mit Nettovermögen oberhalb von 32 Millionen Dollar. Zum Vergleich: In Deutschland gehört man ab einem Vermögen von rund 10 Millionen Euro zu den obersten 0,1 Prozent.
Eine Linke, die sich den 99 Prozent als Zielgruppe verschreibt, macht also unmissverständlich klar, dass es ihr um die große Mehrheit der Bevölkerung geht. Sozialistische Politik ist eine Politik für alle von Arbeitslosen über prekär Beschäftigte und die Angestellten im öffentlichen Dienst bis hin zur oberen Mittelschicht aus Ingenieurinnen und Architekten.
Dieser Ansatz ist nicht nur ökonomisch und politisch sinnvoll, sondern ermöglicht auch praktikablere Maßnahmen. Denn so blöd es klingt: Die Maßnahmen müssen tatsächlich umgesetzt werden können, anderenfalls verspielt progressive Politik das Vertrauen der Menschen – möglicherweise auf Jahrzehnte. Direktzahlungen bis zu einer willkürlichen Grenze sind zum Beispiel derzeit gar nicht möglich, da keine Behörde über die Kontodaten aller Menschen verfügt – geschweige denn über ihre Sozialmerkmale bescheidweiß.
»Dass auch alle Superreichen das Wintergeld erhalten würden, fällt verteilungspolitisch nicht ins Gewicht.«
Trotzdem sind soziale Ausgleichsmechanismen möglich, etwa in Form von 1.000 Euro Wintergeld für alle, die über gängige Wege wie die Lohnsteuer oder die Sozialkassen ausbezahlt werden. Und selbst mit der Gießkanne kann man ein bisschen zielen: In Anlehnung an die Energiepreispauschale sollte das Wintergeld versteuert werden, um darüber einen erprobten und unbürokratischen Weg des sozialen Ausgleichs zu nutzen, anstatt mit einer Grenze einen komplett neuen zu schaffen.
Auf diese Weise würden zwar auch alle Superreichen das Wintergeld erhalten, das sie streng genommen nicht nötig haben – das fällt verteilungspolitisch nicht ins Gewicht: Für den Dax-Manager mit über 20 Millionen Euro Einkommen oder die Superreichen mit dutzenden Milliarden Euro Vermögen sind das Peanuts. Vor allem sind diese paar Hundert Euro egal, wenn die Superreichen im Gegenzug Zehntausende Euro durch eine Vermögensabgabe zahlen. In der Krise bei den Entlastungen zu sparen, ergibt also überhaupt keinen Sinn.
Je einfacher man den Mechanismus gestaltet, desto effektiver entkräftet man auch die wirtschaftsliberalen Argumente, nach denen Entlastungen technisch kaum umsetzbar wären. Nichts steht progressiver Politik derzeit mehr im Wege als die Diskurshoheit der Wirtschaftsliberalen. Aber es führt kein Weg daran vorbei: Die 99 Prozent können Linke nur erreichen, indem sie in den Debatten des Mainstreams den Ton angeben.
Lukas Scholle ist Volkswirt, Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Finanzpolitik im Deutschen Bundestag und Kolumnist beim Jacobin Magazin.