10. Juli 2024
Fußball sorgt bei Fans für mitunter heftige Emotionen. Wer nicht weiß, wohin mit diesen Gefühlen, lässt sie an Partnerin und Kindern aus. Damit Fußball nicht zum Gewalt-Trigger wird, brauchen wir vor allem niedrigschwellige Schutzmaßnahmen.
Das National Centre for Domestic Violence und die Organisation Solace haben mit ihrer Kampagne »No More Injury Time« den Fokus auf den Anstieg häuslicher Gewalt während Sportereignisse wie der EM gelenkt.
»So viele schöne Frauen hier in der Stadt!«, grölt ein Fußballfan und glotzt uns im Vorbeilaufen an. »Wir haben keinen Bock, von dir kommentiert zu werden!«, erwidert meine Freundin verärgert. Unangenehme Situationen wie diese erleben Frauen und LGBTQ-Personen regelmäßig – in den letzten Wochen seit Beginn der EM jedoch spürbar öfter als sonst. Denn gerade der Fußball löst bei vielen Fans heftige Emotionen und grenzenlosen Bierdurst aus.
Eine Recherche der ARD berichtet von Gewalterfahrungen mehrerer Frauen im Stadion. Im Rahmen einer Umfrage von etwa 2.500 Teilnehmenden gaben 25 Prozent der Frauen an, einen Übergriff im Stadion erlebt zu haben, bei den Männern war es 1 Prozent. Auf der Fanmeile in Berlin gibt es während der Austragung der Europameisterschaft 2024 erstmals ein Awareness Team, das für Betroffene von diskriminierendem oder übergriffigem Verhalten ansprechbar sein soll und Unterstützung anbietet. Das Personal berichtet dem RBB von Vorfällen, die von sexistischen Sprüchen bis hin zu Vergewaltigungen reichen würden.
Dass sexuelle Übergriffigkeit im Zuge von Großveranstaltungen mit vielen Menschen, Gedränge und Alkohol steigt, ist leider wenig überraschend. Weniger bekannt ist, dass auch häusliche Gewalt im Zusammenhang mit Fußball steigt. Das zeigen Untersuchungen aus Großbritannien. Eine Studie untersuchte während der WM 2002, 2006 und 2010, wie sich der Ausgang der Spiele auf Vorfälle häuslicher Gewalt auswirkt. Wenn die englische Nationalmannschaft gewann oder unentschieden spielte, stieg die Anzahl der polizeilich gemeldeten häuslichen Gewalttaten um 26 Prozent; wenn sie verlor, sogar um 38 Prozent. Unabhängig vom Ausgang der Spiele lag sie am Folgetag noch immer 11 Prozent über dem Durchschnitt.
Im Februar 2024 erschien eine weitere Studie in England, die den Zusammenhang zwischen häuslicher Gewalt und Fußball-Großereignissen untersuchte. Dazu wurden über einen Zeitraum von acht Jahren im Großraum Manchester Meldungen von häuslicher Gewalt bei der Polizei an Tagen mit größeren Fußballspielen ausgewertet. Demnach nahm die Gewalt während der Spiele ab, stieg danach aber deutlich an. Opfer der Gewalt waren zum Großteil Frauen. Ausgeübt wurde sie fast ausschließlich von alkoholisierten Männern. Jedoch sehen die Forscherinnen darin zwar einen Zusammenhang, aber nicht die Ursache für die Gewalt. Elke Ferner, Vorsitzende der UN Women Deutschland, stellt ebenfalls klar, dass partnerschaftliche Gewalt weder am Fußball noch am Alkohol liege, sondern an gewalttätigen Männern.
Im Jahr 2023 wurden in Deutschland 155 Frauen durch ihren (Ex-)Partner getötet. Einen Tötungsversuch gab es jeden Tag. Im Durchschnitt erlebt alle vier Minuten eine Frau Gewalt durch ihren Partner oder Expartner. Partnerschaftsgewalt ist in den letzten fünf Jahren in Deutschland um 17,5 Prozent gestiegen. Werden die geschätzten Dunkelziffern mitgezählt, so erlebt jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben partnerschaftliche Gewalt. Laut Familienministerium sind das im Jahr 2024 mehr als 12 Millionen Frauen.
Wut und Aggression sind Emotionen, die bei Männern gesellschaftlich honoriert werden und sich zum Beispiel in der Karriere als förderlich erweisen. Da ist es nicht verwunderlich, wenn sich das auch in Aggression gegen die eigene Partnerin übersetzt. Auch Besitzansprüche spielen in einer Paarbeziehung oftmals eine Rolle, erklärt die Fachanwältin für Familienrecht Christina Clemm. Gewalt entstehe oft, wenn die Frau sich auf eine Weise vom Partner distanziere – wenn sie sich trennen will, aber auch wenn sie schwanger wird und ihre Aufmerksamkeit damit nicht mehr ungeteilt ist oder wenn sie einen Karrieresprung macht, verreisen will oder sich mit Freundinnen trifft. Dann spüre der Mann einen Kontrollverlust, den er durch Gewalt wieder auszugleichen versuche.
Gewalt gegen Frauen passiert immer im Kontext gesellschaftlich geförderter Machtverhältnisse. Sie wird gestützt von staatlichen Strukturen, die ein Entkommen aus gewaltvollen Beziehungen erschweren. Daher darf partnerschaftliche Gewalt nicht als etwas Privates abgestempelt werden, das nur im intimen Rahmen einer Beziehung oder Kleinfamilie passiere. Denn dadurch werden Betroffene in die Isolation gedrängt und haben es schwerer, sich Hilfe zu holen.
Asha Hedayati berät als Anwältin vor allem Frauen, die sich von ihren gewalttätigen Ehepartnern trennen wollen. In ihrem Buch Die stille Gewalt berichtet Hedayati von den staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen, die diese Gewalt bedingen. Betroffene hätten oft nur die Wahl zwischen Gewalt und Armut. Sie befänden sich in wirtschaftlicher Abhängigkeit von ihrem Partner, die durch die Ehe strukturell gefördert wird, besonders wenn es gemeinsame Kinder gibt.
Die Gewalt gehe durch alle Schichten, betont Hedayati. Dennoch seien Frauen mit Migrationshintergrund öfter von Gewalt bedroht, da beispielsweise das soziale Netz von Geflüchteten weniger ausgebaut sei, manchmal würden die Partner auch den Spracherwerb verhindern, sodass die Frauen aufgrund von Sprachbarrieren Schwierigkeiten haben, sich an Hilfsorganisationen oder Beratungsstellen zu wenden. Ist der Aufenthaltsstatus an die Ehe gebunden, drohe manchen mit der Trennung sogar die Abschiebung.
Frauen bringen im Alltag 44,3 Prozent mehr Zeit für unbezahlte Care-Arbeit auf als Männer. Damit Frauen gleichberechtigt werden können, müssen wir diesen Gender Care Gap schließen. Berufe im Bereich Pflege und Erziehung – Arbeit, die noch immer zum Großteil von Frauen erledigt wird – müssen besser bezahlt werden und Lohnunterschiede, die aufgrund des Geschlechts bestehen, angeglichen werden. Das Sicherheitsnetz für Opfer von häuslicher Gewalt muss ausgeweitet und zugänglicher gestaltet werden.
Die UN Women Deutschland fordert zudem eine gründliche Ausbildung von Justiz und Polizei im Umgang mit sexualisierter Gewalt. Oftmals rufen Betroffene nicht die Polizei, da sie zurecht befürchten, nicht ernst genommen zu werden. Vor Gericht und von der Polizei wird in vielen Fällen das Verhalten der Betroffenen als Ursache für die Gewalt benannt.
Um Männergewalt ernsthaft zu verhindern, müssten wir jedoch früher ansetzen, mahnt Asha Hedayati. Wir brauchen Gewaltprävention bei der Kindererziehung und müssen aufhören, veraltete Rollenbilder und Geschlechterstereotype zu reproduzieren. Kinder müssten mehr vor Tätern geschützt werden, da das Risiko, dass sie selbst zu Tätern werden, sonst deutlich steigt. Die Täter müssen ihr Verhalten ändern – nicht die Betroffenen.
Bei der Fußball-EM mitzufiebern, ist keine Ursache für Gewalt. Es kann sie jedoch auslösen, wenn Gewaltpotential bereits vorhanden ist. Statt als Ventil für aufgestaute Emotionen zu dienen, scheint Fußball bei vielen Tätern starke Emotionen auszulösen, die sie nicht gelernt haben zu bewältigen. Die emotionale Aufgeladenheit in Zusammenhang mit Alkoholkonsum setzt Aggressionen frei, die dann vermehrt auch an der eigenen Partnerin ausgelassen werden. Die Zahlen aus England zeigen deutlich: Sowohl bei positiven Emotionen nach einem gewonnenen Spiel, deutlich mehr jedoch bei der Enttäuschung nach einem verlorenen Spiel, müssen Frauen, die mit gewaltbereiten Partnern zusammenleben, Misshandlungen befürchten. Egal ob die Nationalmannschaft gewinnt – die Frauen verlieren.
Sexismus ist auch in der Fankultur weit verbreitet, Fußballfans grölen in Stadien sexistische Songtexte, diskriminierende Handlungen bleiben in rein männlichen Fangemeinden oftmals unwidersprochen oder werden sogar gegenseitig hochgepusht. Aber es gibt auch einige Fußballclubs, die sich mit Kampagnen und Transparenten dagegen wehren. Sie richten Anlaufstellen ein und informieren in Broschüren über Hilfsangebote. Es ist eine positive Entwicklung, dass diese Gewalt im öffentlichen Raum in der Gesellschaft mehr und mehr sichtbar gemacht wird.
So hat etwa auch das National Centre for Domestic Violence (NCDV) und die Hilfsorganisation Solace eine bundesweite Kampagne in England gestartet. Als Teil davon haben sie ein alternatives Trikot entworfen, auf dem »No More Injury Time« und die Nummer 38 geschrieben steht, die auf den massiven Anstieg der Gewalt nach einem verlorenen Spiel hindeutet. In Devon und Cornwall setzt die Polizei Spieltagen der englischen Nationalmannschaft mehr Beamte ein, die im Umgang mit häuslicher Gewalt ausgebildet sind. Die Polizei von Sussex organisiert sogar gemeinsame Streifen, bei denen Beamte, die auf Vorfälle häuslicher Gewalt reagieren, einen in dem Bereich spezialisierten Anwalt an ihrer Seite haben, um Betroffenen verschiedene Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen.
Seit Beginn der EM wird auch in Deutschland wieder mehr über die steigende häusliche Gewalt berichtet. Auf Anfrage des Redaktionsnetzwerks Deutschland (RND) gab die Polizei Berlin an, dass die Zahl der Meldungen von häuslicher Gewalt in Berlin im Zeitraum von EM-Beginn am 14. Juni bis zum 3. Juli bei 924 lag, während es in den drei Wochen zuvor 869 Meldungen waren. Ähnliche Schwankungen gab es auch im selben Zeitraum im EM-Jahr 2021. Aussagekräftige Studien, die bundesweit den Zusammenhang von Sportereignissen und männlicher Gewalt untersuchen, fehlen jedoch. Es ist höchste Zeit, derartige Untersuchungen anzustoßen sowie Schutzmaßnahmen auszuweiten und leicht zugänglich zu machen, um Betroffene in dieser Zeit zu schützen.
Laura Stoppkotte ist Verlagsassistentin beim Brumaire Verlag.