28. Januar 2021
Seit einer Woche vernetzen sich Reddit-User, um den Kurs des kaputten Computerspiel-Händlers GameStop nach oben zu treiben – gegen die Wetten von Spekulanten, die auf den Kursverfall setzen. Aus Angst um ihre Profite fordern ausgerechnet sie nun Regulierungen.
Die GameStop-Aktie ist in kürzester Zeit rapide angestiegen – zum Leidwesen einiger Hedgefonds.
Wer hätte gedacht, dass der Videospiel-Einzelhändler GameStop selbst zu einem Spiel werden würde?
Letzten Sommer wurde das Unternehmen noch totgesagt. Es verlor Geld, die Umsätze schrumpften Jahr für Jahr und seine Aktien wurden für etwa 4 Dollar pro Stück gehandelt. Während ich dies am Mittwochnachmittag, den 27. Januar, schreibe, sind es 339 Dollar pro Aktie. Bei Handelsschluss am Vortag lag der Kurs bei nur 148 Dollar. 129 Prozent – keine schlechte Rendite über Nacht. Drei Tage zuvor lag die Aktie noch bei 38 Dollar. Sie hat sich also in weniger als einer Woche fast verzehnfacht. Wie kommt das?
Um diese Frage zu beantworten, muss man zuerst das Konzept der Leerverkäufe erklären – denn das muss den meisten Menschen völlig absurd vorkommen. Ein Leerverkauf ist eine Wette darauf, dass eine Aktie (oder ein anderer spekulativer Vermögenswert wie eine Anleihe oder Gold) im Preis fallen wird. Aber um diese Wette abzuschließen, muss man etwas verkaufen, das man noch gar nicht besitzt, was nicht so einfach geht. Dazu muss man sich die Aktie zuerst von jemandem ausleihen, der sie bereits besitzt, und, wie bei jedem Darlehen, für den geliehenen Vermögenswert Zinsen zahlen. Außerdem muss man bei seinem Broker eine Sicherheit hinterlegen, um zu garantieren, dass man das Geld auch wirklich hat. Man setzt darauf, dass der Kurs fällt und man die Aktien zu einem niedrigeren Preis kaufen kann. Der Gewinn, den man dabei erzielt, ergibt sich aus der Differenz zwischen dem ursprünglichen Verkaufspreis und dem Schlusskaufpreis – abzüglich der Zinsen, die man für den geliehenen Vermögenswert bezahlt hat.
Aber was, wenn man sich irrt und der Preis stattdessen steigt? Dann hat man ein Problem. Wenn man eine Aktie kauft, besteht das Risiko, dass man den gesamten Kaufpreis verlieren könnte – aber nicht mehr. Doch bei Leerverkäufen gibt es, wenn man sich irrt, keine vorher festgelegte Grenze, wie viel Geld man verlieren kann, wenn der Kurs weiter steigt. Außerdem verlangen die Broker in diesem Fall mehr Sicherheiten in Form von echtem Geld. Man hat dann die Wahl, entweder aufzugeben – den Leerverkauf zu decken und den Verlust hinzunehmen – oder mehr Sicherheiten in eine Verlustposition zu stecken, in der Hoffnung, dass sich die Dinge schlussendlich zu den eigenen Gunsten wenden.
Zurück zu GameStop. Im vergangenen August begann der Investor Ryan Cohen, der den Online-Tierfutterhändler Chewy gegründet und mit stattlichem Gewinn verkauft hatte, GameStop-Aktien zu erwerben. Er sagte dem Unternehmen, es müsse mit dem digitalen Zeitalter Schritt halten, viele Läden schließen und online gehen. Investorinnen und Investoren dachten, dem strauchelnden Einzelhändler stünde nun eine große Zukunft bevor. Sie stürzten sich auf die Aktien, wodurch sich deren Kurs bis Ende November verdreifachte. Das war vielleicht ungerechtfertigter Optimismus, ganz abwegig war es aber nicht. Doch einige Hedgefonds, insbesondere Melvin Capital Management, begannen, GameStop-Aktien zu verkaufen, weil sie glaubten, dass die Erholung des Unternehmens lediglich eine Wahnvorstellung sei.
An dieser Stelle kommt Reddit ins Spiel: Stammgäste des Subreddits »Wall Street Bets«, mit einem Benutzer namens DeepFuckingValue unter ihren Wortführern, begannen, GameStop hochzureden und seine Aktien zu kaufen. Ihre Motivation war nicht einfach die Aussicht, Geld zu verdienen. Sie machten sich einen Spaß daraus, den einen oder anderen Hedgefond in den Ruin zu treiben. Sie begannen, die Aktie in rauen Mengen zu kaufen, und der sich ergebende Kursanstieg zwang Shorts wie Melvin Capital zur Deckung. Ihre Nachfrage nach der Aktie, zusammen mit der Aktion der Redditors, hatte den Aktienkurs ins All katapultiert.
So wurde aus GameStop eine der größten Blasen unserer Zeit. Am Dienstag, den 26. Januar, wurden mehr Aktien von GameStop gehandelt als von Apple – der größten Aktie von allen, mit einem »Gesamtmarktwert«, der 108 Mal so hoch ist wie der des Videospiel-Einzelhändlers. James Mackintosh vom Wall Street Journal meinte, dass eine solche Preisentwicklung bei diesem Handelsvolumen auf eine »umsichgreifende Störung im Urteilsvermögen der Menschen« hindeuten würde.
Blasen wie diese enden immer in einem Crash, und die Redditors, die ihre Aktien nicht rechtzeitig verkauft haben, werden am Ende mit ziemlich leeren Taschen dastehen. (Überraschenderweise scheint die Nachricht, dass Melvin Capital seine Short-Position am späten Dienstagabend geschlossen hat, die Party nicht zum Erliegen gebracht zu haben. Wie so oft, hält die Blase viel länger an, als man rational erwarten könnte.) Derweil kann man sich darüber belustigen, wie sich einige Leute von der Wall Street beschweren, dass die Aktion unfair gewesen sei – wo es doch genau die Art von Spielchen ist, die sie unter sich und mit der Öffentlichkeit die ganze Zeit spielen. Sie reden Aktien hoch oder reden sie runter, je nachdem, was in ihrem Interesse ist, und verschwören sich die ganze Zeit gegen Player, die sie als schwach oder angreifbar wahrnehmen. Was ihnen an Tradern mit Namen wie DeepFuckingValue aufstößt, ist lediglich, dass sie nicht zu ihrem Schlag von Leuten gehören. Denn die leben nicht in Luxusvillen und haben keine zwanzig Autos in ihren Garagen.
Noch amüsanter sind jene, die ernsthaft glauben, dass diese Spiele irgendwie die Funktion des Aktienmarktes pervertieren würden. So erklärte Josh Barro vom Business Insider auf Twitter: »Ich weiß, diese Leute denken, das sei lustig, aber: Wozu haben wir einen Aktienmarkt? Damit produktive Unternehmen Kapital aufnehmen können, um nützliche Dinge zu tun. Wenn man den Aktienkurs vom zugrundeliegenden Wert abkoppelt, dann können die Märkte der realen Wirtschaft schlechter ihren Dienst erweisen.«
Was an solchen Kommentaren lustig ist – abgesehen von der Ernsthaftigkeit, die sie inmitten dieser urkomischen Situation an den Tag legen – ist, dass der Aktienmarkt in Wirklichkeit fast nichts mit der Geldbeschaffung für produktive Investitionen zu tun hat. Fast alle Aktien, die auf dem Markt gehandelt werden, einschließlich jener von GameStop, wurden vor Jahren ausgegeben. Das bedeutet, dass die Unternehmen selbst von den täglichen Preisentwicklungen keinen Cent sehen. Zwar geben Firmen in sogenannten Initial Public Offerings (IPOs) hin und wieder Aktien aus, jedoch haben IPOs in den letzten zwanzig Jahren dem Finanzwirtschaftsprofessor Jay Ritter zufolge insgesamt eine Summe von 657 Milliarden Dollar eingebracht – das sind weniger als 2 Prozent der gesamten Unternehmensinvestitionen, die im gleichen Zeitraum für Dinge wie Gebäude und Technik aufgewendet wurden.
Barro mag glauben, was er will – in der realen Welt beschaffen sich Firmen ihre Investitionsmittel jedenfalls fast ausschließlich intern, durch Gewinne. Die Unternehmen holen sich kein Geld von den Shareholdern – im Gegenteil: Sie sind es, die ihren Shareholdern riesige Geldbeträge ausschütten. Seit dem Jahr 2000 haben die fünfhundert großen Unternehmen, aus denen sich der Aktienindex S&P 500 zusammensetzt, 8,3 Billionen Dollar für den Ankauf ihrer eigenen Aktien ausgegeben, um deren Preis in die Höhe zu treiben – das entspricht mehr als der Hälfte ihrer Gewinne in diesem Zeitraum und fast 20 Prozent der Unternehmensinvestitionen aus zwei Jahrzehnten. Solche Aktienrückkäufe machen nicht nur die Aktionärinnen und Aktionäre glücklich, sondern treiben auch die Gehälter der CEOs in die Höhe, die heutzutage hauptsächlich in Aktien ausbezahlt werden.
Abgesehen von einigen Lachern ist das Geschehen der letzten Tage, wie auch der scheinbar unaufhaltsame Anstieg der Aktienkurse seit 2009 – der nur kurz durch die COVID-19-Panik im vergangenen März einhielt – ein Lehrstück über ein Finanzsystem, das den Bezug zur wirtschaftlichen Realität verloren hat. Billionen von Dollar an Staatshilfen für die Wirtschaft und Geldspritzen der US-Notenbank Federal Reserve für die Finanzmärkte haben eine monströse Geldschwemme erzeugt, die keinen anderen Ausweg kennt als spekulative Anlagen – und das in einer Zeit, in der die Intensivstationen überlastet sind und 24 Millionen Menschen in den USA Schwierigkeiten haben, genug zu essen zu bekommen. Darüber sollten sich Leute wir Barro einmal Gedanken machen.
Doug Henwood ist der Herausgeber des »Left Business Observer« und Host von »Behind the News«.
Doug Henwood ist Redakteur bei Left Business Observer sowie Host des Podcasts Behind the News. Sein neuestes Buch trägt den Titel My Turn.