13. Juni 2025
Shoura Hashemi ist Geschäftsführerin von Amnesty International Österreich. Im Interview erzählt sie, wie ihr Einsatz für iranische Frauen bejubelt, derselbe Einsatz für palästinensische Menschen aber angegriffen wurde, und wie die Gaza-Debatte sich wandelt.
Shoura Hashemi spricht bei der Demonstration gegen Rechtsextremismus und Rassismus vor dem österreichischen Parlament in Wien, 26. Januar 2024.
Der Gazastreifen liegt in Schutt und Asche.
In über anderthalb Jahren wurden rund
55.000 Menschen getötet und schon zu Beginn des Jahres 2025
erklärten Wissenschaftler, dass die tatsächliche Zahl der
Todesopfer viel
höher sein könnte. Nun haben die israelischen Streitkräfte in der gestrigen Nacht einen »Präventivschlag« gegen den Iran verübt, für den das iranische Staatsoberhaupt Ayatollah Khomenei bereits eine »schwere Bestrafung« ankündigte. Die Lage droht erneut, außer Kontrolle zu geraten.
Kaum ein westliches Land hat Israel in den letzten zwei Jahren so unterstützt wie Österreich. Karl Nehammer, bis Anfang 2025 noch Bundeskanzler, wurde dafür kürzlich sogar von der israelischen Botschaft geehrt. Dabei ist diese pro-israelische Politik relativ neu. Bis vor ein paar Jahren galt das neutrale Österreich für einen westlichen Staat tendenziell als eher pro-palästinensisch. Aber unter Sebastian Kurz kehrte 2018 eine Wende in der Nahost-Politik ein. Das zeigte sich etwa in Abstimmungen bei der UNO, in denen Österreich gegen eine Waffenruhe votierte. Erst seit kurzem gibt es sehr zaghafte Kritik am Vorgehen Israels, so erklärte Bundeskanzler Christian Stocker (ÖVP) jüngst, das Verweigern humanitärer Hilfe sei ein »Verstoß gegen das Völkerrecht«.
Die politische Kehrtwende unter Sebastian Kurz veränderte wohl auch die öffentliche Debatte in Österreich. Die Chefin der Amnesty-Sektion Österreichs, Shoura Hashemi, ist heute eine der wenigen prominenten Stimmen, die von einem Genozid in Gaza spricht. Im Interview mit Jacobin erklärt sie, warum das gerade in Österreich so schwierig ist.
Du hast in den letzten Wochen öfter gesagt, dass sich der Diskurs zu Israel und Gaza in Österreich gerade verschiebt. Wenn ich mir ansehe, wie mit dem Song-Contest-Sieger JJ umgegangen wurde, nachdem er gemeint hatte, Israel solle nächstes Jahr nicht beim ESC teilnehmen, bin ich mir da nicht so sicher. Woran machst du den Wechsel fest?
Ich glaube, ich habe darauf einen anderen Blick, weil ich über Amnesty viele Rückmeldungen aus der Bevölkerung bekomme. Die Leute rufen bei uns an, schreiben E-Mails, oder melden sich auf meinen privaten Accounts. Und schon seit mindestens einem Jahr merken wir, dass da ein Unmut da ist. Es gibt einen großen Gap zwischen dem, was im polit-medialen Umfeld diskutiert wird und der Meinung der Bevölkerung. Das fällt uns schon länger auf und wir merken es natürlich auch an unseren Unterstützerinnen, an den Spendern, die sich bei uns melden. Wir hatten zum Beispiel überhaupt keine Spendeneinbrüche. Das war sehr interessant, weil wir uns schon gefragt haben: Wie kann das bei den ganzen Attacken sein?
»Es gibt einen großen Gap zwischen dem, was im polit-medialen Umfeld diskutiert wird und der Meinung der Bevölkerung.«
Vor ein paar Monaten haben wir dann bemerkt, dass die ersten Kolumnisten in Deutschland beginnen, andere Leitartikel zu schreiben. Da ging es plötzlich in die Richtung: »Vielleicht haben wir Fehler gemacht, vielleicht müssen wir umdenken.« Das war für mich so ein Moment, wo ich mir gedacht habe, jetzt ändert sich wirklich etwas. Nicht nur innerhalb der Bevölkerung, sondern jetzt schwappt es aufs polit-mediale Umfeld über.
In Deutschland habe ich das – zögerlich, aber doch – auch bemerkt. In Österreich hatte ich das Gefühl, Du bist in der medialen Öffentlichkeit immer noch eine der ganz wenigen prominenten Stimmen. Andere kritische Personen sind etwa der ehemalige Bundespräsident Heinz Fischer, der die österreichische Regierung zu Kritik an Israels Vorgehen in Gaza aufforderte – und dafür massiv attackiert wurde.
Das Interview mit Heinz Fischer, auf das Du anspielst, war rückblickend betrachtet fast bahnbrechend. Es ist viral gegangen, damit habe ich gar nicht gerechnet, obwohl er natürlich diesen Elder-Statesman-Bonus hat. Seither tut sich einiges. Ich merke das auch auf Facebook ganz stark, wo unsere Follower eher 50 plus und autochthon sind, teilweise auch vom Land. Dort sehe ich plötzlich viel mehr Auseinandersetzung mit unseren Inhalten – und das hat alles mit Heinz Fischer begonnen.
Aber dass es um JJ so einen Eklat gab, hat mich auch überrascht. Das war ja grotesk, dass sich sogar der Bundespräsident Alexander Van der Bellen geäußert hat und irgendwelche Journalisten schon fast Nervenzusammenbrüche hatten, weil ein 24-Jähriger so eine Meldung schiebt. Ich weiß nicht, ob das vielleicht nicht doch einfach ein Ausreißer war, quasi der letzte Funke.
Medial ist plötzlich auch eine gewisse Offenheit zu spüren. In den letzten Wochen hatte ich wahnsinnig viele Anfragen, viel mehr als normalerweise. Ich war ja vergangene Woche auch in einer TV-Diskussion im ORF und da hat man gemerkt: Das ist auch für den ORF Neuland, also sich mit dem Nahostkonflikt aus anderen Perspektiven zu beschäftigen.
Dafür, dass wir jetzt an diesem Punkt sind, musstet Ihr bei Amnesty sehr viele Attacken in Kauf nehmen. Armin Wolf, Österreichs wohl bekanntester Journalist, hat der Organisation etwa vorgeworfen, eine »PR-Plattform für die Hamas« zu sein, im Falter gab es ein sehr tendenziöses Interview zu Eurer Arbeit. Warum glaubst Du, kommt so etwas vor allem aus bürgerlich-liberalen Kreisen?
Ich finde es sehr spannend, weil es in dieser bürgerlichen oder besser linksliberalen Welt ja ein eigenes Selbstverständnis gibt. Die Leute halten sich für Humanisten, denen Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit wichtig ist. Und gerade diesen Menschen fällt es gedanklich sehr schwer, den Spagat hinzubekommen, dass ein Staat wie Israel, den sie als Verbündeten, als westlich und demokratisch verbucht haben, genauso Verbrechen an der Zivilbevölkerung begehen kann wie etwa Russland. Natürlich machen die Länder nicht exakt das gleiche, aber die Dynamik kann ähnlich sein. Es ist schwer auszuhalten für viele, dass westliche Politiker genauso Verbrechen begehen können wie nicht-westliche.
»Dieselben Leute, die mich vor Oktober 2023 für meinen Einsatz für die iranischen Frauen bejubelt haben, haben mich als Antisemitin bezeichnet, als ich mich für palästinensische Menschen eingesetzt habe.«
Und dann gibt es noch die historische Komponente. Ich will das nicht unnötig pathologisieren, aber wir unterschätzen einfach, dass es in österreichischen Familien viel zu wenig individuelle Aufarbeitung der Nazi-Zeit gegeben hat. Die Menschen haben sich zu wenig mit ihrer eigenen Familiengeschichte auseinandergesetzt und das schlägt heute in eben diese Reflexe um. Es fällt ihnen schwer zu akzeptieren, dass auch ein Staat wie Israel, der ja aufgrund des Holocaust immer als Opfer gesehen wird, Täter sein kann.
Gerade wenn es um die Vorstellung vom angeblich unfehlbaren Westen geht, finde ich interessant, wie ideologisch die Argumentationen Eurer Kritiker sind. Ironischerweise gerade von denen, die sich als objektiv verstehen.
Total, und was mich wirklich fassungslos gemacht hat, auch weil es so nah beieinander war, war der Vergleich mit dem Iran. Dieselben Leute, die mich vor Oktober 2023 für meinen Einsatz für die iranischen Frauen bejubelt haben, haben mich als Antisemitin bezeichnet, als ich mich für palästinensische Menschen eingesetzt habe. Dass ihnen selbst nicht aufgefallen ist, wie absurd das ist.
Ich kann mich noch erinnern, dass die heutige Außenministerin Beate Meinl-Reisinger damals ein Schild mit »Jin, Jiyan, Azadi« gepostet hat. Dass sie überhaupt wusste, dass der Slogan aus dem feministischen und antikolonialen Widerstand der kurdischen Freiheitsbewegung kommt, kann ich mir nicht vorstellen. Die Jina-Revolution wurde im Westen stark instrumentalisiert – aber gleichzeitig überhaupt nicht unterstützt.
Die Möglichkeit, ein Thema zu instrumentalisieren ist ein wichtiger Faktor, ob und wie über Menschenrechtsverletzungen gesprochen wird. Aber es ist auch wichtig, dass die Betroffenen Sympathieträger sind. Die iranischen Frauen waren die perfekten Betroffenen. Sie haben ihre Kopftücher verbrannt und wollten ihre Freiheit. Für die kann man sich im Westen einsetzen, da kann man dann auch »Jin, Jiyan, Azadi« sagen, ohne zu wissen, was es eigentlich heißt. Und palästinensische Betroffene sind eben keine solchen Sympathieträger.
Es gibt bei den Themen Iran und Palästina mehrere spannende Parallelen. Bei Gaza heißt es oft, es gäbe dort ja keine unabhängigen Journalisten und darum keine gesicherten Informationen. Das war beim Iran aber nicht anders. Damals hat es nur niemanden gestört, wenn ich als Privatperson Videos geteilt habe, wo niemand wusste, wo ich die überhaupt herhabe. Natürlich habe ich sorgfältig gearbeitet, aber in Wirklichkeit hätte ich den Fernsehsendern irgendwas andrehen können. Es hat mich nie irgendjemand gefragt. Damals war sowohl ich als auch das Thema irgendwie sympathisch und glaubwürdig. Bei Gaza ist es so, dass die Leute gar nichts glauben. Das war so ein spannender Unterschied.
»Bei Gaza heißt es oft, es gäbe dort ja keine unabhängigen Journalisten und darum keine gesicherten Informationen. Das war beim Iran aber nicht anders. Damals hat es nur niemanden gestört.«
Wie geht es Dir eigentlich mit den Diffamierungen, die ja nicht nur Amnesty, sondern auch Deine Person betreffen?
Es war zu Beginn sehr kränkend, weil es – wie gesagt – vor allem von Leuten kam, die vor drei Wochen noch meine Allies waren. Das war ein total seltsames Gefühl. Gleichzeitig ist es so, dass ich mit Amnesty eine Organisation im Rücken habe und Menschen, die an meiner Seite stehen. Darum dachte ich mir: Jetzt erst recht. Meinen quasi-religiösen Glauben an die Universalität der Menschenrechte hat es nochmal gestärkt, dass so offensichtlich mit zweierlei Maß gemessen wird.
Gleichzeitig habt Ihr Euch in den ersten Monaten nach dem 7. Oktober viel zögerlicher positioniert als Eure internationalen Kollegen. Woran liegt es, dass es auch bei Euch gedauert hat?
Ja, das stimmt. Wir haben uns nach dem 7. Oktober mit einer Presseaussendung geäußert, aber dann waren wir zu Beginn etwas unsicher. Wir wussten nicht, ob das eine kurze Militäraktion wird und in der Österreich-Sektion haben wir zu dem Thema nicht wirklich gearbeitet. Der Apartheid-Bericht von Amnesty wurde 2022 zwar auch hier veröffentlicht, aber es gab keine Medienarbeit dazu. Wir hatten ehrlicherweise auch Angst und haben uns gefragt, wie wir im historischen Kontext von Österreich überhaupt darüber sprechen können. Aber das hat sich mit dem Jahreswechsel von 2023 auf 2024 geändert. Da war einfach absolut klar, dass das keine kurze Militäraktion wird, sondern etwas Größeres, etwas ganz Furchtbares entsteht. Und wir haben gesagt, da können wir einfach nicht schweigen – vor allem nicht, wenn wir die Befürchtung haben, dass das in Richtung Völkermord geht.
Innerhalb von Amnesty gibt es Leute, die lange zu dem Thema gearbeitet haben und die sehr gute Sensoren entwickelt haben. Und wir haben uns viel mit anderen Sektionen ausgetauscht und die haben auch gesagt, als österreichische Sektion könnt ihr nicht schweigen. Wir wollten es aber auch nicht so machen wie Amnesty Deutschland. Die sind früher rausgegangen, aber haben immer die Kommentare in sozialen Medien deaktiviert. Darum habe ich gesagt: Okay, ich stelle mich dem. Das war eine bewusste Entscheidung, dafür auch meine eigenen Accounts zu verwenden.
»Meinen quasi-religiösen Glauben an die Universalität der Menschenrechte hat es nochmal gestärkt, dass so offensichtlich mit zweierlei Maß gemessen wird.«
Es war auch für meine Kolleginnen und Kollegen ein neues Thema, weil es eben immer die Einstellung gab, zum Nahostkonflikt nicht zu arbeiten, weil das für eine österreichische Sektion zu heikel sei. Wir haben bisher viel zu Afghanistan, Iran und Ukraine gemacht, sind also auch intern mit dem Thema eine Entwicklung durchlaufen. Und da haben wir uns auch gesagt, okay, wenn wir Spendeneinbrüche bekommen, müssen wir das akzeptieren. Aber das ist eben nicht passiert.
Berichten Amnesty-Sektionen in anderen Ländern eigentlich von ähnlichen Erfahrungen mit Diffamierung bei dem Thema?
Das ist ganz unterschiedlich. In UK gibt es zum Beispiel eigene Palästina-Gruppen innerhalb der Sektionen, also Leute, die sich nur mit dem Thema beschäftigen. Aber dort gab es auch schon vor Monaten Demos mit 100.000 Leuten. Wir würden uns hier ja freuen, wenn ein paar Tausend auf die Straße gehen. Wenn es um Diffamierung geht, sind wir sicher unter den Top 5. Ganz schlimm ist es aber auch in Ungarn oder Tschechien, wo die Regierung sehr pro Israel ist. Die sind sehr vorsichtig. Und natürlich die deutsche Sektion, die auch wesentlich mehr auf institutioneller Ebene angegriffen wurde als wir. Also seitens der Botschaft und der DIG, der deutsch-israelischen Gesellschaft.
Von wem geht das in Österreich aus?
Die IKG, die Israelitische Kultusgemeinde, hat uns einmal direkt angegriffen, als es um die IHRA-Definition ging. Das ist denen ein Dorn im Auge, dass wir die nicht verwenden und auch von ihr abraten. Dann gibt es noch die israelische Botschaft. In diesem Umfeld bewegen sich einige Einzelpersonen, etwa Politikberater, die das übernehmen. Natürlich nicht formell oder mit Verträgen, aber die sind vor allem auf sozialen Medien aktiv und drohen oder diffamieren uns. Das sind natürlich Einschüchterungsversuche. Diese Leute sind einfach sehr laut und haben teilweise eine große Reichweite. Aber ich würde gerade online den Anteil an Bots nicht unterschätzen, gerade weil die israelische Regierung viel mit Propaganda arbeitet. Die Desinformation ist ja riesig in dem Konflikt.
Zum Abschluss: Gibt es ein Argument, das Dir in Diskussionen besonders häufig begegnet – eines, das Du gerne noch einmal klarstellen würdest?
Uns wird oft vorgeworfen, dass wir den Genozid-Begriff verändert haben, damit er zu Gaza passt. Das ist wirklich das Hasbara-Argument schlechthin und ich höre es ständig. Das zieht solche Kreise, sogar eine österreichische Abgeordnete hat das schon mal zu mir gesagt. Aber das stimmt nicht. Das ist einfach eine Lüge, die überall gestreut wird und wir müssen dem etwas entgegensetzen, damit die Leute das nicht glauben.
Shoura Hashemi ist Geschäftsführerin von Amnesty International Österreich.