20. August 2025
SPD, Grüne und Union vollziehen eine vorsichtige Kehrtwende in der Israel-Politik. Glaubwürdig ist das nur, wenn sie jetzt Verantwortung für ihre Repression der Palästina-Solidarität übernehmen.
Bei pro-palästinensischen Demonstrationen kommt es immer wieder zu unverhältnismäßiger Repression durch die Polizei.
Mitglieder derjenigen Parteien, die seit Oktober 2023 in Deutschland in Regierungsverantwortung waren und sind, formulieren nach und nach vorsichtige Distanzierungen zur israelischen Kriegsführung. Die Bundestagsfraktion der SPD sprach am 22. Juli plötzlich von einem »Point of no return« bezüglich der Lage in Gaza. Nur zwei Tage später meldeten sich die Grünen überraschend aus der humanitären Versenkung und stellten fest, dass das »Leiden der Zivilbevölkerung in Gaza [...] nicht hinnehmbar« sei. Keine zwei Wochen danach verkündete Friedrich Merz, keine weiteren Ausfuhren von Waffen nach Israel mehr zu genehmigen. Nur zwei Tage später ruderte er bereits zurück und betonte, dass die bedingungslose Solidarität mit der als Selbstverteidigung bezeichneten genozidalen Kriegsführung der rechtsextremen Regierung Israels nicht infrage gestellt würde.
Scheint eine Wende der deutschen Israel-Politik also endlich vorstellbar? Eine Kehrtwende der deutschen Außenpolitik, um ein Ende des Genozids herbeizuführen, hat allerhöchste Priorität. Doch ob das glaubhaft ist, bleibt zweifelhaft. Weder die Unionsparteien noch die SPD noch die Grünen haben sich dazu durchgerungen, den israelischen Staat und seine Regierung als Verursacher beim Namen zu nennen. Doch nicht nur das, auch innenpolitisch tut sich wenig.
Denn was neben außenpolitischer Konsequenz außerdem fehlt, ist jede Spur von Verantwortung für das, was in den 22 Monaten nach dem 7. Oktober in Deutschland passiert ist. Seit Oktober 2023 waren in Deutschland palästinasolidarische Menschen immenser Repression ausgesetzt: Sie haben Polizeigewalt erfahren, wurden festgenommen und verklagt oder haben Arbeitsplätze verloren. Ihnen wurden Fördermittel gestrichen, es wurden Projekte aufgelöst, Karrieren zerstört, weil sie öffentlich ausgesprochen haben, was auch internationale Beobachterinnen und Beobachter wie Amnesty International, Human Rights Watch, die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem, Physician for Human Rights oder UN-Sonderberichterstatterinnen und Sonderberichterstatter festhielten: Israel begeht in Gaza Kriegsverbrechen und einen Genozid. Allein das Fordern nach einem Ende der Gewalt oder die Solidarisierung mit der palästinensischen Bevölkerung reichten aus, um sich den Vorwurf des Antisemitismus einzufangen.
In einem demokratischen Rechtsstaat sollte derartiges politisches Engagement durch die Meinungsfreiheit gedeckt sein. Doch in Deutschland reichte oft ein Satz wie »Free Palestine«, »Stop the genocide« oder »Ceasefire now«, um Lehrbeauftragte zu kündigen, Staatssekretäre zu entlassen, Kunstschaffende auszuladen, Studierende zu sanktionieren oder Journalistinnen und Journalisten zu diffamieren. Diese Maßnahmen wurden mit dem Rückhalt staatlicher und staatlich finanzierter Institutionen organisiert – unter politischer Verantwortung der Parteien SPD, Grüne, FDP, CDU/CSU und der AfD.
Diese Parteien haben durch ihr Agieren in den letzten 22 Monaten aktiv eine politische Atmosphäre der Angst geschaffen, um Opposition gegen den Genozid zu verhindern. Die bedingungslose Unterstützung der israelischen Kriegsführung wurde durch die deutsche Bundesregierung in Form von Waffen sowie ideeller und diplomatischer Rückendeckung ermöglicht. Insofern hängt die humanitäre Lage in Gaza direkt mit der Repression hierzulande zusammen.
Was ist also mit jenen, die schon früh das Richtige gesagt haben? Was ist mit jenen, die das Grauen in Gaza nicht schweigend hingenommen und dafür einen hohen Preis bezahlt haben? Die Liste der Betroffenen ist lang und im Archive of Silence und dem Index of Repression ausführlich dokumentiert. Besonders drastische Beispiele lieferten die Technische Universität München, wo Studierende, die an einer palästinasolidarischen Veranstaltung teilnehmen wollten, von der Polizei in einem Raum eingesperrt und anschließend wegen »Hausfriedensbruch« angezeigt wurden, obwohl sie von der Universität selbst dort hineingelockt worden waren.
»Während die Bundestagsparteien sich öffentlichkeitswirksam im zaghaften Kurswechsel üben, läuft die Maschinerie der Repression weiter.«
Weitere eindrückliche Beispiele sind die Entlassung Melanie Schweizers aus dem Arbeitsministerium, die Absagen gleich mehrerer Veranstaltungen mit der UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese, die Kündigung von Helen Fares durch den SWR, die rechtswidrige Auflösung des Palästina-Kongresses in Berlin, die Absage der »Talking about (the Silencing of) Palestine«-Konferenz in Frankfurt oder die Einstufung der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden und Palästina Spricht als extremistische Organisationen durch den Verfassungsschutz. Die Liste ließe sich endlos fortführen – und sie bleibt notwendig unvollständig.
Der Hass und die Hetze des durch die Bundesregierung und die politische Rechte systematisch angeheizten antipalästinensischen Rassismus und die damit einhergehenden weitreichenden rechtlichen, sozialen und emotionalen Folgen für Betroffene lassen sich kaum in Worte fassen. Und während die Bundestagsparteien sich öffentlichkeitswirksam im zaghaften Kurswechsel üben, läuft die Maschinerie der Repression weiter.
All das geschah und geschieht im Namen der deutschen Staatsraison – in einem politischen Klima, das eine öffentliche Debatte kontrolliert, diszipliniert und unmöglich gemacht hat. Die mediale Begleitmusik reichte von massiver Diffamierung über Kampagnen bis hin zur gezielten Einschüchterung von Universitäts-Lehrkräften durch die Bild-Zeitung – ein Vorfall, den der Presserat skandalöser Weise als von der Meinungsfreiheit gedeckt einstufte.
Die plötzliche Wiederentdeckung des Mitgefühls in Teilen der SPD oder der Grünen ist nicht unerwartet. Omar El Akkad schrieb in weiser Voraussicht bereits am 25. Oktober 2023 auf Twitter: »Eines Tages werden alle immer schon dagegen gewesen sein«. Die Kehrtwende ist dringend überfällig, reicht jedoch nicht aus. Wer politische Glaubwürdigkeit beansprucht, muss mehr tun, als auf neue Bilder aus Gaza zu reagieren. SPD und Grüne müssen ihre Rolle in der deutschen Repressionsgeschichte aufarbeiten und Verantwortung für diese übernehmen.
»Würden die Bundestagsparteien es ernst meinen mit ihrer Kurskorrektur, dann stünde ihre innenpolitische Verantwortungsübernahme weit oben auf ihrer Prioritätenliste.«
Das Klima der Einschüchterung war und ist politisch gewollt. Sie ist gewollt von einer Regierung, die jede Kritik an Israel pauschal zurückwies, von Bildungsministerien, die öffentliche Distanzierungen erzwangen, von Kulturreferaten, die Förderungen aussetzten, und von Parteien, die sich in fragwürdiger Einigkeit hinter eine Definition von Antisemitismus stellten, die jede systematische Kritik an israelischer Politik als verdächtig und oft sogar als extremistisch oder direkt staatsfeindlich einstufte.
Es ist legitim, richtig und wünschenswert, eigene Positionen zu hinterfragen. Die Hoffnung auf politischen Wandel beruht darauf. Aber wer 22 Monate lang Repressionen duldet, mitträgt oder sogar aktiv organisiert und dann plötzlich erkennt, dass diejenigen, die man mundtot machen wollte, doch recht hatten, der muss sich seine Glaubwürdigkeit erst wieder erarbeiten.
Deutschland hat im Bann der Staatsraison und unter dem Vorwand der Erinnerungskultur zu lange auf Verdrängung und Repression gesetzt. Die Chance, es anders zu machen, ist jetzt so greifbar wie lange nicht. Das gelingt nicht durch Geschichtsbewältigung, sondern durch politische Verantwortung im Hier und Jetzt – für Menschen, die ihre Stimme erhoben haben und erheben werden.
Es geht auch in den nächsten Wochen und Monaten darum, Menschen und Initiativen, die für ein Ende des Genozids einstehen – wie etwa die Uppsala Declaration für Deutschland, mit deren Unterzeichnung sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verweigern, mit israelischen Institutionen zusammenzuarbeiten, die an Besatzung, Apartheid und Völkermord beteiligt sind –, gegen Repressalien im Namen der Staatsräson oder Verunglimpfung in den Medien zu schützen. Würden die Bundestagsparteien es ernst meinen mit ihrer Kurskorrektur, dann stünde ihre innenpolitische Verantwortungsübernahme weit oben auf ihrer Prioritätenliste.
Wenn die großen Bundestagsparteien heute also behaupten, die Gewalt in Gaza endlich als solche anzuerkennen, kann das nicht durch Worte, sondern muss durch Taten bewiesen werden. Das betrifft nicht nur einen viel klareren und konsequenteren außenpolitischen Kurs samt dem sofortigem Stopp aller Waffenlieferungen, dem Aussetzen von Assoziierungsabkommen und längst überfälligen Sanktionen. Auch innenpolitisch gibt es zahlreiche konkrete Maßnahmen, die rechtlich machbar, politisch zumutbar und ethisch überfällig sind, wenn die Kehrtwende nicht nur heiße Luft bleiben soll. Dazu gehören:
- Die Anerkennung des geschehenen Unrechts: Erklärungen der Bundestagsfraktionen über die politisch und institutionell von ihnen begleitete und geschaffene Einschränkung von Meinungsfreiheit im Kontext der Palästina-Debatte
- Eine persönliche oder öffentliche Entschuldigung bei denen, die von Repression betroffen waren: für alle, denen ohne rechtlich belastbare Grundlage Klagen angehängt, Verträge gekündigt und Förderungen entzogen wurden
- Rehabilitierung: Die Einladung an Betroffene, Funktionen wie Lehraufträge oder Projektbeteiligungen, wieder aufzunehmen, sofern gewünscht
- Kompensation: finanzielle Entschädigung bei nachweisbarem Reputations- oder Einkommensverlust, analog zu bestehenden Rehabilitierungsregelungen in anderen politischen Kontexten
- Juristische und politische Aufarbeitung: eine unabhängige Kommission zur Dokumentation repressiver Maßnahmen und zur Entwicklung von Leitlinien für politische Meinungsäußerung im öffentlichen Dienst und an Hochschulen
Wenn politische Akteure wie SPD und Grüne sich entscheiden, den hier beschriebenen Weg ernsthaft zu beschreiten, können sie sich sicher sein: Nicht nur wir, sondern viele andere werden sie dabei unterstützen. Entscheiden sie sich dagegen, Verantwortung für die von ihnen organisierte Repression zu übernehmen, ist alles andere unglaubwürdig.
Michael Barenboim ist Musiker und Professor an der Barenboim-Said Akademie.
Sabine Broeck ist emeritierte Professorin an der Universität Bremen. Sie unterrichtete American Studies sowie Critical Race Studies und arbeitet seit langem an einer Theorie der Enslavism Studies.
Robin Jaspert ist Politökonom und promoviert an der Goethe-Universität in Frankfurt. Er forscht zu Staatsfinanzen, Süd-Nord-Beziehungen, Fiskal- und Geldpolitik.
Ramis Örlü ist Professor für Strömungsmechanik an der OsloMet – Oslo Metropolitan University in Norwegen und Forscher am KTH Royal Institute of Technology in Schweden.