21. April 2024
Die Geschichte der Schülerin Malak Hani Al-Sweirki zeigt, wie der Gaza-Krieg die Zukunft der palästinensischen Jugendlichen zerstört. Neben der allgegenwärtigen Todesangst wächst auch die Furcht vor einem Leben ohne Perspektiven.
Malak am Tag ihrer Zeugnisverleihung im Juli 2023.
Noch vor einem Jahr bereitete sich die Schülerin Malak Hani Al-Sweirki aus Gaza auf ihre Abschlussprüfung an der Oberstufe vor, die im jordanischen und palästinensischen Schulsystem »Al-Tawjeehi« genannt wird. Die 18-Jährige besetzte im landesweiten Punkteranking mit 99,4 Prozent den zweiten Platz. Nur eine Schülerin stand im Ranking vor Malak: Al-Shaima Akram Saidam – mit 99,6 Prozent. Sie stammt ebenfalls aus Gaza.
Der Krieg hat beiden Mädchen die Möglichkeit genommen, eine Universität zu besuchen. Saidam starb nur wenige Tage nach dem Hamas-Angriff des 7. Oktobers. Sie wurde durch israelische Luftangriffe auf das Flüchtlingslager Nuseirat, das sich in der Mitte des Gazastreifens befindet, gemeinsam mit Angehörigen aus ihrer Familie getötet.
Malak und ihre Familie haben überlebt, doch alle Universitäten Gazas wurden mittlerweile dem Erdboden gleichgemacht und neben dem andauernden Krieg gibt es kaum noch etwas zu essen. Mit ihrem Laptop und ihrem Smartphone dokumentierte sie die traumatischen Erlebnisse ihres Kriegsalltags.
Bildung war für die Jugend Gazas immer einer der wenigen Hoffnungsschimmer. Bereits vor dem Krieg war das Leben in der Region schwierig genug. Dinge, die in westlichen Ländern selbstverständlich sind, wie beispielsweise Strom, standen Malaks Familie täglich nur für etwa vier Stunden zur Verfügung.
Sowohl Israel als auch Ägypten haben seit der Machtübernahme der Hamas im Jahr 2007 eine Blockade über den Gazastreifen verhängt, wodurch der Transport von Waren sowie die Ein- und Ausreise von Personen enorm eingeschränkt wurde. Durch die Zerstörung der Infrastruktur im Zuge des gegenwärtigen Krieges, einschließlich Krankenhäusern, Schulen und Universitäten, ist zudem die Angst vor dem Tod allgegenwärtig – aber auch die Furcht vor fehlenden Zukunftsaussichten wird größer.
»Durch die Zerstörung der Infrastruktur im Zuge des gegenwärtigen Krieges, einschließlich Krankenhäusern, Schulen und Universitäten, ist zudem die Angst vor dem Tod allgegenwärtig – aber auch die Furcht vor fehlenden Zukunftsaussichten wird größer.«
Malak wollte ursprünglich Translationswissenschaften an der Al-Azhar Universität in Gaza studieren. Sie konnte während ihres Schulabschlusses im Sommer vergangenen Jahres noch nicht ahnen, dass sie Zeugin der Zerstörung jenes Universitätsgebäudes werden würde, in dem sie hätte studieren sollen. Statt ihr Studium zu beginnen, verließ sie gemeinsam mit ihrer Familie im Dezember 2023 ihr Heimatdorf Al-Tuffah im Norden von Gaza und floh in Richtung Westen, nahe der Al-Azhar-Universität, wo sich ihre Verwandten aufhielten. Zwei ihrer Onkel sowie deren Frauen und Kinder verweilten in dieser Zeit im Inneren des Universitätsgebäudes. Auch das Haus ihrer Tante befindet sich dort in der Nähe.
Eine Straße des Heimatortes Malaks (namens Al-Tuffah) im Norden von Gaza.
»Am 21. Dezember wollten wir meinen Onkeln und ihren Familien einige Nahrungsmittel vorbeibringen. Also verließen meine Eltern, meine Geschwister und ich das Haus meiner Tante«, sagt Malak in einem Interview, das sie mit Audio- und Textnachrichten beantwortete, da ihre Internetverbindung für einen Anruf oder ein Videogespräch zu schwach ist. »Wir befanden uns vielleicht zehn Meter von der Al-Azhar-Universität entfernt, als wir Schüsse hörten. In Gaza sind Schusslaute leider nichts Ungewöhnliches und wir nahmen an, dass die Gefechte weit entfernt von uns waren, bis der Schuss eines israelischen Panzers uns alle erschrak.«
Malak berichtet, dass sie mit ihren Eltern, ihrer Schwester und ihren beiden jüngeren Brüdern ihr Heimatdorf verließ, weil die israelische Armee die Bevölkerung vor einer kommenden Offensive warnte, unter anderem durch Flugblätter, aber auch durch Telefonanrufe. Doch nun war ihr Leben auch im Fluchtort von einem militärischen Angriff gefährdet. »Wir legten uns alle auf den Boden und ich konnte sehen, wie der Panzer näherkam. Vor Angst wäre ich fast gestorben. Als wir bemerkten, dass keine Schüsse mehr abgefeuert wurden, versuchte ich mit meiner Familie ins Universitätsgebäude zu gelangen.«
Die Universität war mittlerweile ebenfalls zum Zufluchtsort vieler Bewohnerinnen und Bewohner Gazas geworden. Als Malak realisierte, dass ihr Vater immer noch am Boden lag und blutete, während sie versuchte, im Gebäude Schutz zu suchen, rannte sie zurück zu ihm. »Mein Vater konnte nicht mehr gehen oder gar weglaufen, weil eine Kugel ihn am Bein getroffen hatte. Ich weinte und schrie, als ich das ganze Blut sah. Ich rief in Richtung des Panzers, dass wir Zivilisten sind. Es kam jedoch keine Antwort.«
In ihrem jungen Alter wurde Malak oft Zeugin israelischer Luftangriffe, doch noch nie habe sie so viel Angst wie in diesem Moment gehabt. »Irgendwie habe ich es geschafft, meinen Vater in die Universität zu zerren, doch dann schossen die Soldaten im Panzer auf den Eingangsbereich des Gebäudes, während wir uns im Inneren befanden. Mich selbst verfehlte eine Kugel nur knapp«, berichtet sie. So wurde die Universität für Malak kein Ort des Lernens und der Weiterbildung, sondern zum Kriegsschauplatz.
»Mein Vater konnte nicht mehr gehen oder gar weglaufen, weil eine Kugel ihn am Bein getroffen hatte. Ich weinte und schrie, als ich das ganze Blut sah. Ich rief in Richtung des Panzers, dass wir Zivilisten sind. Es kam jedoch keine Antwort.«
Etwa eineinhalb Kilometer entfernt von der Universität befindet sich das Al-Schifa-Krankenhaus, das zum damaligen Zeitpunkt bereits in Teilen zerstört war, nachdem das israelische Militär Mitte November ihren ersten Angriff auf das Krankenhaus durchführte. »Meine beiden Onkel, die sich im fünften Stockwerk der Universität aufhielten, halfen meinem verletzten Vater später, als der Panzer nicht mehr in Sichtweite war, zum Krankenhaus zu gelangen«, erzählt Malak.
Da die Angst vor einem weiteren Angriff zu groß war, blieb sie selbst mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern im Universitätsgebäude, während ihr verletzter Vater und ihre beiden Onkel den ganzen Weg zum Krankenhaus zu Fuß gehen mussten. »Die Ärzte und Krankenschwestern, die noch dort waren«, so fügte sie hinzu, »leisteten ihre Arbeit auf ehrenamtlicher Basis. Die Behandlung von Kranken und Verletzen beschränkte sich aber nur auf das Nötigste, weil es an Ausstattung fehlte.«
Erst später erfuhren Malak und ihre drei Geschwister, dass auch ihre Mutter an der Hüfte verletzt wurde. Sie konnten das Blut jedoch in der Dunkelheit nicht sehen und ihre Mutter wollte ihre weinenden und traumatisierten Kinder nicht allein lassen, weshalb sie den Schmerz hinunterschluckte. Erst am Tag darauf begab sie sich ebenfalls zum Al-Schifa-Krankenhaus, um die Wunde zumindest etwas behandeln zu lassen.Heute ist von dem ehemals größten medizinischen Zentrum Gazas nur noch ein Trümmerfeld übrig.
Am 6. Januar 2024 kehrte die Familie in ihr Heimatdorf zurück, nachdem sie feststellen musste, dass es auch im Westen nicht sicherer war als zu Hause. »Obwohl wir die Anweisungen der israelischen Armee befolgten und unser Dorf verließen, schossen sie auf uns«, erzählt Malak. Sie musste mit ihren verletzten Eltern und Geschwistern erneut den ganzen Weg, etwa zehn Kilometer, zu Fuß zurücklegen.
Malaks Großmutter auf dem Rückweg nach Hause (sie wurde auf einem Eselskarren geschoben, weil sie gebrechlich ist).
Für ihre gebrechliche Großmutter, die mit einem Eselskarren transportiert wurde, war dies nicht die erste Fluchterfahrung. Es gibt kaum palästinensische Familien in Gaza, deren Geschichte nicht von Flucht gezeichnet ist. Malaks Großmutter, deren Name Salha ist, stammt ursprünglich aus einem Dorf des Distrikts Nablus im Westjordanland. Sie wurde im Alter von etwa drei Jahren inmitten der Ereignisse des ersten sogenannten israelisch-arabischen Krieges 1947–49 von ihrer Familie getrennt. Dabei gelangte Salha gemeinsam mit einer Gruppe palästinensischer Flüchtlinge nach Gaza, die dem damals verloren gegangenem Kleinkind letztendlich auch bei der Wiederzusammenführung mit ihrer Familie halfen.
Die Erlebnisse dieses Krieges werden häufig in palästinensischen Familien von Generation zu Generation tradiert, weshalb auch Malak die Erzählungen ihrer Großeltern gut kennt. Im israelischen Kollektivbewusstsein wird der Krieg als Unabhängigkeitskrieg erinnert, während er für die palästinensische Seite den Beginn der »Nakba« (Arabisch für »Katastrophe«) markiert. Rund 750.000 Palästinenserinnen und Palästinenser wurden im Zuge der Nakba aus ihrer Heimat vertrieben. Malaks Großmutter war eine von ihnen.
So übergreift das historische Leid die Generationen palästinensischer Familien, während in der Gegenwart neues Leid entsteht: »Ich habe im Zuge des Krieges viele Angehörige und Freunde verloren. Mein Cousin Yousef starb am 30. Oktober 2023 und mein anderer Cousin Mahmoud am 31. Januar 2024. Sie waren wie ältere Brüder für mich. Auch meine beste Freundin Deema wurde getötet«, sagt Malak.
Die Nahrungsmittelknappheit im Gazastreifen macht den Menschen laufend zu schaffen. »Das erste Mal nach zwei Monaten«, so notierte Malak am 29. Februar auf ihrem Laptop, »konnten wir endlich Mehl auftreiben.« Im muslimischen Fastenmonat Ramadan gab es kaum Nahrung, mit dem die Bewohnerinnen und Bewohner Gazas ihr Fasten brechen konnten. Unter den Texten, Notizen, Fotos und Videos, die Malak im Laufe des Krieges verfasst und aufgenommen hat, ist auch ein Foto ihres kleinen Bruders Achmed, dessen Gesicht strahlte, als es endlich Brot aus richtigem Mehl gab. Zuvor backte die Familie Brot mit Tierfutter, wie Malak erzählt.
Nahrung zu besorgen ist jedoch mit vielen Hürden verbunden, und die Angst, erneut auf dem Weg beschossen zu werden, ist groß. Malaks beide jüngeren Brüder sind zu klein, um den 50-Kilo schweren Mehlsack von dem Lastwagen, der die Nahrungsmittel liefert, abzuholen. Deshalb muss ihr Vater, dessen Bein noch immer von der Schusswunde schmerzt, sich allein zu Fuß auf den Weg machen.
»Ich habe im Zuge des Krieges viele Angehörige und Freunde verloren. Mein Cousin Yousef starb am 30. Oktober 2023 und mein anderer Cousin Mahmoud am 31. Januar 2024. Sie waren wie ältere Brüder für mich. Auch meine beste Freundin Deema wurde getötet.«
Er braucht etwa eine Stunde, um den Halteplatz des Lastwagens zu erreichen, allerdings kommt hinzu, dass es keinen klaren Zeitpunkt für die Ankunft des LKWs mit den Rationen gibt, weshalb er beim letzten Mal den ganzen Tag warten musste, bis der Wagen endlich ankam.
Zudem steigen die Preise weiterhin. Eine Tomate, so hielt Malak am 27. März in einer Instagram-Story fest, kostet in Gaza mittlerweile umgerechnet neun Dollar. »Anfangs dokumentierte ich meine Erlebnisse noch und schrieb einiges auf. Mittlerweile fehlt mir die Kraft für das Schreiben«, erzählt sie. Trotzdem bereitet sie mit ihrer älteren Schwester einen Ersatzunterricht für ihre jüngeren Brüder und die Nachbarskinder vor.
Nicht nur die Universitäten, sondern auch viele Schulen wurden zerstört oder stehen weiterhin geschlossen. Wenn eine Internetverbindung vorhanden ist, versucht sie sich näher mit Trauma-Bewältigung auseinanderzusetzen, um mit den Kindern einige Übungen machen zu können.
Malaks Bruder Achmed freut sich auf frisches Brot aus richtigem Mehl. Zuvor mussten sie Brot aus Tierfutter herstellen.
Dabei gehörte vor allem das Schreiben zu Malaks großen Leidenschaften. Meistens verfasste sie Texte auf Arabisch, manchmal jedoch auch auf Englisch. Ihre Liebe zu den beiden Sprachen war auch der Grund, weshalb sie Translationswissenschaften studieren wollte. Vor dem Krieg veröffentlichte Malak auf ihrem arabischsprachigen Blog, der übersetzt Malak schreibt heißt, Geschichten aus ihrem Alltag, Liebeserzählungen zwischen den griechischen Gottheiten Aphrodite und Hephaistos sowie über Nablus – den Heimatort ihrer Großmutter, den sie selbst aufgrund der Blockade Gazas nie besuchen konnte.
Seit der Tod ihr ständiger Begleiter ist, nimmt auch die Sehnsucht nach einem Leben in Normalität zu. So schrieb sie am 29. Januar die folgenden Zeilen auf ihrem Laptop:
Oh Gott, ich habe mich noch nie so selbstsüchtig gefühlt, wie ich es jetzt tue.
Ich möchte leben, lieben, jemandes Frau, Mutter und Großmutter werden;
Ich möchte liebenswürdig und verspielt sein;
Auf den Straßen tanzen und küssen;
Ich möchte glücklich und zufrieden sein. Also, Oh Gott, könnte ich all dies haben?
– Dein kleines Mädchen
Ihre Heimat Gaza möchte sie trotz allem nicht verlassen, doch da dort alle Universitäten zerstört wurden, überlegt sie, irgendwann im Ausland zu studieren. Ihr nächstes Ziel ist es, hierfür ein Stipendium zu bekommen. Ihren Traum, eines Tages an einer Universität zu studieren, will sie nicht aufgegeben.
Elias Feroz hat die Fächer islamische Religion und Geschichte auf Lehramt studiert und ist zudem als freier Schreiber tätig. Er befasst sich unter anderem mit den Themen Rassismus, Antisemitismus und Islamophobie, sowie Geschichtspolitik und Erinnerungskultur.