14. Dezember 2023
Die zahlreichen Streiks im Gesundheits- und Krankenwesen zeigen: Mit den richtigen Methoden lassen sich nachhaltig Mehrheiten für Arbeitskämpfe aufbauen.
Ärztestreik an der Berliner Charité, 5. Oktober 2022.
»Mehr von uns ist besser für alle«, rufen tausende Krankenhausbeschäftigte jedes Jahr in den vielen Arbeitskämpfen, die es mittlerweile im Gesundheitssektor in Deutschland gibt. Dieser Spruch ist auf gleich mehreren Ebenen wahr. Einerseits verweist er auf die Härten, die die Jahre der Einsparungen im Gesundheitswesen erzeugt haben: Immer mehr Patientinnen und Patienten kommen auf immer weniger Personal, was die Menschen auf beiden Seiten ächzen lässt. Dass Krankenhäuser privatisiert und in Wettbewerb zueinander gesetzt wurden, hat die Versorgung unserer Gesellschaft eindeutig nicht verbessert, sondern verschlechtert. Es braucht eine bessere Finanzierung, bessere Arbeitsbedingungen und letztendlich mehr Personal.
Andererseits bringt »Mehr von uns ist besser für alle« ganz allgemein das wachsende Gefühl der Selbstwirksamkeit zum Ausdruck, das mit gut organisierten Gewerkschaftskampagnen einhergeht. Die Tarifbewegung, deren inoffizielles Motto der Spruch geworden ist, schlägt derzeit hohe Wellen innerhalb der Krankenhausbelegschaften. Sie setzen ihre Krankenhausbetreiber mit Arbeitskämpfen erheblich unter Druck. OP-Säle werden in den Notbetrieb gestellt, Betten für Neubelegungen gesperrt und ganze Stationen geschlossen. Dort, wo Krankenhäuser mit Fallpauschalen Profite erwirtschaften sollen, geht im Streik nur noch eine Notfallbetreuung. Die Krankenhaus-Fabrik wird lahmgelegt. Die profitorientierte Wende im Gesundheitssektor stolpert über sich selbst.
Das alles war und ist möglich, weil sich Beschäftigte in Gewerkschaften organisieren und streiken. Gerade in diesem Sektor ist das alles andere als selbstverständlich. Noch Anfang der 2010er stand man innerhalb der Gewerkschaft ver.di Krankenhausstreiks skeptisch gegenüber. Man glaubte, die Menschen, die dort arbeiten, ließen sich kaum für Streiks gewinnen. Denn wer aus der Klinik geht, hinterlässt keine Produktionshalle, sondern hilfsbedürftige Menschen. Dieses Argument hat sich längst gedreht. Auch hier antworten die Beschäftigten mit einer einfachen und klaren Botschaft: Nicht der Streik ist gesundheitsgefährdend, sondern der Normalzustand.
Das Mehr an organisierten Beschäftigten zeigt Wirkung. Das belegen die Streiks um Entlastungs-Tarifverträge in Unikliniken, aber eben auch Streiks in anderen Branchen. Es klingt wie eine gewerkschaftliche Binsenweisheit: Ein höherer Anteil von Gewerkschaftsmitgliedern im Betrieb, genannt Organisationsgrad, ist gleich höhere Durchsetzungsmacht. Was sich so einfach daher sagt, ist der harte Boden der Tatsachen. Und es scheint so, als würde dieser Fakt in der Diskussion um Gewerkschaften immer wieder als reine Nebensache betrachtet.
So schreibt zum Beispiel die Sprecherin der BAG Betrieb & Gewerkschaft der LINKEN, Ulrike Eifler, über die Entwicklung der Gewerkschaftsorientierung ihrer Partei, dass »gegenwärtig der gewerkschaftliche Blick der LINKEN wie auch der Rosa-Luxemburg-Stiftung stark auf die Organizing-Strategien verengt ist«. Ihrer Ansicht nach müsse die Partei eine Stärkung der politischen Rolle der Gewerkschaften einfordern und unterstützen. Die simple Zusammenfassung ihrer Kritik (und auch vieler anderer): »Es reicht nicht, mehr zu werden.«
Auch wenn 2022 mit 246 Arbeitskämpfen erfreulicherweise kein streikarmes Jahr war (seit 2016 gab es nicht mehr so viele Streiks), geht der schleichende Mitgliederverlust der DGB-Gewerkschaften weiter. Vor zehn Jahren gab es noch 6,15 Millionen Mitglieder, 2022 waren es 5,64 Millionen. Arbeiteten vor zehn Jahren noch 58 Prozent der Beschäftigten in Tarifbindung, so sind es heute nur noch 51 Prozent. Wer kämpfende Gewerkschaften fordert, der muss um mehr Mitglieder ringen. Ohne Mitglieder gibt es keine Durchsetzungsfähigkeit, weder im Betrieb noch in der Politik.
»Der Anglizismus mag so anmuten, aber Organizing ist kein neues Konzept. Es ist ein Kernansatz der historischen Bewegung der arbeitenden Klasse.«
Die abnehmende Macht der Gewerkschaften und die schwächere Tarifbindung, die damit einhergeht, sind messbare Fakten. Genau wie eine zunehmende Vermögensungleichheit. Das alles sind Beweise für einen knallharten Klassenkampf, den Superreiche wie die Familie Quandt (BMW) oder Dieter Schwarz (Lidl) gewinnen – und den die arbeitende Mehrheit verliert.
Vollzeitbeschäftigte in tariflosen Betrieben arbeiten wöchentlich im Durchschnitt fast eine Stunde länger und verdienen trotzdem 11 Prozent weniger als Beschäftigte in vergleichbaren Betrieben mit Tarifbindung. Oder in einem ganz alltäglichen Sinne: Mehrere Millionen Werktätige müssen immer mehr arbeiten und bekommen dafür immer weniger. Sich dieser Realität zu stellen, bedeutet auch anzuerkennen, dass wir in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen wieder zu Mehrheiten kommen müssen. Veränderungen, die unsere Lebensverhältnisse verbessert haben, kamen aus Bewegungen, die Mehrheiten gewinnen konnten.Die Schrumpfung der Gewerkschaften
Heutzutage sind in Deutschland weniger Beschäftigte gewerkschaftlich organisiert als 1951. Mit vielen erfolgreich geführten Kämpfen stieg der Anteil der Mitglieder im DGB stetig bis 1990 auf fast 8 Millionen. Nach der Wiedervereinigung erreichte die Zahl der organisierten Beschäftigten die schwindelerregende Zahl von 11,8 Millionen. Diese Masse begann zu taumeln und stürzte schließlich: Innerhalb von zwanzig Jahren verließ fast die Hälfte aller Mitglieder die DGB-Gewerkschaften.
Mit der Globalisierung Anfang der 1990er wurden für Unternehmen neue Voraussetzungen geschaffen. Räumliche Distanzen von Produkt- und Absatzmärkten verloren an Bedeutung. Die Produktion aufgrund von Kostendruck zu verlagern, war nun eine reale Drohung. Interessensvertretungen und Gewerkschaften gerieten in die Defensive und versuchten das zu verteidigen, was blieb. In Ostdeutschland wurden nach der Wiedervereinigung tausende Betriebe aus »betriebswirtschaftlichen« Gründen geschlossen. Damit verloren hunderttausende Menschen ihre Beschäftigung. Darauf folgten nicht nur große gewerkschaftliche Austrittswellen, sondern auch das Gefühl, nichts an den Verhältnissen ändern zu können.
In der neoliberalen Wende Ende der 1990er griff die Rot-Grüne Regierung mit einer »Flexibilisierung« des Arbeitsmarkts und der Privatisierung vieler öffentlicher Unternehmen die Gewerkschaftsbewegung weiter an. In seiner sogenannten Agenda-Rede behauptete der damalige SPD-Kanzler Gerhard Schröder 2003, viele Tarifverträge seien so unflexibel, dass sie nicht mehr zu einer komplexen Volkswirtschaft passen würden. Die Folge dieser Politik war eine historisch beispiellose Tarifflucht und die Schaffung eines gewerkschaftsfeindlichen Niedriglohnsektors.
Auch wenn die DGB-Gewerkschaften noch groß erscheinen, schwinden weiterhin Organisationsgrade in vielen Betrieben – und damit gewerkschaftliche Durchsetzungsmacht. Die Erfolgsmeldungen über viele Neumitglieder bei ver.di machen Mut. Sie sind aber noch keine Trendwende. Es führt also kein Weg daran vorbei, wieder mehr zu werden. Und genau dem dient Organizing. Wie in der Krankenhausbewegung wird diese Strategie zum größten Teil in Auseinandersetzungen um Tarifverträge oder anderen betrieblichen Kämpfen angewendet.
Dabei achtet man vor allem darauf, dass Menschen in ihren Gewerkschaften aktiv eingebunden werden. Die Mitglieder sollen eine Gewerkschaft als ihre Organisation begreifen, nicht als äußere Instanz. Demokratische Teilhabe und Mitgliederzuwachs verstärken sich dabei gegenseitig. Der Anglizismus mag so anmuten, aber Organizing ist kein neues Konzept. Es ist ein Kernansatz der historischen Bewegung der arbeitenden Klasse. Mit dem Fokus darauf, Mehrheiten zu organisieren, erstritt die Bewegung damals viele Rechte, die für uns heute selbstverständlich sind.
»Während Unternehmensleitungen ganz einfach eine E-Mail an alle Beschäftigten verschicken, ist und bleibt das Eins-zu-eins-Gespräch das beste Mittel der Gewerkschaftsarbeit im Betrieb.«
Genau hier wird Organizing oftmals missverstanden oder verkannt. Meist wird kritisiert, es ginge nur darum, möglichst viele Mitglieder für die jeweiligen gewerkschaftlichen Zwecke zu gewinnen. Es würde also einfach mobilisiert, ohne nachhaltige Strukturen in einem Betrieb aufzubauen und ohne auf die Bedürfnisse der Arbeitenden einzugehen. Doch schaut man auf vergangene betriebliche Auseinandersetzungen, in denen Organizing eine Rolle spielte, organisierten sich viele Beschäftigte deshalb, weil sie sich in Gewerkschaftsstrukturen wiederfanden und ihnen Aufgaben überantwortet wurden.
Das fängt direkt zu Beginn einer Kampagne an: Vor einer Tarifrunde befragen organisierte Beschäftigte ihre Kolleginnen und Kollegen über mögliche Forderungen. Denn erst, wenn die Anliegen von den Werktätigen kommen, werden sie auch von ihnen angenommen. Und erst dann kann eine Kampagne Wirkung entfalten. In späteren Phasen einer Kampagne werden Beschäftigte weiter eingebunden. In vergangenen Krankenhausstreiks wurden zum Beispiel die Tarifverhandlungen von vielen Teamdelegierten begleitet, die direkt von Kolleginnen und Kollegen aus ihren jeweiligen Bereichen gewählt wurden. Dadurch sollten möglichst alle Bereiche, die der zukünftige Tarifvertrag abdecken würde, an Verhandlungen über ihre Anliegen beteiligt werden.
Auch nach einer Organizing-Kampagne profitieren gewerkschaftliche Strukturen in Betrieben. Mitglieder, die während einer Kampagne Verantwortung übernommen haben, fragen sich danach, was sie zusammen mit ihren Kolleginnen und Kollegen noch erreichen können. Organizing zielt demnach nicht auf das reine Mobilisieren, sondern auf das Befähigen. Die US-amerikanische Organizerin Jane McAlevey schreibt dazu: »Wenn die Gewerkschaft eine Mehrheit der Beschäftigten zur Durchführung von massenhaften kollektiven Auseinandersetzungen befähigt – zur Verbesserung des eigenen Lebens, ihrer Familie und ihrer Klasse –, dann ist die Rolle von Beschäftigten nicht bloß symbolisch. Im Gegenteil werden sie zu zentralen Akteuren ihrer eigenen Auseinandersetzung.«
Gewerkschaften erkennen langsam die Möglichkeiten des Organizings. Und auch, dass sie sich zu lange als Stellvertretungen verstanden haben. Beschäftigte treten nicht aus einer Gewerkschaft aus, weil sie Tarifverträge und geregelte Arbeitsbedingungen schlecht finden. Sie gehen, weil ihnen nicht vermittelt wird, dass nur sie mit ihren Kolleginnen und Kollegen bessere Arbeitsbedingungen durchsetzen können.
Was Organizing so wirksam macht, sind die konkreten Methoden. Auf den ersten Blick erscheinen sie banal. Gut möglich, dass viele sich deshalb nicht richtig mit ihnen auseinandersetzen. In jeder Organizing-Kampagne gibt es einen Fokus auf das sogenannte Eins-zu-eins Gespräch. Es ist der Nukleus des Erfolgs. Unter vier Augen können am besten und am nachhaltigsten Informationen ausgetauscht, Verabredungen getroffen und Mitglieder gewonnen werden. Während Unternehmensleitungen ganz einfach eine E-Mail an alle Beschäftigten verschicken, über Vorgesetzte Ankündigungen verlauten lassen oder Aushänge anbringen können, ist und bleibt das Eins-zu-eins-Gespräch das beste Mittel der Gewerkschaftsarbeit im Betrieb. Im Idealfall wird mit allen Beschäftigten einzeln gesprochen. Mit jedem Gespräch lassen sich Kolleginnen und Kollegen gewinnen, die wiederum mit ihren eigenen Kolleginnen und Kollegen sprechen.
»Gehen Beschäftigte ohne starke betriebliche Strukturen und mit wenig Gewerkschaftsmitgliedern in eine Auseinandersetzung, dann verlieren sie. Das politisiert in die genau falsche Richtung.«
Die zweite Grundlage des Erfolgs ist, immer strukturbasiert vorzugehen. Nur wer die Strukturen im Betrieb versteht, kann sich einen Plan machen, mit wie vielen Beschäftigten noch gesprochen werden muss oder wie viele schon gewerkschaftlich organisiert sind. Dazu gehören auch viele Gespräche außerhalb der Komfortzone. Darin unterscheidet sich gewerkschaftliche Organisierungsarbeit von »selbstselektiven« Gruppen wie der Letzen Generation. Dort sammeln sich Aktive, die alle bereits einer Meinung sind und sich nicht mehr gegenseitig bezüglich der Klimakrise überzeugen müssen. Gewerkschaftsarbeit hingegen ist Überzeugungsarbeit. Es geht darum, Mehrheiten unter den Beschäftigten aufzubauen, um die Machtverhältnisse in den Unternehmen zu verschieben. Und das kann nur gelingen, wenn man den Großteil einer Belegschaft überzeugt.
So banal es sich im ersten Moment anhört: Sind diese Fragen geklärt, wurde eine Übersicht erstellt und wurden alle Kolleginnen und Kollegen erreicht, ist das Fundament für die Auseinandersetzung gelegt. Arbeitgeberinnen, Vermieter oder Lobbygruppen haben das Geld – wir die Masse. Und diese muss in einem gemeinsamen Konflikt geeint werden.
Organizing findet niemals losgelöst von einem Konflikt statt. Der Arbeitskampf spielt die entscheidende Rolle. Hier werden für alle Beteiligten die Interessensgegensätze offenbart. Eine Arbeitgeberin, die vorher vom »familiären Verhältnis« im Betrieb geschwärmt hat, klagt gegen den Streik, Beschäftigte werden von ihren Vorgesetzten unter Druck gesetzt oder die Geschäftsführung versucht alles, um die Wahl eines Betriebsrats zu verhindern.
Gehen Beschäftigte ohne starke betriebliche Strukturen und mit wenig Gewerkschaftsmitgliedern in eine Auseinandersetzung, dann verlieren sie. Das politisiert in die genau falsche Richtung. Es verbreitet sich ein Gefühl von Ohnmacht und Vereinzelung – jene toxische Mischung, die den Neoliberalismus stark macht. Eine gewonnene Kampagne hingegen zeigt allen Beteiligten, dass sie die kollektive Macht besitzen, die Gesellschaft zu verändern. Ein Sieg lässt sie weitersehen: Was können wir noch an unseren Lebensverhältnissen verbessern?
»Wir haben das Zeug dazu, mehrheitsfähige Positionen auch zu Mehrheiten zu machen.«
Es ist schon immer so, dass Beschäftigte eines Betriebs, die sich sonst nur in langen Fluren am Kopierer begegnen, in Arbeitskämpfen ihre kollektive Macht spüren. Im Organizing wird sie systematisch aufgebaut. Durchsetzungsfähigkeit ist nichts, was zufällig entsteht, sondern sie muss aktiv erzeugt werden. Der Organizer Slave Cubela bezeichnet Organizing deshalb als »politische Aktivierungssystematik«.
Arbeitende Menschen, die vorher nie von Arbeitskämpfen gesprochen haben, geschweige denn organisiert waren, fangen an, ihre Kolleginnen und Kollegen über ihre Forderungen in einer Tarifbewegung zu befragen, sie entscheiden sich, an einem Streiktag nicht zur Arbeit zu gehen oder halten bei einer Streikkundgebung eine Rede. Das sind Momente, in denen Worte wie Klassenbewusstsein keine leeren Phrasen mehr sind. Hier politisieren sich Menschen ganz konkret an den Arbeits- und Lebensverhältnissen, die sie verbessern wollen.
Aus diesem Grund ist Organizing so wertvoll für Gewerkschaften. Es gewinnt nicht nur viele Mitglieder um der Mitgliederzahlen wegen, sondern es will Auseinandersetzungen um diese Lebensverhältnisse gewinnen. Wenn dabei Mitgliedern eine demokratische Teilhabe an Entscheidungen in einer Auseinandersetzung gewährt wird, erleben arbeitende Menschen Gewerkschaften als ihre Organisationen. Und nur so lässt sich die Gewerkschaftsbewegung revitalisieren. Gelingt das, sind Gewerkschaften keine Stellvertretungen, sondern Organisationen von Arbeitnehmern, die den Arbeitgebern gegenüberstehen.
Wir haben das Zeug dazu, mehrheitsfähige Positionen auch zu Mehrheiten zu machen. Mehr denn je braucht es dafür schlagkräftige Organisationen. »Mehr von uns ist besser für alle« soll nicht nur das Motto der Krankenhausbewegung in Deutschland sein, sondern auch für die Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung im 21. Jahrhundert stehen.
Martin Wähler ist Gewerkschaftssekretär und beim Aktionsbündnis »widersetzen« aktiv.