10. September 2020
Nach dem Brand in Moria wird wieder über die katastrophalen Zustände in überfüllten Aufnahmelagern gesprochen. Dass die griechische Regierung völkerrechtswidrig die Grenzen abriegelt, um Geflüchtete abzuschrecken, kommt dabei nicht zur Sprache – und wird von europäischen Regierungen stillschweigend hingenommen.
Geflüchtete auf dem Weg von der türkischen Küste nach Lesbos.
Am 14. August veröffentlichte die New York Times einen Bericht, in dem illegale Maßnahmen der griechischen Regierung dokumentiert wurden. Deren Ziel ist es, Geflüchtete von den europäischen Außengrenzen fernzuhalten. Der Artikel stützt sich auf Interviews mit Überlebenden, drei unabhängigen Beobachterinnen, zwei akademischen Forschern und der türkischen Küstenwache. Der Artikel besagt, dass mindestens 1.072 Asylbewerberinnen und -bewerber aufs Meer gebracht und sich selbst überlassen wurden. Bei mindestens einunddreißig Ausweisungen wurden Migrantinnen und Migranten auf zum Teil undichten Rettungsflößen zurück aufs Meer gezwungen oder in Booten, deren Motoren zuvor durch griechische Beamtinnen und Beamten zerstört wurden, dem Meer überlassen.
Solche Handlungen sind völkerrechtswidrig. Selbst über die unmittelbare Gefahr hinaus, die sie für das menschliche Leben darstellen, widersprechen sie dem Prinzip der »Nichtzurückweisung«, das solche Zurückdrängungen verbietet. Die rechte Partei Neue Demokratie hatte bereits vor ihrem Wahlsieg im Juli 2019 solch einen »harten« Umgang mit Migrantinnen und Migranten versprochen. Konfrontiert mit der Presseberichterstattung über die jüngsten Ausweisungen, dementierte sie jedoch alle Vorwürfe illegaler Aktivitäten.
Zuerst äußerte sich Notis Mitarakis, der Minister für Migration und Asyl. Er gab eine Erklärung ab, in der er verkündete, dass »Griechenland eine harte, aber faire Migrationspolitik betreibt und seine völkerrechtlichen Verpflichtungen voll und ganz respektiert«. Mitarakis zweifelte an der Glaubwürdigkeit der türkischen Küstenwache als Quelle etwaiger Anschuldigungen und fügte hinzu, dass Interviews von Geflüchteten, die sich derzeit in der Türkei aufhalten, keinen Beweis dafür liefern würden, dass diese Personen in der Türkei gefährdet seien und daher in Griechenland den Flüchtlingsstatus beantragen könnten. In dieselbe Kerbe schlug Premierminister Kyriakos Mitsotakis am 22. August in einem Interview mit CNN. Über Griechenland würden durch die Türkei falsche Behauptungen verbreitet, um »die Migrationsfrage zu einer Waffe zu machen«, so Mitsotakis.
In Wirklichkeit sind die Vorwürfe, dass Geflüchtete durch griechische Beamtinnen und Beamten abgefangen und zurückgewiesen werden, zutreffend – und sie kursieren bereits seit Jahren. Doch seit den Vorfällen im März dieses Jahres – als die Türkei erklärte, sie werde ihre Landesgrenze zu Griechenland öffnen, und daraufhin Tausende Menschen zwischen den beiden Ländern festsaßen – sind solche illegalen Praktiken integraler Bestandteil der »Sicherung« der griechischen Land- und Seegrenzen geworden. Die Tatsache, dass ein solches Vorgehen möglich ist und von den anderen EU-Mitgliedsstaaten toleriert wird, ist ein gravierendes Beispiel dafür, wie sich die Feindseligkeit gegenüber Migrantinnen und Migranten in Griechenland und auf dem ganzen Kontinent normalisiert hat.
Im Völkerrecht garantiert der Grundsatz der Nichtzurückweisung, dass niemand in ein Land zurückgeschickt werden darf, in dem ihm Folter, grausame, unmenschliche oder erniedrigende Strafen und andere nicht wiedergutzumachende Schäden drohen. Dieser Grundsatz ist für diejenigen Länder verbindlich, die das »Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge« von 1951, das »Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge« von 1967 oder die UN-Antifolterkonvention von 1984 unterzeichnet haben. Dies schließt auch Griechenland mit ein. Hervorzuheben ist, dass das Prinzip der Nichtzurückweisung zu jeder Zeit und für alle Migrantinnen und Migranten gilt, unabhängig von ihrem Migrationsstatus.
Das Vorgehen der griechischen Regierung tritt diese internationalen Abkommen mit Füßen, was ihr neben internationaler Aufmerksamkeit auch scharfe Kritik eingebracht hat. Bereits am 10. März hatte die New York Times vor der zunehmend härteren Linie Athens gewarnt. Es wurde enthüllt, dass die griechische Regierung Migrantinnen und Migranten an einem geheimen, außergerichtlichen Ort festhält, bevor sie sie in die Türkei ausweist, ohne dabei die ordnungsgemäßen Verfahren einzuhalten. Mehrere Geflüchtete wurden befragt: Alle sagten, dass sie gefangen genommen, ihrer Habseligkeiten beraubt, geschlagen und aus Griechenland ausgewiesen wurden, während ihr Recht, Asyl zu beantragen oder mit einem Anwalt zu sprechen, völlig übergangen wurde.
Am 12. Juni forderte der United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR) Griechenland auf, die Zurückweisungen an den See- und Landesgrenzen zur Türkei und sowie mögliche Rückführungen von Migrantinnen und Asylsuchenden, die bereits griechisches Territorium oder Hoheitsgewässer erreicht haben, zu untersuchen. Der UNHCR wiederholte diesen Aufruf am 21. August und betonte, dass vermehrt Anschuldigen aus zuverlässigen Quelle vorgebracht wurden. Diese berichteten davon, dass Männer, Frauen und Kinder nach ihrer Ankunft in Griechenland ohne Zugang zu Asylverfahren in die Türkei abgeschoben werden.
Am 16. Juni beschrieb eine Reportage des Spiegels, wie maskierte Männer – mit ziemlicher Sicherheit griechische Grenzkontrollbeamte – wiederholt Flüchtlingsboote in der östlichen Ägäis angreifen. Der Artikel stellt detailliert dar, wie die griechische Küstenwache Flüchtlingsboote abfängt, Migrantinnen und Migranten in Rettungsboote steckt, sie in Richtung Türkei zieht und auf offener See zurücklässt. Oft werden diese Boote dann von der türkischen Küstenwache wieder an Land gezogen. Das Verstörendste an diesen Vorfällen ist jedoch nicht, dass die griechischen Behörden eindeutig gegen ihre internationalen Verpflichtungen in Bezug auf die Menschenrechte verstoßen, sondern dass sie das Leben von Migrantinnen und Migranten ausgerechnet durch den Einsatz eigentlich lebensrettender Ausrüstung gefährden.
Bei solchen Vorfällen handelt es sich nicht um isolierte Vorfälle an den Grenzen. Sie sind vielmehr Teil einer umfassenderen Strategie, die aus dem fremdenfeindlichen politischen Klima, das derzeit in Griechenland grassiert, Kapital schlägt. Diese Atmosphäre gipfelte in gewalttätigen Angriffen auf Geflüchtete auf den griechischen Inseln und an der griechisch-türkischen Grenze bei Evros im März dieses Jahres. Die Anfang Juli errichtete schwimmende Barriere – eine fast 2.700 Meter lange und einen Meter hohe künstliche Grenze aus Bojen und Netzen – nordöstlich der Insel Lesbos ist ebenfalls Teil dieser Logik der Abschreckung. Menschliches Leid findet hier so wenig Beachtung wie das Leben selbst.
Entsprechend zeigte sich dieselbe Logik auch im Rahmen der COVID-19-Krise. Die griechische Regierung lehnt es strikt ab, die überfüllten Flüchtlingslager zu evakuieren oder gar abzubauen. Trotz zahlreicher Aufforderungen von internationalen Organisationen, Menschenrechtsgruppen, medizinischen Expertinnen und Aktivisten, dem Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres des Europäischen Parlaments und der Internationalen Organisation für Migration (IOM) weigerte sich die griechische Regierung, dem Druck nachzugeben. Vielmehr brüstete sie sich mit Protesten von Asylsuchenden, deren Anträge abgelehnt worden waren und wertete deren Beschwerden als eigene Erfolgsgeschichte. So konnte der Wählerschaft die Botschaft übermittelt werden, dass die »Zielquoten für Abschiebungen« erreicht und die Anti-Immigrationsversprechen erfüllt würden.
Auch die »Integrationspolitik« hat sich verhärtet. Aktuell verfolgt diese hauptsächlich den grausamen Anspruch, potentiellen Asylsuchenden zu vermitteln, dass ein ruhiges Leben in Griechenland für sie unmöglich ist, selbst wenn ihre Ansprüche anerkannt würden. Das neue griechische Asylgesetz verkürzte den Zeitraum, in dem anerkannte Geflüchtete nach der Gewährung staatlichen Schutzes in Lagern oder in von der UN verwalteten Unterkünften bleiben dürfen, von sechs Monaten auf nur noch einen. Notstandsleistungen werden ebenfalls nach einem Monat eingestellt, da Geflüchtete nominell berechtigt sind, griechische Steuer- und Sozialversicherungsnummern zu beantragen – was es ihnen zumindest theoretisch ermöglicht, Arbeit zu finden. In Wirklichkeit ist es für Geflüchtete wegen widersprüchlicher Voraussetzungen jedoch praktisch unmöglich, eine Unterkunft oder Beschäftigung zu finden.
Dieser repressive Ansatz zeigt sich auch im Vorgehen des Bürgermeisters von Athen, der der Neffen des Premierministers ist und ebenfalls der Regierungspartei Neue Demokratie angehört. Er ließ die Bänke auf dem Victoria Square in der Stadt entfernen, um das »Herumlungern« von Geflüchteten zu unterbinden. Während der Krise von 2015–2016 hatte sich der Victoria Square zu einem Zentrum der Solidarität für Geflüchtete entwickelt. Anerkannte Geflüchtete fanden dort vorübergehend Zuflucht, sobald sie aus den Lagern geworfen wurden.
Diese Feindseligkeit gegenüber Migrantinnen, Migranten und Geflüchteten ist nicht nur ein Thema des öffentlichen Diskurses, sondern zeigt sich auch in der Wahl des Personals, das die Flüchtlingslager in ganz Griechenland betreibt. Vor kurzem wurde enthüllt, dass der Direktor des Flüchtlingslagers in Pyrgos auf dem Peloponnes bei einem Nazi-Verlag publiziert hatte. Selbiger Verlag hatte auch Bücher von prominenten Mitgliedern der faschistischen Golden Dawn Partei veröffentlicht. Ein Bildungskoordinator des Flüchtlingslagers in Malakasa geriet wegen eines Tweets in die Schlagzeilen, in dem er auf einen Kommentar des berühmten griechischen NBA-Basketballspielers Giannis Antetokounmpo, der seine Erfahrungen mit Rassismus in Griechenland als Kind und junger Erwachsener beschrieb, reagierte. In dem – später gelöschten – Post bezeichnete er Antetokounmpo als »Affen« und einen »beschissenen N…«. Eben dieser »Bildungskoordinator« war bereits unter der Syriza-Regierung eingestellt worden.
Immerhin erwirkte der darauffolgende große öffentlicher Aufschrei – der von antirassistischen Aktivistinnengruppen über die parlamentarische Linke bis hin zu »zentristischen« Parteien reichte – seine Entlassung. Nichtsdestotrotz ist die Tatsache, dass Personen mit solchen Ansichten die Verantwortung für gefährdete Geflüchtete übernommen haben, ein weiterer Hinweis auf die Fremdenfeindlichkeit, die den derzeitigen Umgang mit Migrantinnen, Migranten und Geflüchteten in Griechenland bestimmt.
Neben dem Schaden, den solche Praktiken verletzlichen und hilflosen Menschen zufügen, lässt sich eine beinahe noch verheerendere Normalisierung rechtsextremer Mentalitäten feststellen, die Migrantinnen, Migranten und Geflüchtete entmenschlicht. Das Narrativ, dass besagt, dass die Geflüchtete und Migrantinnen von der Türkei als »Waffe« gegen Griechenland eingesetzte würden, ist hegemonial geworden. Das gilt nicht nur für rechte Regierung, sondern auch für die linke Opposition. Angesichts der Grenzzwischenfälle im vergangenen März erklärte der Syriza-Vorsitzende Alexis Tsipras, dass »die Regierung mit der Schließung der Grenzen Recht hatte«, und dass Griechenland tatsächlich »einer geopolitischen Bedrohung durch die Türkei gegenübersteht«.
Diese Verbreitung dieser Erzählung läuft Gefahr, kritische Stimmen als »unpatriotisch« oder »anti-griechisch« zum Schweigen zu bringen. Denn selbst wenn die Türkei Migrantinnen, Migranten und Geflüchtete tatsächlich für ihre eigenen geopolitischen Pläne in der Region instrumentalisiert, so instrumentalisiert Griechenland sie nicht weniger. Innenpolitisch wurden sie zum Sündenbock für die wirtschaftliche Unsicherheit und den Mangel an Perspektiven in Griechenland erklärt; außenpolitisch werden sie als menschliche Artillerie der Türkei gegen eine vermeintliche kulturelle Integrität Griechenlands dargestellt.
Inmitten des in den letzten Monaten aufflammenden griechisch-türkischen Streits um die wirtschaftliche Souveränität in der Ägäis, und während sich die öffentliche Aufmerksamkeit vor allem auf den Umgang mit der COVID-19-Pandemie richtet, eskaliert die ideologische Entmenschlichung von Geflüchteten, Migrantinnen und Migranten. Sie erscheinen lediglich als »illegale« Eindringlinge, die es nicht wert sind, in der Krise unterstützt und geschützt zu werden. Stattdessen werden sie als Belastung für die griechische Wirtschaft klassifiziert, obwohl die Kosten für die Hilfe für die Geflüchteten im Wesentlichen von externen Quellen getragen werden. Noch verheerender ist, dass man sie zusätzlich als Bedrohung der nationalen Sicherheit und der Existenz der griechischen Nation darstellt.
Ylva Johansson, zuständig für Migrationspolitik bei der Europäischen Kommission (sie war selbst war unter anderem für die Entwicklung des neuen Migrations- und Asylpakts zuständig, der explizit eine »Stärkung der äußeren Grenzen« vorsieht), verurteilte die griechische Regierung. Sie betonte, dass »wir unsere europäische Grenze nicht schützen können, indem wir europäische Werte verletzen und die Rechte der Menschen missachten«, und weiter, dass »die Grenzkontrolle Hand in Hand mit der Achtung der Grundrechte gehen kann und muss«. Doch Griechenland ist in dieser Situation keinesfalls auf sich allein gestellt und die EU ist keine bloße Zuschauerin. Besonders deutlich wird dies im Fall der Grenz- und Küstenwache Frontex, die sehr genau über illegale Praktiken wie Rückführungen Bescheid weiß.
Dies geht aus dem Artikel des Spiegels über den Verdacht, dass Griechenland Geflüchtete auf See im Stich gelassen hat, klar hervor. Die Untersuchungen zu der Reportage kommen zu dem Schluss, dass Frontex zumindest eine Teilverantwortung tragen könnte, da nicht eingegriffen wurde. Auch die deutsche Küstenwache, die ebenfalls in dem Gebiet operiert, scheint sich der Situation bewusst zu sein und entsprechende Praktiken zu tolerieren. In diesem Zusammenhang sollte nicht vergessen werden, dass nach den Ereignissen an der griechisch-türkischen Grenze bei Evros im März dieses Jahres die Chefin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, nicht zögerte, Griechenland als »unseren europäischen Schutzschild« zu honorieren und Hilfe anbot, um an eben diesen Grenzen zu patrouillieren und abzuschotten.
Was sich in Griechenland beobachten lässt, deutet auf einen generellen Wandel in der Einstellung gegenüber Geflüchteten, Migrantinnen und Migranten hin. Hier zeigt sich eine EU-Politik, die ihren Schwerpunkt auf die Überwachung der europäischen Grenzen und nicht auf die Integration von Migrantinnen, Migranten und Geflüchteten legt. Dieser Ausrichtung liegt dieselbe Logik zugrunde, die eine angeblich »europäische Lebensweise« von außen bedroht sieht – und daher eine starke Verteidigung fordert. Angesichts der Tatsache, dass notleidende Menschen als Bedrohung dargestellt und entmenschlicht werden und eine Normalisierung rechtsextremer Standpunkte stattfindet, verschwinden nun auch die restlichen Spuren des europäischen Humanismus.
Rosa Vasilaki ist eine Soziologin und Historikerin aus Athen. Sie promovierte an der Ecole des Hautes Etudes in Paris und der University of Bristol.