13. September 2021
Die Grünen begannen als Friedenspartei. Heute lieben sie die NATO.
Als aufstrebende Regierungspartei werden die Grünen die deutsche Außenpolitik in den kommenden Jahren maßgeblich mitbeeinflussen. In welche Richtung es gehen wird, wenn Baerbock, Habeck und Co. an der Gestaltung dieses Politikfeldes teilhaben dürfen, zeigt ein Blick auf die Kräfte, die im Vorder- und Hintergrund der Partei wirken. Das ideenpolitische Netzwerk der Grünen hat eine Außenpolitik ersonnen, mit dem die Partei rechts an der CDU vorbeizieht.
Die Grünen stehen keineswegs mehr für Friedenspolitik und Abrüstung, sondern für eine Politik der Härte mit einer wehrhaften EU und einer einsatzfreudigen NATO gegen die Gegner im Osten. Es steht außer Frage, dass es gegen die Regime in China oder Russland harte Kritik in der Sache braucht – doch ein Abbruch der Dialogbereitschaft bei gleichzeitiger Aufrüstung bedeutet Konfrontationskurs und damit einen radikalen Bruch mit der außenpolitischen Tradition linker Parteien in Deutschland. Wie kam es zu diesem Kurswechsel?
Es ist das Jahr 2013, die Bundestagswahl steht bevor. Auf dem Cover des Wahlprogramms der Grünen prangt der Slogan »Zeit für den Grünen Wandel«. Die Gesichter von Jürgen Trittin und Katrin Göring-Eckardt zieren landauf, landab die Laternenpfeiler. Ein zentrales Thema ihres Programms ist die soziale Frage. Die Catchphrase lautet: »Teilhaben. Einmischen. Zukunft schaffen.« Fester Bestandteil ist außerdem eine Kritik an der NATO, deren »starke Ausrichtung auf die militärische Absicherung von Staaten« damals nicht den grünen »Ansprüchen an Friedenspolitik« genügte. Sogar eine Einbindung Russlands in die NATO war im damaligen Programm gewünscht.
Doch die Wählerschaft schob der vermeintlichen Aufbruchstimmung den Riegel vor. Ein Minus von 2,3 Prozent stand zu Buche, die Partei rutschte auf magere 8,4 Prozent ab. Heute, acht Jahre später, scheint sich die Parole »Zeit für den Grünen Wandel« mit einiger Verzögerung dennoch zu bewahrheiten. Wenn auch nicht wie gedacht, sondern in dem Sinne, dass die Partei selbst seit der Enttäuschung von 2013 einen beachtlichen Wandel durchgemacht hat. Dieser kann mit Blick auf die Außenpolitik auch als Hinwendung zu einer neuen »Grünen Härte« beschrieben werden.
Diese Härte führt die Parteispitze vor, wenn sie im Gegensatz zu ihrem konservativen Konkurrenten Armin Laschet keinen Zweifel daran lässt, dass mit Annalena Baerbock als Kanzlerin Schluss sei mit der Dialogbereitschaft gegenüber Russland. Die Grünen gehen als einzige Partei mit einem Programm in den Bundestagswahlkampf, das unmissverständlich auf einen Abbruch des Baus der Gaspipeline Nord Stream 2 pocht – und Robert Habeck unterstreicht diese neue grüne Außenpolitik mit seiner Forderung nach sogenannten »Defensivwaffen« für die Ukraine.
Die Grünen setzen heute nicht mehr nur auf Soft Power. Neben Gesprächen sollen militärische Mittel und eine starke transatlantische Allianz die großen geopolitischen Fragen der Gegenwart beantworten. Diese Neuausrichtung der einstigen Friedenspartei kommt nicht von ungefähr, sondern ist einem von den Parteirealos geführten Konsolidierungskurs geschuldet. Dabei spiegelt der Ruf nach einer klaren Haltung gegen Russland, China und alle anderen, als Feinde der Demokratie ausgemachten Akteure, die Einstellung der Wählerinnenschaft der Grünen ziemlich exakt wieder. Diese besteht nämlich nicht mehr aus Hippies, AKW-Gegnern, Friedensaktivistinnen und ehemaligen K-Gruppen-Mitgliedern, sondern speist sich zu großen Teilen aus einer akademischen, global vernetzten Mittelschicht.
Doch die »Grüne Härte« wurde nicht einfach aus der Basis in die Partei aufgenommen. Vielmehr ist sie aus einer Interessenssynthese zwischen Partei, Basis und ideenpolitischem Umfeld erwachsen. Letzteres wurde über Jahre von der transatlantisch orientierten, parteinahen Heinrich-Böll-Stiftung ideologisch unterfüttert. Wie die Stiftung den neuen außenpolitischen Weg der Partei ebnet, zeigt ihr Positionspapier zu Joe Bidens Amtseinführung im Januar dieses Jahres: Hier sprechen sich die Unterzeichnenden für eine Stärkung der NATO, die Stationierung von Atomwaffen und eine Intensivierung der verteidigungspolitischen Beziehungen mit den USA aus. Die Kritik folgte sogleich – und zwar aus eigenem Hause, denn einige Stipendiatinnen und Stipendiaten widersprechen dem hauseigenen Positionspapier. Die Zustimmung zu Aufrüstung und Atomwaffen verkenne, wo die ideengeschichtlichen Wurzeln der Stiftung lägen: in der Friedenspolitik. Schließlich sei der Namensgeber Böll selbst überzeugter Antimilitarist gewesen.
In der Partei umstritten ist auch der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Heinrich-Böll-Stiftung, Ralf Fücks. In der Frage, wie diese zeitgenössische grüne Außenpolitik geformt wurde, führt kein Weg an ihm vorbei. Immerhin saß er zwanzig Jahre im Vorstand der Stiftung. Inhaltlich treibt Fücks – der seine jungen Jahre politisch beim Kommunistischen Bund Westdeutschland zubrachte – inzwischen schon lange in liberalen Gewässern und scheint sich ideologisch oft näher an der FDP als an vielen seiner Parteikolleginnen und -kollegen zu bewegen.
Vor acht Jahren, als das Wahlkampfprogramm von Göring-Eckardt und Trittin den »Grünen Wandel« proklamierte, rief Fücks seinerseits eine neue »grüne industrielle Revolution« aus, welche den »Aufbruch in eine neue Produktionsweise, die das Leben von Milliarden Menschen auf unserem Planeten verbessern wird«, markieren sollte. Der Text ist ein Loblied auf den Erfindungsreichtum der Menschheit – wobei Fücks jedoch zu erwähnen vergisst, dass der Fortschritt des 19. Jahrhunderts in erster Linie auf den ächzenden Rücken von Abermillionen Arbeiterinnen und Arbeitern erwuchs und eben auch ein Jahrhundert drakonischster Ausbeutung mit sich brachte. Jedenfalls liegt seine damalige Vision deutlich näher an der ideologischen Gegenwart der Grünen als ihr Wahlprogramm von 2013.
Nicht nur im Kampf gegen die Klimakrise setzt Fücks auf Instrumente und Narrative von Marktradikalen und Liberalen. Gemeinsam mit Marieluise Beck, einer Grünen-Politikerin der ersten Stunde, die zudem seine Lebenspartnerin ist, gründete er 2017 das Zentrum Liberale Moderne, kurz LibMod. Seit vier Jahren werden hier schwarz-gelb-grüne Visionen ausgetüftelt. Es geht viel um Freiheit, Innovationen und Wachstum, die USA, die transatlantischen Beziehungen und Osteuropa. Genauer gesagt um Russland – für Beck als ehemalige Osteuropasprecherin der Bundespartei ein altbekanntes Terrain, welches sie nun mit ihrem eigenen Think Tank weiter beackert. Auch wenn Fücks und Beck selbst keinem Parlament mehr angehören, hat ihr liberales Zentrum durchaus kurze Wege zur Bundespartei. So findet sich unter den Autoren der Denkfabrik auch der Bundestagsabgeordnete Manuel Sarrazin – ebenfalls grüner Osteuropaexperte und Begleiter Robert Habecks auf seiner Reise zu den ukrainischen Truppen, auf der die denkwürdige Idee der Lieferung von »Defensivwaffen« entstand.
Der Startschuss für das Zentrum Liberale Moderne war vor vier Jahren die Publikation »Ein transatlantisches Manifest in Zeiten von Donald Trump«. Die Positionen: Ja zur nuklearen Teilhabe, Nein zu Nord Stream 2 und die Zusage von 2, sogar lieber 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für den Verteidigungsetat der Bundesrepublik. Für die Transatlantiker, die im Angesicht von Trumps »America-First«-Politik ins Straucheln gerieten, lautete die Maßgabe: Augen zu und durch – aber mit gefletschten Zähnen. Inzwischen dürfte sich bei LibMod wieder Erleichterung eingestellt haben, denn mit Joe Biden sitzt nun ein wesentlich kooperativerer Verhandlungspartner im Weißen Haus.
Eigentlich wäre Bidens Amtsantritt der Moment für ein neues Manifest gewesen – diese Aufgabe übernahm jedoch die Heinrich-Böll-Stiftung mit ihrem umstrittenen Positionspapier. Viele Namen, die sich 2017 unter dem Trump-Manifest von LibMod sammelten, stehen nun ebenfalls unter dem Positionspapier der Heinrich-Böll-Stiftung. Und auch inhaltlich ist es die logische Fortsetzung dessen, was das Zentrum Liberale Moderne einst niederschrieb – mit dem Unterschied, dass die sicherheitspolitischen Forderungen noch selbstbewusster geworden sind.
»Heute ist die Entspannungspolitik vielerorts als rückständige Marotte der Linkspartei verschrien, doch sie war lange Zeit für alle Parteien des linken Spektrums das außenpolitische Mittel der Wahl.«
Ein Blick auf die Akteure und Institutionen im Umfeld des Zentrums Liberale Moderne und der Heinrich-Böll-Stiftung macht deutlich, wie gefestigt der ideologische Unterbau der neuen grünen Außenpolitik ist: Dort tummeln sich Mitglieder der Atlantik-Brücke, der Münchener Sicherheitskonferenz, der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, der Konrad-Adenauer-Stiftung und auch der Bundeswehr. Militarismuskritische oder gar friedenspolitische Stimmen findet man im außenpolitischen Bereich der beiden grünlichen Denkfabriken hingegen kaum.
Diese neue »Grüne Härte« bricht mit einer Idee, die in der linken deutschen Außenpolitik Tradition hat: der Entspannungspolitik. Heute ist sie vielerorts als rückständige Marotte der Linkspartei verschrien, doch die Entspannung war lange Zeit für alle Parteien des linken Spektrums das außenpolitische Mittel der Wahl. Dialog, Abrüstung und militärische Zurückhaltung galten nicht nur links der Union als konsensfähige Grundsätze, sondern fanden auch in der Zivilgesellschaft breite Unterstützung. Berühmt wurde die Entspannungspolitik Mitte der 1970er durch Willy Brandts Vermittlungsversuche im Kalten Krieg. »Wandel durch Annäherung« lautete der Grundsatz seiner Ostpolitik, welche die Normalisierung der Beziehungen zur DDR und die Anerkennung der deutschen Ostgrenzen nach 1945 brachte.
Dass dieses Credo noch bis in die 2000er hi-nein nachwirkte, zeigt die Ostpolitik Gerhard Schröders. Zugegeben, die politischen Ergebnisse von Schröders Kanzlerschaft und seine Verstrickungen mit der russischen Oligarchie machen ihn nicht unbedingt zum Vorzeigebeispiel eines Sozialdemokraten – doch mit dem gemeinsamen Nein von Frankreich, Deutschland und Russland zum Irakkrieg und dem Anspruch einer Äquidistanz zu Washington und Moskau trug selbst die rot-grüne Außenpolitik der 2000er Jahre noch Spuren von Brandts Konzept.
Auch in den Reihen der Heinrich-Böll-Stiftung ist die »Grüne Härte« keine schon immer dagewesene Norm. Noch vor zehn Jahren lud die Stiftung in Berlin zu einem Workshop mit dem Titel »SPD, Grüne und die Friedensbewegung gegen die Nachrüstung« ein. Doch die Zeiten, in denen Grüne, Sozialdemokraten und Linke zusammen für eine Politik der Abrüstung standen, sich gegen deutsche Kriegseinsätze und für Soft Power und Dialogbereitschaft aussprachen, sind vorbei. Es ist müßig, darüber zu streiten, wann das Leitbild einer linken deutschen Außenpolitik seine ersten Risse bekam. So waren die von Rot-Grün beschlossene Teilnahme am Nato-Einsatz in Jugoslawien 1999 sowie der Afghanistaneinsatz der Bundeswehr ab 2001 oder das Rüstungsexport-Faible des ehemaligen SPD-Wirtschaftsministers Sigmar Gabriel sicher nur einige von vielen Beben, die das Fundament für eine deutsche Entspannungs- und Friedenspolitik erschütterten.
Mit dem außenpolitischen Paradigmenwechsel bei den Grünen scheint diese Idee endgültig zum Nischendasein in der politischen Kultur dieses Landes verdammt zu sein – und mit ihr viele der Hoffnungen auf Rot-Rot-Grün im Bund. Denn in der außenpolitischen Ausrichtung könnten Linke und Grüne heute kaum weiter auseinander liegen. Jede »Defensivwaffe«, jedes weitere Prozent des Staatshaushaltes für die NATO und jede Forderung nach nuklearer Teilhabe dürfte für die Linke eine rote Linie überschreiten. So wurde die Idee einer deutschen Entspannungspolitik, mitsamt der zaghaften rot-rot-grünen Annäherungsversuche, zum Opfer einer – akribisch von liberalen Think Tanks vorbereiteten – »Revolution« bei den Grünen.