19. September 2022
Mit seinem unbeirrbaren Einsatz für Gerechtigkeit ebnete Hans-Christian Ströbele einer ganzen Generation linker Juristen den Weg. Ein Mitstreiter erinnert sich.
Ströbele in seiner Berliner Wohnung, 15. Mai 2019.
IMAGO / epdHans-Christian Ströbele, der am 29. August 2022 nach langer Krankheit verstarb, war Rechtsanwalt und einer der bekanntesten grünen Politiker der Republik. Über 21 Jahre saß er als Abgeordneter im Deutschen Bundestag. Seine Ernsthaftigkeit, seine Wachheit und sein nicht an Moden und Gefallenwollen orientierter Wille zum Widerspruch wurden am Ende seiner Tage in allen größeren Zeitungen Deutschlands und von vielen Politikerinnen und Politikern quer durch das politische Spektrum gewürdigt.
In den Berliner Medien, in den Cafès und auf spätsommerlichen Festen erinnerten sich viele an den weißhaarigen, mobilen und stets freundlichen Mann auf dem Fahrrad, den man oft auf den Straßen von Kreuzberg antraf. Er war stets offen für ein Gespräch, ob über Alltagsthemen oder politische Großereignisse.
Vor allem aber kannten wir ihn als Begleiter von Demonstrationen in der ganzen Stadt. Er radelte mit, stoppte mal hier, mal dort, diskutierte mit Polizeikräften, Demonstrierenden und Schaulustigen – bis ihn dann seine Krankheit etwas beschränkte.
Über seine Politkarriere und seine Präsenz in Berlin verblich sein vielleicht größter historischer Verdienst, an den hier erinnert werden soll: Er war einer der Protagonisten der historischen Transformation des deutschen Juristenstandes. Die 1987 erstmals erschienene Publikation Furchtbare Juristen. Die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz war das Standardwerk für Generationen kritischer Jurastudentinnen und -studenten. Der Autor Ingo Müller beschreibt darin die Vergehen der deutschen Justiz zwischen 1933 und 1945 sowie die Kontinuitäten im Justizapparat nach dem Zweiten Weltkrieg – und tritt damit dem selbstgefälligen westdeutschen Narrativ einer ungebrochenen demokratischen Erfolgsgeschichte seit 1945 entgegen.
Als Ströbele 1939 geboren wurde, war die Mord- und Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten bereits sechs Jahre im Gange und sie sollte noch weitere sechs Jahre andauern. Aber nicht nur die überzeugten Nazis und Männer in Uniform stellten die Säulen des Repressionssystems dar. Es waren auch die Juristen, über die im Nürnberger Juristenprozess im Dezember 1947 geurteilt wurde:
»Die Beschuldigung, kurz gesagt, ist die der bewussten Teilnahme an einen über das ganze Land verbreiteten und von der Regierung organisierten System der Grausamkeit und Ungerechtigkeit und der Verletzung der Kriegsgesetze und der Gesetze der Menschlichkeit, begangen im Namen des Rechts, unter der Autorität des Justizministeriums mithilfe der Gerichte. Der Dolch des Mörders war unter der Robe des Richters verborgen.«
Kurt Tucholsky, einer der Chronisten der Weimarer Republik, gab eine kurze und treffende Beschreibung des Juristenstandes ab: »Sehen wir Euch an, packt uns das tiefe Grauen.«
Dabei gab es bereits in der Weimarer Republik liberale und kämpferische Strafverteidiger; sozialistische und marxistische Rechtswissenschaftler setzten sich für die demokratische Weimarer Verfassung und die Rechte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung ein. Diese Tradition wurde brutal ausgelöscht, Juden und Sozialisten ermordet oder ins Exil getrieben.
Mittlerweile bestreitet niemand mehr ernsthaft, dass der Juristenstand auch in den ersten Nachkriegsjahren bestenfalls von Opportunisten und Mitläufern des Nazi-Systems, schlimmstenfalls von Mördern in Robe beherrscht war. Für Hans-Christian Ströbele war das eine der entscheidenden politischen Einsichten, die sein Leben prägten. Er berichtete davon, wie seine Strafrecht-Arbeitsgemeinschaft für Rechtsreferendare von dem Vorsitzenden Richter beim Schwurgericht in Berlin Moabit, Dr. Oske, geleitet wurde. In der gesamten bundesdeutschen Geschichte wurden lediglich zwei Berufsrichter und nur ein einziger Richter vom Volksgerichtshof von bundesdeutschen Gerichten für ihre Bluttaten in Robe angeklagt: Letzterer war der ehemalige Richter am Volksgerichtshof, Horst Rehse. Von 35.000 Todesurteilen der NS-Justiz hatte Rehse 231 unterzeichnet. Rehse wurde zunächst in einem aufsehenerregenden Prozess vom Landgericht Berlin zu fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, dann aber im Dezember 1968 im Revisionsverfahren vor dem Berliner Schwurgericht unter Vorsitz des besagten Dr. Oske freigesprochen.
Ströbele erzählte, wie er und andere Rechtsreferendare sich darüber empörten, das Urteil schriftlich kommentierten und ihre Kommentare mittels einer Handabzugsmaschine verbreiteten. Freispruch für die Nazi-Justiz sollte Jörg Friedrich später seine rechtshistorische Dokumentation nennen.
Dies war die Zeit der Studentenbewegung, die kritische Theoretiker der Weimarer Republik wie Otto Kirchheimer und Karl Korsch wiederentdeckte und theoretisch und praktisch an diese Tradition anknüpfte. Ströbele diskutierte im damaligen Republikanischen Club in Berlin-Charlottenburg, ob man als Linker überhaupt noch Rechtsanwalt werden dürfe oder ob man damit letztlich nicht auch dem Repressionsapparat diene. Der Forderung, als Revolutionäre in die Betriebe gehen und das Proletariat politisieren zu müssen, widersetzten sich Ströbele und andere. Vielmehr sahen sie ihre Aufgabe darin, der Repressionen, der die Studentenbewegung ausgesetzt war, entgegenzutreten. Ströbele gründete mit Horst Mahler und Klaus Eschen das Sozialistische Anwaltskollektiv – ein ungeheurer Affront gegen die etablierte Anwaltschaft und die Altnazis und Kalten Krieger in Justiz und Bürokratie.
Die offizielle Anwaltschaft in Deutschland sah sich seinerzeit mehrheitlich als sogenanntes Organ der Rechtspflege. Nicht nur Richter und Staatsanwalt, sondern auch der Anwalt hätten an der Aufrechterhaltung der staatlichen Rechtsordnung mitzuwirken. Ströbele und seine Kollegen ließen sich hingegen auf den Anwaltsberuf ein und sahen sich als eine Art Hilfsorgan der Mandantinnen und Mandanten.
»Das Subjekt des Prozesses ist der Angeklagte, und der Anwalt hat die Aufgabe, ihm im Gerichtssaal mit allen Regeln der juristischen Kunst Gehör zu verschaffen, ihm zu seinem Recht zu verhelfen. Alles war dem untergeordnet, was die Mandanten wollen«, betonte er. Er wolle sich nicht vom Staat vereinnahmen lassen und stand parteiisch auf der Seite der Mandantinnen, deren Interessen er einseitig vertrat.
Diese Haltung wurde ihm persönlich zum Verhängnis. Gemeinsam mit anderen übernahm er die Verteidigung von Angehörigen der Roten Armee Fraktion (RAF). Sie taten dies auf so engagierte Weise, dass einige von ihnen kurz vor Beginn des legendären Prozesses in Stuttgart-Stammheim gegen Andreas Baader, Ulrike Ensslin und andere von der Verteidigung ausgeschlossen wurden. Für diese Drangsalierung der engagierten Verteidiger war die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe maßgeblich verantwortlich. Diese charakterisieren die Autoren Friedrich Kiessling und Christoph Safferling in ihrer Studie Staatsschutz im Kalten Krieg mit folgenden Worten: »Sie blieben Staatsfreunde, die der offenen Gesellschaft auch 25 Jahre nach der Bonner Republikgründung im Grunde mißtrauten.«
Für Ströbele kam es noch schlimmer. Im Sommer 1975 wurde er verhaftet und saß fünf Wochen in Untersuchungshaft. Dort hielt er seine Anwaltssprechstunden übers Fenster und beim Hofgang ab, denn als praktizierender Strafverteidiger hatte er viele Mandanten im Gefängnis. Am Ende eines längeren Prozesses wurde er 1982 zu einer Gefängnisstrafe von zehn Monaten auf Bewährung wegen Unterstützung einer kriminellen Vereinigung verurteilt; er habe am Aufbau des illegalen Informationssystems der RAF mitgewirkt.
Während ihm dieses Engagement von Konservativen bis zuletzt vorgehalten wurde, argumentierte Ströbele, dass er den Austausch von Papieren zwischen den Gefangenen und der Außenwelt aufrechterhalten habe. Ihm sei es darum gegangen, die langjährige Untersuchungshaft erträglicher zu gestalten und auch die Folgen der Isolationshaft zu mildern und zu beenden. Zu seinem Verständnis einer Kollektivverteidigung gehörte auch deren gemeinsame Vorbereitung und dies beinhaltete einen Austausch und die Organisation eines politischen Diskussionsprozesses. Seinen Mandanten Andreas Baader hielt dieses Engagement nicht davon ab, Ströbele und die anderen zu beschimpfen und ihnen vorzuwerfen, sie seien die letzten, die an den Rechtsstaat glaubten.
Und in der Tat glaubte Ströbele an den Sinn rechtsstaatlicher Verfahren. Er war »ein unbestechlicher, unendlich fleißiger, mutiger und zugleich schlauer Verteidiger«, wie unser Kollege Johannes Eisenberg in seinem Nachruf ausführt, und »er hatte, was es bei Strafverteidigern praktisch nicht gibt, keine Allüren«.
Für meine Generation waren er und seine Kolleginnen und Kollegen die Eisbrecher, die einer neuen Rechtskultur den Weg ebneten. Der Strafprozess lebt von der Austragung antagonistischer Interessen und davon, dass die Perspektiven der Angeklagten professionell vorgebracht werden. Was für uns später selbstverständlich war und bis heute ist, kostete bis in die 1980er Jahre noch viel Mut.
Dieses Ethos nahm er dann mit in den Bundestag und stach bei mehreren Untersuchungsausschüssen durch sein Aktenstudium, seine akkurate Vorbereitung und seine Befragungstechnik hervor. Legendär wurden seine Auftritte und die seines damaligen Kollegen Otto Schily bei dem Untersuchungsausschuss zur Parteispendenaffäre. Ab 2006 beschäftigte ihn der sogenannte BND-Untersuchungsausschuss, wo es um die Beteiligung des bundesdeutschen Geheimdienstes am Irakkrieg und um die Mitverantwortung an der Verschleppung und Folterung von Terrorismusverdächtigen durch die CIA ging. Ebenso aktiv war er bei dem nächsten großen Geheimdienstskandal, dem Totalversagen deutscher Polizei- und Geheimdienstbehörden bei der rechtsradikalen NSU-Mordserie, deren nur halb gelungene Aufklärung im NSU-Untersuchungsausschuss ab 2012 und schließlich beim NSA-Abhörskandal ab 2014.
Sein Gespür für das Momentum zeigte sich noch einmal, als er der erste Politiker weltweit war, der im Oktober 2013 den Whistleblower Edward Snowden in Moskau besuchte, sich mit ihm fotografieren ließ und ihn fortan tatkräftig unterstützte.
Bei aller Freundlichkeit und Aufgeschlossenheit für Gespräche kam er einem aber immer auch ein wenig distanziert vor. Doch dieser Eindruck täuschte. Anlässlich eines Interviews über die RAF-Prozesse berichtete er mir 2016 offenherzig von seinen ersten politischen Aktionen Anfang der 1960er Jahre, als er mit Studenten aus der juristischen Fakultät der Freien Universität Berlin Freunde und Verwandte bei der Flucht aus der DDR unterstützte. Er erzählte davon, dass er anfangs selten im Hörsaal war und sich viel im studentischen Nachtleben herumtrieb, bis er dann irgendwann genug vom Lotterleben gehabt habe. Natürlich habe er sich für Kunst und Kultur interessiert und Bücher lesen wollen. Doch mit dem Lesen von Zeitungsausschnitten, Papieren zu Gesetzesvorhaben und Unmengen von Akten sei er zu genüge ausgelastet. Was ich denn an seiner Stelle machen würde, wenn zum NSU immer wieder neue Akten auftauchten oder Snowdens Dokumente weitere Aufklärung unverzichtbar machen würden? Dies seien die Themen, mit denen er sich seit Jahren befasse, in denen er sich auskenne und dann würde irgendein Unsinn behauptet, der nicht stimme. Da könne er sich nur schwer heraushalten.
Unsere Gesellschaft sähe besser aus, hätten wir mehr von seiner Sorte – unbestechlich, beharrlich, der Aufklärung und der Gerechtigkeit verpflichtet.
Wolfgang Kaleck ist Rechtsanwalt und Leiter das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR).