20. Mai 2022
Der ehemalige Guerillakämpfer Gustavo Petro könnte Kolumbiens erster linker Präsident werden. Der Backlash der rechten Elite beschränkt sich jedoch nicht nur auf Schmierkampagnen, sondern macht auch vor Mordversuchen nicht halt.
Präsidentschaftskandidat Gustavo Petro und Vizekandidatin Francia Márquez, 25. März, Bogotá, Kolumbien.
Es scheint, als sei die Normalität nach Kolumbien zurückgekehrt. Auf den Straßen herrscht reges Treiben, Restaurants und Salsa-Clubs haben geöffnet, Masken sieht man im Alltag nur noch selten. In der allgemeinen Wahrnehmung ist die Pandemie überstanden, ein Gesprächsthema unter vielen. Doch die verheerenden wirtschaftlichen Auswirkungen von Corona sind alles andere als überwunden. Lockdowns ohne begleitende ökonomische Unterstützung haben viele Kolumbianerinnen und Kolumbianer in Not gestürzt. Die Einschätzung und Wahrnehmung der eigenen Lebensqualität hat darunter sehr gelitten.
Die Perspektivlosigkeit der Jugend, steigende Ungleichheit und grassierende Korruption prägen das südamerikanische Land, das seit seiner Unabhängigkeit von rechten und konservativen Kräften regiert wird. Doch die Vernachlässigung der ärmeren Bevölkerungsschichten während die Pandemie durch die Regierung hat endlich eine breite Masse erweckt. Als in Bogotá der Vorschlag für eine regressive Steuer auf öffentliche Dienstleistungen debattiert wurde, die den Lebensstandard weiter gedrückt hätte, gingen im Mai 2021 mehr als 5 Millionen Kolumbianerinnen und Kolumbianer dagegen auf die Straße. Diese bisher beispiellose Protestwelle traf auf brutale Polizeigewalt.
Die Proteste sind abgeklungen, doch die wirtschaftliche Situation vieler Menschen ist prekärer als jemals zuvor. 2021 lebten 39,3 Prozent der Kolumbianerinnen und Kolumbianer in Armut. Das ist im Vergleich zu 2020, als die Armutsquote bei 42,5 Prozent lag, zwar eine Verbesserung, doch die Armutsquote ist heute dennoch höher als vor der Pandemie (35,7 Prozent). Die Inflationsrate hat inzwischen fast 9 Prozent erreicht und die Lebensmittelpreise sind als Auswirkung der russischen Invasion der Ukraine extrem gestiegen.
»Vor der Pandemie war das Leben leichter. Das Geld hat länger gereicht. Jetzt explodieren die Preise für Nahrungsmittel völlig unkontrolliert, aber unsere Löhne halten nicht mit. Notwendiges wird zum unerschwinglichen Luxus«, so Andrea Bermudez, eine Verkäuferin aus der südkolumbianischen Stadt Buga.
In Reaktion auf diese Entwicklungen haben sich viele Kolumbianerinnen und Kolumbianer offensichtlich entschlossen, bei den kommenden Wahlen für eine andere Politik zu stimmen. Doch die Einigkeit der Proteste des letzten Jahres ist verflogen.
Umfragen sehen mit 38 Prozent den ehemaligen Guerillakämpfer und linken Präsidentschaftskandidaten Gustavo Petro vorn. Doch das Beispiel des benachbarten Venezuelas schreckt ab und befeuert die gesellschaftlich tief verwurzelte Skepsis gegenüber dem Sozialismus und die Sorge vor einem erneuten Bürgerkrieg. Der Weg des Wandels ist also von Hindernissen durchkreuzt.
Nichtsdestoweniger gewann Petro, gegenwärtig Senator, die Vorwahlen im März mit 4,49 Millionen Stimmen deutlich gegen seinen Hauptrivalen, den ehemaligen Bürgermeister von Medellín, Federico Gutiérrez, der nur 2,16 Millionen Stimmen holen konnte.
Frauen sind in der kolumbianischen Politik immer noch deutlich unterrepräsentiert. Das macht den Sieg der afrokolumbianischen Feministin und Menschenrechtsaktivisten Francia Márquez, die den zweiten Platz innerhalb Petros linken Blocks erzielen konnte, noch bedeutsamer. Sie tritt nun zusammen mit Petro als Vizepräsidentschaftskandidatin an.
Das Duo hat Millionen Menschen in Kolumbien, vor allem aber die verzweifelte junge Generation, mobilisiert. »Meine Hoffnung ist, dass wir unser Land verändern, inklusiver und wirtschaftlich stabiler machen können. Wir müssen in die Leute investieren und das Bildungssystem verbessern, sodass die kommenden Generationen den Wandel weiter vorantreiben können«, meint etwa Daniela Bermudez, eine junge Frau aus Cali.
In der Vergangenheit waren junge Menschen in Kolumbien tendenziell eher unpolitisch, wie Diego Fernando Campo Valencia, der Gründer der Nichtregierungsorganisation Fundación Proyectando Vidas, erklärt. Doch das ändere sich nun: »Heute zählt dieses Land auf die Jugend. Die unterdrückte Frustration über die Ungerechtigkeiten im Land hat sich während der Pandemie Bahn gebrochen. Und obwohl sich das gesamte Establishment an Petro abarbeitet, gibt er den Menschen jeden Tag aufs Neue ein Gefühl der Selbstermächtigung. Er zeigt, dass sich in diesem Land etwas verändern kann.«
Es ist bereits Petros dritter Anlauf bei einer Präsidentschaftswahl. 2018 unterlag er in der Stichwahl gegen den rechtsgerichteten Iván Duque mit 12 Prozent Abstand. Als ehemaliges Mitglied der Guerilla-Organisation M-19 nahm Petro später an den Friedensverhandlungen teil, die 1990 in der Entwaffnung der Gruppe und ihrer Überführung in eine politische Partei mündeten. Von nun an widmete sich Petro der parlamentarischen Politik und war fast zwei Jahrzehnte lang im Kongress. Im Jahr 2011 wurde er zum Bürgermeister der Hauptstadt Bogotá gewählt, nachdem er ein Jahr zuvor zum ersten Mal bei einer Präsidentschaftswahl angetreten war.
Doch während Petro für manche die Hoffnung auf Wandel verkörpert, versammelt sich ein anderes Lager hinter dem gemäßigten Kandidaten Federico »Fico« Gutiérrez. Sie behaupten Petro – der für eine Zusammenarbeit mit konservativen Kräften offen wäre – würde einen autoritären Staatssozialismus in Kolumbien etablieren wollen. Fico, der die Unterstützung des rechten Ex-Präsidenten Álvaro Uribe genießt, hat sich das »Venezuela-Szenario« als Mittel der Angstmacherei effektiv zunutze gemacht.
Jorge Rodríguez und Luiz Ramírez, zwei Postangestellte, sind beide überzeugt, dass Kolumbien einen Wandel bitter nötig hat. »Aber das Land muss zu einer besseren Version seiner selbst werden; wir möchten nicht wie Venezuela enden. Petro steht zu weit links; er kann uns nicht vereinen. Fico repräsentiert die Menschen viel besser«, erklärten beide gegenüber JACOBIN.
Clara Inés, eine arbeitslose Krankenschwester, pflichtet ihnen bei: »Die Idee des Sozialismus macht mir Angst. Schauen Sie doch nur einmal nach Venezuela. Unsere Regierung ist in vieler Hinsicht enttäuschend, aber alles ist besser, als so zu leben, wie dort.«
In Erwiderung auf solche Anschuldigungen argumentiert Petro, dass sich Kolumbien und Venezuela schon jetzt in vielen Aspekten gleichen. »Das Wirtschaftssystem ist dasselbe«, sagte er dem Radiosender Tropicana FM und verwies darauf, dass beide Länder von Ölexporten abhängig sind und mit steigenden Lebensmittelpreisen zu kämpfen haben. Bei einem Wahlkampfauftritt in Cúcuta nahe der venezolanischen Grenze ging er sogar soweit, Duque mit Nicolás Maduro, dem Präsidenten des Nachbarlandes, zu vergleichen.
Petros Ankündigungen, ein anderes, nicht-extraktives Wirtschaftsmodell jenseits von Rohstoffexporten finden zu wollen, macht ausländische Investoren schon jetzt nervös. Sie warnen, dies könnte die Wirtschaft des ölreichen Landes »ruinieren«.
Fico versucht im Wahlkampf, die Kontroversen um Petro auszunutzen und sich als Kandidat zu präsentieren, der Rechte und Linke zusammenführen kann. Doch im Wesentlichen konzentriert er sich darauf, seinen Gegner zu diskreditieren.
»Fico behauptet, dass er den Wandel auch will, aber er hat nichts Neues zu sagen – er steht für die gleiche Politik wie Uribe«, meint Andrea Bermudez. Diego Fernando, ein ehemaliges Mitglied der Partei Nuevo Liberalismo, fügt hinzu: »Die meisten Menschen in Kolumbien verstehen, dass Fico die alte Machtelite in neuem Gewand verkörpert.«
Um die Sorgen von Geschäftsleuten zu beschwichtigen, betont Petro, dass Enteignungen ausgeschlossen sind. Er hat vielmehr vor, Kolumbiens Reichtum behutsam umzuverteilen. Doch seine Vision für Kolumbien umfasst auch eine tiefgreifende Umwälzung der von der Elite dominierten Machtstrukturen. Dies hat ihn zum wichtigsten Feind des rechten Establishments gemacht, das seit Jahrzehnten das Sagen im Land hat.
Obwohl Amtsinhaber Duque und seine Partei Centro Democrático davon abgesehen haben, einen Kandidaten aufzustellen, ziehen sie hinter den Kulissen trotzdem die Fäden. Sie setzen alles daran, um Petro und sein Wahlbündnis Pacto Histórico durch Desinformationskampagnen in den Mainstream- und sozialen Medien zu schaden. Gefährlicher ist, dass sie den Gewaltdrohungen von paramilitärischen Gruppen, die ihnen nahe stehen, nichts entgegensetzen.
Politische Morde haben in Kolumbien eine traurige Tradition. Petro und Márquez wurden bereits mehrmals von rechten Paramilitärs bedroht. Beide nehmen erhebliche persönliche Risiken in Kauf, indem sie das Establishment herausfordern.
Vor kurzem musste Petro eine Wahlkampftour in Kolumbiens Kaffeeanbaugebiet absagen, da sein Sicherheitsteam aus direkter Quelle Informationen darüber erhalten hatte, dass die Gang La Cordillera einen Anschlag auf ihn plane.
Petro beschuldigte »den Kreis um Uribe« schnell, hinter dem versuchten Attentat zu stecken. Kolumbiens Nationalpolizei, deren Unterstützung sich das rechte Establishment stets sicher sein kann, leugnete über derartige Pläne im Bilde gewesen zu sein. Präsident Duque betonte, er würde die Bedrohung ernst nehmen, während Uribe Petro öffentlich beschimpfte und ihm vorwarf, die Regierungspartei in den Schmutz ziehen zu wollen.
»Petro ist der einzige Kandidat, dem es gelingt, Plätze zu füllen; sein Wahlkampf setzt auf den direkten Kontakt zu den Menschen. Leider bedeutet das auch, dass sich der Kandidat verletzlich macht und sich in eine potenziell lebensgefährliche Situation begibt«, erklärt Diego Fernando. »Wenn Petro ums Leben kommt, wäre das für Kolumbien katastrophal. Es würde das Land destabilisieren und zu einem neuen Bürgerkrieg führen.«
Trotz der Drohungen gegen ihn nahm Petro einige Tage später seinen Wahlkampf wieder auf – jedoch nicht, ohne deutlich verstärkte Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, wie etwa das Tragen einer schusssicheren Weste.
Das zeigt, wie fragil die kolumbianische Demokratie weiterhin ist. Das rechte Establishment ist der Grund für die anhaltende Instabilität. Über Jahrzehnte unterstützen die USA Kolumbien im Kampf gegen den Drogenhandel mit Milliarden von Dollar an Militärhilfe. Nachdem 2004 Verbindungen zwischen Paramilitärs und der kolumbianischen politischen Elite aufflogen, änderte sich daran wenig: Die Mittel der US-Regierung flossen weiter und die diplomatische Unterstützung war ungebrochen.
Eine Regierung unter der Anführung von Petro würde diese Verbindungen kappen und die Beziehungen zu den USA fundamental neu strukturieren. Die USA könnten ihren engsten Verbündeten in der Region verlieren – unter Umständen als Resultat ihrer jahrzehntelangen Unterstützung von Paramilitärs, politischer Repression und wirtschaftlicher Ausbeutung.
Falls es der rechten Elite gelingen sollte, ihre gesunkenen Umfragewerte wieder zu stabilisieren, könnte dies das Ende von Kolumbiens Chance auf einen radikalen Wandel bedeuten und die konservative Herrschaft wieder verfestigen. Am 29. Mai werden die Kolumbianerinnen und Kolumbianer selbst darüber entscheiden, welchen Weg sie für ihre Zukunft einschlagen wollen.
Nadja Sieniawski ist freie Journalistin. Sie lebte und arbeitete bereits in Kolumbien, Deutschland und Großbritannien.
Nadja Sieniawski ist freie Journalistin. Sie lebte und arbeitete bereits in Kolumbien, Deutschland und Großbritannien.