19. April 2023
Hayek wird von Neoliberalen als Ikone individueller Freiheit glorifiziert. Tatsächlich hatte er selbst für einen solchen Individualismus nur Spott übrig.
Friedrich von Hayek, 1948.
IMAGO / LeemageWäre ich Hayek, ich wäre genervt. Da widmet man sein Lebenswerk dem Versuch, den Unterschied zwischen echtem und falschem Individualismus zu markieren und wird dann ausgerechnet zum Posterboy derjenigen, die man selbst letzterer Kategorie zuordnet. »Tatsächlich habe ich, als ich […] einige Standardwerke nach Beschreibungen des Begriffs ›Individualismus‹ durchgesehen habe, fast zu bereuen begonnen, dass ich die Ideale, an die ich glaube, je mit einem Namen verbunden habe, der so missbraucht und so missverstanden worden ist wie dieser«, befand er selbst.
Wer nonkonformistische Individuen will, ist mit Hayek schlecht bedient. Libertäre, die sich heutzutage rebellisch anmutend gegen die gesellschaftliche Einbettung des Menschen stellen, verstehen ihn falsch und sind mit Ayn Rand besser bedient.
Während der sogenannten Socialist Calculation Debate positionierte sich Hayek mit Ludwig von Mises gegen sozialistische Denker wie Otto Neurath und Oskar Lange. Die Debatte entspann sich um die Frage, ob in einem sozialistischen Wirtschaftssystem ohne eine Preisbildung auf Märkten effizient gewirtschaftet werden könne. Laut Hayek erliegen sowohl Sozialisten als auch Neoklassiker einem rationalistischen Fehlschluss, wenn sie annehmen, komplexe Gesellschaften seien plan- und berechenbar. In Wirtschaftstheorie und Wissen (1936) äußerte er erstmals die für sein gesamtes späteres Werk entscheidende Fragestellung: »Wie kann das Zusammenwirken von Bruchstücken von Wissen, das in den verschiedenen Menschen existiert, Resultate hervorbringen, die, wenn sie bewusst vollbracht werden sollten, auf Seiten des lenkenden Verstandes ein Wissen erfordern würden, das kein einzelner Mensch besitzen kann«?
Hier nimmt Hayeks spezielle Konzeption des Marktes ihre Form an. In Die Anwendung von Wissen in der Gesellschaft (1945) vollzieht er die Umdeutung des Marktmechanismus weg von dessen allokativer Effizienz, das heißt der optimalen Verteilung knapper Ressourcen, hin zu einer informalen Effizienz, also der bestmöglichen Koordination gesellschaftlichen Wissens. Der Markt als Entdeckungsverfahren bringe, vermittelt durch die Preissignale, ein Wissen hervor, das von keiner Einzelperson nachzuvollziehen ist.
Hayek ist ein Denker der spontanen Ordnung und Emergenz. Insofern konzipiert er eine Gesellschaftsform, bei der es nur im geringen Ausmaß auf das bewusste Wissen des einzelnen Menschen ankommt und die sich der politischen Verfügbarkeit entzieht. Folglich ist es ihm ein Anliegen, sich von der französischen Aufklärung abzugrenzen.
Er wendet sich gegen die intentionale, reflektierende Vernunft und den damit verbundene Emanzipationsgedanken, die er der kontinentalen Aufklärung, insbesondere den Enzyklopädisten wie Denis Diderot oder auch Jean-Jaques Rousseau zuschreibt. Stattdessen verortet er seinen Individualismus in der Tradition der schottischen Aufklärung, deren charakteristischer Zug für ihn in einer antirationalistischen Einstellung besteht, »die den Menschen nicht als ein höchst rationales und intelligentes, sondern als ein sehr irrationales und fehlbares Wesen betrachtet, dessen Irrtümer nur im Laufe eines sozialen Prozesses ausgeglichen werden«.
Hayeks Auffassung nach sind die Errungenschaften unserer Gesellschaft Ergebnis einer unbewussten kulturellen Evolution. Nichts findet er abwegiger und gefährlicher als die Vorstellung eines Gesellschaftsvertrages. Im von ihm beschriebenen Naturzustand, den er zeitlich und räumlich nicht konkretisiert, lebten die Menschen in Horden, kannten sich persönlich und verfolgten konkrete gemeinsame Ziele. Den Sozialisten wirft er vor, diese Mentalität nicht überwunden zu haben. Anders als Thomas Hobbes schreibt er diesem Urzustand nicht eine um sich greifende Brutalität, sondern einen primitiven sozialen, jedoch keinen freiheitlichen Umgang miteinander zu.
Die freie Gesellschaft entstand laut Hayek in einem Mutations- und Selektionsprozess von Verhaltensregeln, die bestimmten Gruppen einen Vorteil gegenüber anderen ermöglichten und als abstrakte, anonyme Regeln ins kulturelle Gedächtnis eingeschrieben wurden. Diese tradierten Verhaltensregeln, insbesondere der Respekt vor dem Privateigentum, ordnet laut Hayek das menschliche Miteinander und ermöglichten die Entwicklung einer komplexen menschlichen Gesellschaftsordnung, in der der Einzelne nicht mehr wissen muss, was die anderen tun, und nach seinem eigenen Interesse handeln kann. Direkter Zwang und Gewalt würden vermieden, indem sich ein freiwilliger Konformismus etabliert. Die Regeln müssten schlicht akzeptiert werden, da sich ihre Herkunft und Sinnhaftigkeit aufgrund ihrer unbewussten Einrichtung nicht zurückverfolgen ließen.
Die Freiheit des Individuums erwächst in seiner Denkart also aus einem gesellschaftlichen Irrationalismus, einer Demut der Menschen gegenüber den anonymen sozialen Prozessen, die er mit der Wirkung eines Magneten auf Eisenspäne beschreibt. Er plädiert nicht für Stillstand, doch der Fortschritt ist Teil eines graduellen, experimentellen Anpassungsprozesses und nicht vornehmlich das Ergebnis bewusster Gestaltung. So ist es kein Wunder, dass er insbesondere den englischen konservativen Gegenaufklärer Edmund Burke als einen der »größten Repräsentanten des echten Individualismus« hofiert.
Burke hatte die Französische Revolution von Beginn an scharf verurteilt, da er den Staat als organisch gewachsenes Gebilde und den Menschen als durch Tradition, Religion und Mythen bestimmt ansah. Auch Hayek erachtet vor allem die Religion als Grund dafür, dass die Zivilisation erhalten blieb, da die Menschen sich aus Glauben an Gott an die Regeln der Moral hielten und bei Fehlverhalten sanktioniert wurden. Beide Denker verbinden einen Wirtschaftsliberalismus mit einer organisch-konservativen Gesellschaftskonzeption.
Hayek als Neo-Liberaler weist zugleich dem Rechtsstaat mit der Aufrechterhaltung der Marktordnung eine durchaus wichtige Rolle zu. Er depolitisiert ihn allerdings fast vollständig. Sein »Recht der Freiheit« als abstraktes, allgemeines Recht ist insofern nicht politischer Natur, als dass es eine Kodifizierung der tradierten Verhaltensweisen darstellt und den politischen Willen in seine Schranken weist. Er beruft sich hier insbesondere auf die gewohnheitsrechtliche Tradition des englischen Common Law.
Das Grundübel sieht Hayek in einem Individualismus, der das bewusste Wissen und die Gestaltungskraft der Menschen überschätzt. Da der Wunsch nach einer intentional gestalteten Ordnung nur enttäuscht werden könne, gleite eine geplante Ordnung in die Dysfunktionalität ab und erfordere mehr und mehr die Beherrschung allen sozialen Geschehens. Dieser falsche Individualismus bereite den Weg zum Totalitarismus. Das Dritten Reich sei demnach im Hang der Deutschen begründet, auf »originelle Persönlichkeiten« zu bestehen:
»Dieser Kult einer besonderen und eigenartigen Individualität hat seine tiefen Wurzeln in der deutschen intellektuellen Tradition und hat sich durch den Einfluss einiger ihrer größten Vertreter, besonders Goethe und Wilhelm von Humboldt, weit über die Grenzen Deutschlands fühlbar gemacht […]. Diese Art des Individualismus hat nicht nur nichts mit dem echten Individualismus zu tun, sondern kann sich sogar als ein schweres Hindernis für das reibungslose Funktionieren eines individualistischen Systems erweisen. Es muss eine offene Frage bleiben, ob eine freie oder individualistische Gesellschaft erfolgreich wirken kann, wenn die Leute zu „individualistisch“ im falschen Sinne sind, wenn sie sich zu sehr sträuben, freiwillig mit Traditionen und Konventionen mitzugehen […]. Dass die Deutschen schließlich in ihrer verzweifelten Suche nach einer Tradition, die sie nicht besaßen […] bei der Errichtung eines totalitären Staates endeten, der ihnen aufzwang, was ihnen mangelte, sollte uns vielleicht nicht so sehr überrascht haben.«
Es kann offenkundig keine Rede davon sein, dass Hayek die Gesellschaft ausklammert. Maggie Thatcher mag ihr Hirngespinst »There is no thing as society« sonst woher haben, jedenfalls nicht von Hayek, so oft sie auch »this is what we believe« ausrufen mag. Er selbst hatte für diesen Vulgärliberalismus nur Spott übrig.
Kritikwürdig an Hayek ist also keinesfalls, dass er die Gesellschaft nicht mitdenken würde, sondern im Gegenteil, dass er den Individuen kein Entkommen aus ihr zubilligt, da er sie ihrer Reflektionsfähigkeit entledigt. Insofern ist Thatchers Ausruf symptomatisch für ein Individuum, das Hayek durch seine Lehre erschafft. Angesichts eines geteilten, jedoch unbewussten Sinnzusammenhangs, das heißt einer nicht-reflektierten Vergesellschaftung, können sich die Einzelnen paradoxerweise umso stärker als Individuen empfinden, je mehr sie bloße Personifikationen der gesellschaftlichen Verhältnisse sind.
Die Beschäftigung mit Hayeks verkümmertem Verständnis von individueller Freiheit sollte uns mithin nicht in der Auffassung bestärken, dass der Individualismus zu überwinden sei. Konträr dazu erweist sich die Befähigung zur Individualität umso deutlicher als das eigentliche Anliegen eines linken Projekts. Der politische Kampf für wirtschaftliche Verhältnisse, die Sicherheit, Teilhabe und Entwicklung ermöglichen, ist auch ein Kampf für die kritische Urteilsfähigkeit des Menschen.
Sophie-Marie Aß ist Politökonomin und arbeitet als Referentin für Klima-und Energiepolitik im Bundestag.