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Das Online-Magazin von JACOBIN Deutschland

28. August 2025

Wenn nur eine Seite spricht

Wer kommt bei der Nahost-Berichterstattung zu Wort? Eine exklusive Auswertung von 5.000 Schlagzeilen deutscher Leitmedien zeigt: Israels Militär und Regierung dominieren. Unabhängige Quellen werden kaum genutzt.

Menschen versammeln sich zu einer Kundgebung in Gaza in Gedenken an fünf Journalisten, die bei dem israelischen Angriff auf das Nasser-Krankenhaus getötet wurden, 26. August 2025.

Menschen versammeln sich zu einer Kundgebung in Gaza in Gedenken an fünf Journalisten, die bei dem israelischen Angriff auf das Nasser-Krankenhaus getötet wurden, 26. August 2025.

IMAGO / Anadolu Agency

Deutsche Leitmedien verlassen sich bei ihrer Berichterstattung über den Nahen Osten vor allem auf offizielle Angaben Israels. Sämtliche palästinensischen und libanesischen Quellen sowie alle zum Nahen Osten aktiven internationalen Organisationen und NGOs zusammen schaffen es nicht einmal halb so oft in die Schlagzeilen deutscher Nachrichten wie Israels Regierung und Armee allein.

Das ist ein Ergebnis der folgenden Auswertung von 4.853 Nachrichtenbeiträgen in deutschen Leitmedien zwischen dem 7. Oktober 2023 und dem 19. Januar 2025, dem Tag der längst wieder gebrochenen Waffenruhe. Welche Quellen verwenden Nachrichtenredaktionen, wenn sie über den Krieg berichten? Wessen Angaben haben die größte Chance, es in die Schlagzeilen deutscher Medien zu schaffen? Wie einseitig ist die deutsche Nahost-Berichterstattung? Das sind die Fragen, die diese Untersuchung versucht anhand folgender Medien zu beantworten: die Tagesschau als größtes deutsches Nachrichtenformat, die Bild als größte Tageszeitung, die Zeit als größte Wochenzeitung und der Spiegel als größtes Nachrichtenmagazin.

Die Nahost-Schlagzeilen dieser Medien wurden ihren jeweiligen Quellen zugeordnet. So bezog sich etwa die Headline »Hamas-Tunnel unter UNRWA-Gebäude gefunden« auf Angaben der israelischen Armee. »Mindestens 50 Tote bei israelischem Angriff auf Flüchtlingslager« zog als Quelle das Palästinensische Gesundheitsministerium heran, während die Meldung »Gesundheitssystem in Gaza laut Uno ›am Rande des Zusammenbruchs‹«, wie der Titel vermuten lässt, auf Angaben der Vereinten Nationen zurückging. Nach diesem Muster wurden die insgesamt 4.853 Schlagzeilen ausgewertet.

Warum Nachrichten? Weil sie die Kernaufgabe von Journalismus sind und vergleichsweise objektiven Regeln folgen: keine Meinungen oder szenischen Beschreibungen, stattdessen nachprüfbare Angaben und Fakten. Die Ergebnisse der Untersuchung gelten deshalb explizit nur für die Nachrichtenberichterstattung der Redaktionen, also nicht für Beiträge wie Reportagen und Interviews. Ausnahme ist die Bild, deren Berichterstattung sich keinen journalistischen Genres fügt, weshalb alle ihre Beiträge in diese Analyse einflossen.

Auf jede Überschrift aus einer palästinensischen Quelle kommen neun aus Israel

Die Ergebnisse wurden zunächst nach regionaler Herkunft ausgewertet: Israel oder Palästina? Das Ergebnis fällt eindeutig aus: Von den 4.853 untersuchten Schlagzeilen ließen sich 2.100 (43,3 Prozent) auf israelische Quellen, aber lediglich 244 Überschriften (5,0 Prozent) auf palästinensische Angaben zurückführen.

Auf jede Überschrift, die sich auf palästinensische Quellen bezieht, kamen bei Spiegel und Zeit sieben, bei der Tagesschau acht aus israelischen Quellen. Bei Bild lag das Verhältnis sogar bei eins zu achtzehn. Israelische Angaben schafften es damit allein in der ersten Woche der Berichterstattung häufiger in die Schlagzeilen deutscher Leitmedien als palästinensische im ersten halben Jahr.

Bei Informationen aus anderen Ländern der Region sieht es nicht besser aus. Sämtliche libanesischen, iranischen, jemenitischen und syrischen Quellen zusammen brachten es in den sechzehn Monaten der Untersuchung auf 293 Überschriften (6,0 Prozent), wie zum Beispiel diese über den Zusammenbruch der libanesischen Stromversorgung infolge israelischer Angriffe: »Libanon schaltet das letzte Kraftwerk aus«.

Zum Vergleich: Ähnlich viele Überschriften widmeten Spiegel, Zeit, Tagesschau und Bild israelischen Angaben in den ersten drei Wochen der Berichterstattung.

Vergleichsweise häufig schafften es indes Angaben von Israels engstem Verbündeten in die Schlagzeilen. Informationen aus US-amerikanischen Quellen machten 580 Überschriften aus (12,0 Prozent) – das sind ähnlich viele Schlagzeilen wie alle Angaben aus sämtlichen 57 mehrheitlich arabischen und muslimischen Staaten zusammen (593 Überschriften). Besonders groß ist die Affinität zur US-amerikanischen Sicht auf die Welt in der Berichterstattung des Spiegel. Etwa jede sechste Überschrift zum Nachrichtengeschehen in Nahost beruht dort auf Angaben aus den USA (17,1 Prozent).

Der alleinige Fokus auf das Ursprungsland einer Information lässt natürlich nur begrenzte Rückschlüsse auf die journalistische Praxis in Nachrichtenredaktionen zu. Redaktionen wählen ihre Quellen nicht nach Nationalität aus, sondern nach journalistischen Kriterien wie Relevanz, Aktualität, Verfügbarkeit und Glaubwürdigkeit. Angesichts dessen, dass sich das Nachrichtengeschehen seit dem 7. Oktober 2023 zum Großteil im Gazastreifen abspielt, wäre demnach eine große Zahl palästinensischer Quellen wie Augenzeuginnen, Rettungskräfte und Reporter sowie Vertreter von internationalen Organisationen und NGOs zu erwarten. Soweit zumindest die Theorie.

Staatliche Quellen werden bevorzugt

In der Praxis springt neben der Neigung zu israelischen Quellen zunächst eine weitere Vorliebe ins Auge: die zu staatlichen Angaben. 3.517 von insgesamt 4.853 untersuchten Überschriften (72,5 Prozent) gehen auf Aussagen von Regierungen, Geheimdiensten und Militärs zurück. Um Vergleichbarkeit zu schaffen, zählen für diese Analyse auch staatsähnliche Akteure wie die Hamas, Palästinensische Autonomiebehörde, Hisbollah und Huthis zu dieser Kategorie. Am größten ist die Affinität zu staatlichen Angaben bei der Zeit (79,1 Prozent), am geringsten bei Bild (59,5 Prozent). Bei letzterer liegt das vor allem am hohen Anteil an Boulevard-Geschichten a lá »Hamas wollte Kopf von getöteten Soldaten verkaufen«, die die Redaktion oft aus israelischen Medien übernimmt.

Dieser hohe Anteil staatlicher Informationen wäre in jeder Form von Journalismus ein Problem. Besonders gravierend wirkt sich die fehlende Distanz zu offiziellen Angaben aber in der Kriegs- und Krisenberichterstattung aus, schließlich gehören Propaganda und Desinformation zum Arsenal einer jeden Kriegspartei. Medien sind deshalb angehalten, mit solchen Informationen besonders vorsichtig und zurückhaltend umzugehen.

Vor allem, wenn es um staatliche Angaben Israels geht, ist in deutschen Leitmedien das Gegenteil der Fall: Israels Militär und Regierung sind mit großem Abstand die wichtigste Quelle in der deutschen Nahost-Berichterstattung. In jedem der untersuchten Medien geht mindestens jede dritte Überschrift (im Durchschnitt 35,5 Prozent) auf Äußerungen und Informationen offizieller israelischer Quellen zurück. Demgegenüber basieren nur 194 Überschriften (4,0 Prozent) auf offiziellen palästinensischen Angaben – und das, obwohl die Glaubwürdigkeit dieser Angaben zu Opferzahlen, anders als jene der israelischen Armee, mehrfach durch die Vereinten Nationen, NGOs sowie wissenschaftliche Untersuchungen bestätigt wurde.

Palästinensische Angaben oft nur dann, wenn sie sich nicht gegen Israel richten

Schaut man sich an, wann genau es palästinensische Angaben in Überschriften schaffen, fällt der Bias sogar noch größer aus. Offizielle palästinensische Quellen sind für deutsche Nachrichtenredaktionen meist nur dann relevant, wenn sie den Tod von Hamas-Mitgliedern (»Hamas-Anführer Hanija in Teheran getötet!«), palästinensische Gewalttaten gegen Israel (»Hamas bekennt sich zu Angriff in Jerusalem«), den Fortgang von Waffenruhe-Verhandlungen (»Hamas lehnt kurze Feuerpause ab«) oder innerpalästinensische Konflikte thematisieren (»Abbas distanziert sich von Hamas-Taten«).

Von den 84 Fällen, in denen es offizielle palästinensische Angaben in eine Überschrift des Spiegel schafften, lieferten nur 37 Überschriften Informationen über israelische Gewalttaten und/oder deren Folgen für die palästinensische Zivilbevölkerung (2,1 Prozent der Überschriften insgesamt). Bei der Zeit fielen 14 von 42 Überschriften in diese Kategorie (1,7 Prozent), auf Tagesschau.de waren es 19 von 52 Überschriften (1,5 Prozent), bei Bild keine einzige.

Auch andere Quellen für palästinensische Opferzahlen wie palästinensische Ärztinnen und Ärzte, Krankenhäuser und Rettungskräfte finden kaum Berücksichtigung. In sechzehn Monaten Berichterstattung von Tagesschau, Spiegel, Zeit und Bild schafften sie es gerade einmal in zehn von 4853 Schlagzeilen (0,2 Prozent).

Wenig Interesse für UN, WHO, UNICEF und Co.

Durch Israels Abriegelung des Gazastreifens haben ausländische Reporter keine Chance, Informationen selbst zu überprüfen. Zu erwarten wäre, dass Medien deshalb die existierenden unabhängigen Quellen besonders intensiv nutzen. Das ist aber nicht der Fall.

Die Vereinten Nationen und ihre zahlreichen Unterorganisationen wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO), das Welternährungsprogramm (WFP), das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) und das Kinderhilfswerk UNICEF stellen mit ihren tausenden Mitarbeiterinnen, Experten und Repräsentantinnen täglich eine große Menge leicht zugänglicher Statements und glaubwürdiger Informationen bereit. In die Schlagzeilen deutscher Medien schaffen sie es damit vergleichsweise selten.

389 von 4.853 untersuchten Überschriften (8,0 Prozent) gingen auf internationale Organisationen zurück. Am größten ist deren Chance, es in eine Schlagzeile zu schaffen, in der Tagesschau (10,6 Prozent), am geringsten bei der Bild (2,6 Prozent). Für alle Medien gilt: Auch Informationen von internationalen Organisationen schaffen es deutlich seltener in die Überschriften als offizielle Angaben Israels. Auf jede Schlagzeile auf Basis von UN und Co. kommen bei Spiegel, Zeit und Tagesschau drei bis vier und bei der Bild vierzehn auf Grundlage offizieller israelischer Quellen.

Ein großer Teil dieser Überschriften entfällt zudem auf Ereignisse, in denen internationale Organisationen nicht nur Quelle, sondern selbst Akteur oder Betroffene des Nachrichtengeschehens waren – etwa wenn Hilfslieferungen von israelischen Soldaten aufgehalten wurden, UNRWA-Vertreter sich gegen »Terrorismus«-Anschuldigungen verteidigen (»Chef des Palästinenser-Hilfswerks wehrt sich gegen Kritik aus Israel«) oder ein Sprecher der UN-Friedensmission UNIFIL im Libanon zum jüngsten israelischen Beschuss Stellung nimmt (»UNIFIL meldet zerstörten Beobachtungsturm«).

Nahezu nicht existent ist das Interesse deutscher Nachrichtenredaktionen an Informationen der dutzenden internationalen NGOs, die im Gazastreifen aktiv sind. Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen, Save the Children, Oxfam oder die deutsche Hilfsorganisation Cadus produzieren jeden Tag wertvolle und umfassende Informationen. Hinzu kommen die zahlreichen Berichte und regelmäßigen Statements von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International, Human Rights Watch oder B’Tselem. In sechzehn Monaten Berichterstattung schafften es ihre Informationen in lediglich 55 von 4.853 Schlagzeilen (1,1 Prozent) – so oft wie die Angaben von Israels Armee und Regierung in den ersten dreieinhalb Tagen.

Reporter vor Ort und arabische Medien werden fast völlig ignoriert

Medienberichte sind eine weitere Quelle im täglichen Nachrichtengeschäft. Das gilt auch für die deutsche Nahostberichterstattung. Insgesamt schafften es Informationen aus anderen Medien 425-mal (8,8 Prozent) in die Überschriften von Bild, Tagesschau, Zeit und Spiegel (Politiker-Statements ausgenommen). Dabei reichen die Werte von 5,8 Prozent bei der Tagesschau bis 15,3 Prozent bei Bild. Was alle Medien gemein haben, ist auch hier eine große Vorliebe zu israelischen Presseberichten.

192 Überschriften (4,0 Prozent insgesamt) gingen auf Angaben aus israelischen Medien wie den TV-Sendern Channel 12 und Channel 14 oder israelischen Tageszeitungen wie Yedioth Aharonoth, Jerusalem Post und Haaretz zurück. Angaben aus palästinensischen Medien hingegen fanden sich gerade einmal in sechs (0,1 Prozent) Überschriften wieder. Rechnet man noch die fünfzehn Fälle hinzu, in denen es Medienangaben aus dem Libanon und 22 aus Medien aller anderen mehrheitlich arabischen Ländern in Überschriften schafften, kommt man auf 43 Überschriften, die auf arabischen Medienberichten basieren (0,9 Prozent). Aus journalistischer Sicht verwundert auch dieses Ergebnis, da Medien wie die palästinensische Nachrichtenagentur Wafa oder der TV-Sender Al-Jazeera regelmäßig sehr schnell und umfassend berichten und über ein unvergleichliches Netz an Korrespondenten und Kontakten in der Region verfügen.

Das Desinteresse gegenüber den Informationen, die palästinensische und libanesische Reporter sowie die gesamte arabische Medienlandschaft täglich bereitstellen, ist vielleicht das deutlichste Zeichen dafür, dass deutsche Nachrichtenredaktionen nicht gewillt sind, ihrem Publikum ein präzises Bild der Ereignisse im Nahen Osten zu vermitteln. Während Spiegel, Zeit, Tagesschau und Bild den Darstellungen von Israels Armee und Regierung regelmäßig den wichtigsten Platz ihrer Berichterstattung überlassen, bleiben Informationen, die der offiziellen israelischen Darstellung widersprechen, selbst dann ungenutzt, wenn sie durch unabhängige Quellen wie NGOs, UN, Reporter und Augenzeugen bestätigt wurden.

Tagesschau und Bild ignorierten unsere Anfrage

Wie erklären Spiegel, Zeit, Tagesschau und Bild dieses Missverhältnis? Welche Probleme sehen sie selbst in ihrer Berichterstattung? Wie bewerten sie die Glaubwürdigkeit einzelner Akteure wie die der israelischen Armee, des palästinensischen Gesundheitsministeriums oder der Vereinten Nationen und was bedeutet das für ihre Berichterstattung? Konkrete Antworten auf all diese und weitere Fragen gab es von keiner Redaktion. Während Bild und Tagesschau gar nicht antworteten, meldeten sich bei Zeit und Spiegel immerhin die Presse-Abteilungen.

»Mit größtmöglicher Sorgfalt und Quellenvielfalt informieren wir unser Publikum über die Ereignisse«, versicherte eine Verlagssprecherin der Zeit auf Anfrage. Neben Agenturen und internationalen wie regionalen Medien nutze man »die offiziellen Kanäle aller relevanten Akteure in der Region, weitere Primär- und Sekundärquellen sowie hauseigene Fachexpertise«, erklärte der Verlagssprecher des Spiegel. Während die Zeit die Bitte nach einer Stellungnahme zu den Ergebnissen dieser Untersuchung ignorierte, wies der Spiegel die Ergebnisse allgemein als »unzutreffend« zurück.

In Bezug auf die Frage nach den Herausforderungen in ihrer alltäglichen Berichterstattung wiesen Spiegel und Zeit darauf hin, dass die israelische Armee internationalen Medien den Zugang zum Gazastreifen verwehre. »Dies erschwert unabhängige Verifikation erheblich«, schreibt der Spiegel. Das stimmt sicherlich. Aber wie diese Analyse der journalistischen Praxis von Spiegel, Zeit, Tagesschau und Bild zeigt, sind geschlossene Grenzen längst nicht das einzige Problem deutscher Medien. Neben den Entscheidungen der israelischen Armee sind es auch die Entscheidungen in deutschen Nachrichtenredaktionen, unter denen die Berichterstattung über den Nahen Osten leidet.

Eine genaue Erklärung der Methodik findet Ihr hier.

Fabian Goldmann arbeitet als Islamwissenschaftler und Journalist zu stereotyper und diskriminierender Berichterstattung über Migration, Islam und Nahost. Außerdem betreibt er den Blog »Schantall und die Scharia«. Im Dezember 2025 erscheint sein Buch »Staats(räson)funk. Deutsche Medien und der Genozid in Gaza«.