24. November 2020
Radikale Umweltpolitik kann nur erfolgreich sein, wenn sie die moralischen Überzeugungen der Arbeitenden aufgreift. Ein Gespräch mit dem Autor und Umweltrechtler Jedediah Britton-Purdy.
Die Abgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez und Ed Markey bei der Präsentation des Gesetzesentwurfs für einen Green New Deal im Februar 2019. (Wikimedia Commons)
Die Forderung nach einem Programm zur Schaffung grüner Arbeitsplätze, der Green New Deal, ist auch in den USA äußerst populär. Doch ihr gegenüber steht die mächtige Lobby der Fossilenergie-Konzerne, die alles daran setzt, die Sorgen arbeitender Menschen gegen den Schutz der gemeinsamen Umwelt auszuspielen. Rechten Politikern wie dem scheidenden Präsidenten erlaubt diese Spaltung, die Interessen seiner fossilen Geldgeber zu verteidigen und sich zugleich als Held der kleinen Leute darzustellen. »Trump digs coal« lautete ein Slogan, Trump steht auf Kohle.
In seinem Buch Die Welt und wir. Politik im Anthropozän, das im Oktober bei Suhrkamp erschien, zeichnet der Juraprofessor und JACOBIN-Autor Jedediah Britton-Purdy nach, wie wir dieser Falle entgehen. Es geht ihm darum zu verstehen, welche Interessen, welche Werte und welche kulturellen Spaltungen im ökologischen Konflikt zum Tragen kommen. Und wie wir ein anschlussfähiges politisches Programm formulieren, mit dem sich die Prioritäten unserer Volkswirtschaften so ändern lassen, dass Nachhaltigkeit den Wohlstand der einfachen Leute mehrt.
Im Gespräch mit Linus Westheuser erklärt Britton-Purdy, warum der »moralische Kern des Sozialismus« für dieses Anliegen so wichtig ist, warum dieser Kern sowohl mit radikalen als auch mit konservativen Lebensstilen kompatibel ist; und wie wir die aktive Unterstützung von Menschen in Gegenden gewinnen können, die seit langem auf klimaschädliche Industrien angewiesen sind.
Die Märkte sind weder willens noch in der Lage uns vor der Klimakatastrophe zu bewahren, schreibst Du. Nur die Politik könne einen Ausweg weisen. Welche Art von Politik müsste das sein?
Ich denke, es müsste eine Politik sein, die sich von der Marktideologie löst. Also von der Vorstellung es gäbe eine alternativlose Form der politischen Ökonomie. Zum anderen müssen wir aber auch einen liberalen Legalismus überwinden, der davon ausgeht, dass Politik durch strenge institutionelle Zwänge eingehegt werden muss. Beides trägt dazu bei, Politik handlungsunfähig zu machen. Wir wissen aber, dass der politische Akt einer kollektiven Neugestaltung unserer grundlegenden Lebensumstände der einzige ist, der die gegenwärtigen Bedrohungen aufhalten kann.
Geschieht das nicht, können wir mit einer Vielzahl unzureichender Teilantworten auf die Klimakrise rechnen: ungleich verteilte technologische Innovation, die einige von uns zeitweise über Wasser hält, plus kulturelle Formen des Wegduckens und der Anpassung. Das ist die andere Weise, mit Krisen umzugehen. Schaffen wir es nicht, kollektive Handlungsfähigkeit zu erringen, werden die Menschen je für sich versuchen, mit der Katastrophe zu leben. Sie werden sie als Bedingung ihres Lebens verinnerlichen und individuelle Überlebensstrategien entwickeln, anstatt sie abzuwenden.
Woher kommt also die richtige Politik? In Deinem Buch scheint es, als entstünde sie im Kern aus einer Anerkennung unserer wechselseitigen Abhängigkeit. Ist dieses Interdependenzbewusstsein etwas, das schon im Alltagsleben aller Menschen angelegt ist und bloß von gesellschaftlichen Institutionen »abgeteilt« wird?
Ich würde nicht behaupten, dass das Bewusstsein der Interdependenz im Leben der Menschen schon in einer ethisch klar durchdachten Weise vorliegt, die dann hinterher künstlich abgeschaltet wird. Aber ich denke, dass dieses Bewusstsein als Möglichkeit immer vorhanden ist. Sich auch nur minimal seiner selbst bewusst zu werden, bedeutet in meinen Augen, dass man sich unserer tiefgreifenden Interdependenz auf allen Ebenen bewusst wird. Wir sind stets von anderen abhängig und andere von uns.
Die Ironie der Infrastruktur in der reichen Welt des 20. und 21. Jahrhunderts ist, dass sie einerseits das Phantasma einer immer weiter ausgedehnten Unabhängigkeit der Einzelnen befördert, während sie gleichzeitig die Realität einer immer tieferen Abhängigkeit aller von allen anderen schafft. Unsere Vorstellungen von Autonomie und Autarkie stehen einer Realität gegenüber, in der wir funktional zunehmend zu bloßen Anhängseln der Systeme werden, in die wir eingestöpselt sind.
Es gibt also gewisse proto-politische oder ethische Keimformen dieses Bewusstseins der Interdependenz. Aber wenn dieses Bewusstsein zum Ausdruck kommt, kann das durchaus auch bedeuten, dass man Mauern bauen will, gerade weil man sich der eigenen Einbindung in die Welt bewusst wird und sich gegen sie schützen will. Ich glaube, das ist ein Teil der territorialen Imagination, die derzeit im rechten Nationalismus zum Ausdruck kommt. Wenn die Welt auf einen einstürmt, will man sie auf Abstand halten, man will sie verscheuchen. Das Ergebnis ist eine verzweifelte Form der Selbstbehauptung und des Festkrallens am Eigenen, keine selbstsichere, in sich gegründete Bewältigung.
Auf der anderen Seite stehen starke Impulse der Solidarität, die in Slogans wie dem der Sanders-Kampagne zum Ausdruck kommt: »Kämpfe für jemanden, den Du nicht kennst«. Die Tatsache, dass dieser Slogan die Menschen so packte – dass er nach einer wahren Beschreibung dessen klang, was wir da taten – war der Beweis dafür, dass sich eine machtvolle Politik aus der gemeinsamen Betroffenheit, aus der Interdependenz formulieren lässt.
In einem kürzlich erschienenen Artikel hast Du diesem Slogan einen sehr wichtigen Aspekt hinzugefügt. Du schriebst, es gehe nicht nur darum, für jemanden zu kämpfen, den Du nicht kennst, sondern auch für jemanden, den Du vielleicht sehr wohl kennst und aus tiefstem Herzen ablehnst ...
... oder von dem Du ziemlich sicher bist, dass er Dich nicht mag! (lacht) Ich glaube, das ist der wirklich schwierige Teil: Wir hegen teilweise eine schreckliche Abneigung gegeneinander, weil wir alles über die Ressentiments und Ängste des anderen wissen. Weil diese Ressentiments ständig thematisiert und öffentlich zur Schau gestellt werden.
Es ist schwer, dazu die richtigen Worte zu finden. Man darf nicht einfach zum weichgespülten Kommunitaristen werden. Politik braucht Gegnerinnen und Gegner. Ich glaube, das ist eine wesentliche Erkenntnis, die das jüngste Revival der Linken hervorgebracht hat. Aber es gibt definitiv auch pathologische Auswüchse dieser Tendenz. Eine Politik, die von Ablehnung, Ekel und Angst gegenüber Menschen durchdrungen ist, mit denen man letzten Endes zusammenleben muss, untergräbt ihre eigene Fähigkeit, kollektive Veränderungen herbeizuführen. Die Republikanische Partei in den USA hat das in den letzten Jahrzehnten sehr tatkräftig betrieben. Ihre Strategie war die Kultivierung von existenzieller Angst, Abscheu und Delegitimierung im Dienste ihrer eigenen minoritären Kontrolle von Schlüsselinstitutionen.
Du meinst das Anstacheln von »Kulturkämpfen« oder Schlachten um Identitäten, die für die Menschen im Alltag vielleicht gar nicht so relevant sind, bis man ihnen einredet, dass sie es sind?
Ja. Bloß glaube ich, dass der Trumpismus dazu geführt hat, essenzialisierte Versionen von Identitäten zu einem gewissen Grad Wirklichkeit werden zu lassen. Er hat eine reaktionäre Identität des weißen Nationalismus befördert, die es zwar auch vorher schon gab, aber weniger klar umrissen, weniger ausgereift und verbreitet. Sie hat viele Leute früher zum Beispiel nicht davon abgehalten, Obama zu wählen. Doch jetzt hielt sie sie sehr wohl davon ab, für Biden zu stimmen. Diese zunehmende Intensität und Konturiertheit der Abgrenzung ist ganz wesentlich Trumps Verdienst.
Zugleich gibt es bei der liberalen Mitte eine ganz eigene Form der Essenzialisierung, die holzschnittartige Identitätskategorien bemüht, statt sich die Mühe einer materiellen Analyse zu machen. So hat man etwa grob vereinfachend angenommen, Latinas und Latinos würden als Nicht-Weiße automatisch für Biden stimmen, was sich nun als falsch herausgestellt hat. Man darf eine liberale Interpretation von demografischen Eckdaten nicht mit politischem Schicksal verwechseln. Und wenn man kein robustes Programm anbietet, das auf die materiellen Realitäten der Menschen antwortet, wird man ein böses Erwachen erleben. Man braucht eine materialistische Analyse wie die von Sanders. Er hat nicht ohne Grund bei den Vorwahlen im gesamten amerikanischen Westen erdrutschartige Siege unter den Latinos und Latinas errungen.
Familienausflug in den Appalachen, Kentucky. Foto: Imago / ZUMA Wire
In Deinem Buch gehst du den moralischen Grundüberzeugungen jener Menschen nach, die auf unserer Seite sein sollten, es aber nicht sind. Etwa den Arbeiterinnen und Arbeitern im Bergbaugebiet der Appalachen. Es geht Dir darum, was diese Leute bewegt, wie sie mit ihrer Arbeit und mit dem Land verbunden sind. Kannst Du sagen, weshalb Dir diese Perspektive wichtig ist und wie die sozialistische Vision in sie hinein passt? Was ist der moralische Kern des Sozialismus?
Aus meiner Sicht ist der moralische Kern des Sozialismus ganz simpel, und zugleich der Anfang für vieles mehr. Es geht darum, das Gedeihen und die materielle Absicherung des einfachen, ganz gewöhnlichen Lebens in den Mittelpunkt der politischen Ökonomie zu stellen. Ein Leben, das die Menschen an ihrem Wohnort verbringen, mit den Menschen, die sie lieben, bei der Arbeit, die sie tun. Es geht darum, ihr Leben, ihre Arbeit und ihre Freizeit aus der erbarmungslosen Matrix der Marktkräfte zu befreien und es ihnen zu ermöglichen, sie nach anderen Maßstäbe auszurichten. Wir müssen Wege finden, unser Leben und unsere Tätigkeiten an sich als wertvoll zu behandeln – und auch uns selbst gegenseitig als wertvoll anzuerkennen.
Ich denke, ein wichtiger Ausgangspunkt ist die ethische Erkenntnis, dass wir von Marktformen tyrannisiert werden, dass sie uns gegenseitig zu Feinden oder bloßen Profitmöglichkeiten machen, dass wir beigebracht bekommen, einander zu instrumentalisieren und zu fürchten, und dass dies unsere Lebensweise zutiefst verzerrt. Der Sozialismus besteht darauf, die Logik wirtschaftlicher Werte aus den Händen der Märkte zu nehmen und sie in die Hände anderer Formen der Entscheidungsfindung zu legen. Diese Formen können sich nicht in technokratischer Verwaltung erschöpfen, sie müssen politisch sein und kulturelle und moralische Visionen kanalisieren.
Das ist zutiefst radikal, da es darum geht, einen Rahmen zu schaffen, in dem viele Arten des Lebens gedeihen könnten. Alle Ideen, die sich auf radikal plurale, queere Lebensformen der Vielfalt und Gemeinschaft, der Aktivität und Liebe berufen – das ist alles genau richtig, all diese Möglichkeiten sollen eröffnet werden. Aber zugleich verweist dieselbe Vision auch auf eine Erfahrungswelt, die oft als konservativ stilisiert und politisiert wird, nämlich die mehr oder weniger konventionelle Bindung vieler Menschen an ihre Familie und ihnen vertraute Formen der Arbeit.
Die marktfremden oder marktfeindlichen Werte, von denen wir hier sprechen, nehmen ganz unterschiedliche Formen an. Einige sind radikal kodiert, und einige sind traditionell oder sogar konservativ kodiert. Aber sie alle sind potenziell Teil dessen, was jemand wie E.P. Thompson als das moralische Leben einer politischen Ökonomie bezeichnen würde. Ich denke, es gibt keinen Grund, weshalb das Traditionelle und das Radikale in diesen Formen prinzipiell im Widerspruch oder in einer Nullsummenbeziehung zueinander stehen sollten.
In unseren kleinen Institutionen, unter Menschen, die wir kennen und mögen und für die es nicht schwer ist zu kämpfen, versuchen wir heute schon, Versionen dieser moralischen Ökonomien zu schaffen. Es ist gut, dass sich die Mitarbeiterinnen von kleinen Magazinen oder Nachwuchswissenschaftler gewerkschaftlich organisieren. Hier in North Carolina, wo wir seit langem leben, gibt es extrem inspirierende Anläufe zur Organisierung von gegenseitiger Hilfe und Selbstverteidigung. Aber all diese Bestrebungen sind so abgetrennt von der anderen Version der moralischen Ökonomie, über die wir gerade sprachen. Es war eine der übelsten Errungenschaften der Trump-Ära, diese Kluft politisch noch weiter zu vertiefen, es den Menschen noch schwerer zu machen, einander im Kontext ihrer jeweiligen moralischen Ökonomie zu sehen.
Dein Buch erkundet die vielen Bedeutungen der Metapher des »Landes«: Land ist Natur und Umwelt, Land ist Privateigentum, Land ist Zugehörigkeit und Land ist etwas, das allen gehört, wie in dem Lied des sozialistischen Sängers Woody Guthrie, »This Land Is Our Land«, das dem Buch seinen Originaltitel gab. Ganz im Sinne Guthries formulierst Du eine Vorstellung des Landes als Grundlage für ein neues Gemeinwesen, ein »Commonwealth«. Kannst Du das erläutern?
Die Idee eines neuen Commonwealth, oder Gemeinwesens, kommt dem sehr nah, was wir den moralischen Kern des Sozialismus genannt haben. Es geht darum, die Tatsache der Interdependenz in eine Ethik der Gegenseitigkeit zu verwandeln. Es geht darum, anzuerkennen, dass die Tatsache, dass wir in gegenseitige Abhängigkeit zueinander geworfen sind, ganz real das Potenzial schafft, das wir einander zum Feind werden, dass wir einander zum Problem gemacht zu werden. In gewisser Weise sind wir notgedrungen immer schon ein Problem für einander, weil wir gemeinsam in einer endlichen Welt leben. Methodologisch hat die Ökonomie nicht Unrecht, wenn sie die Trade-offs beobachtet, die sich daraus ergeben. Aber unsere einzigartige Macht liegt in der politischen Möglichkeit, die Bedingungen unserer gegenseitigen Abhängigkeit selbst festzulegen, also die materiellen Bedingungen, die diese Abhängigkeit strukturieren, selbst zu gestalten.
Die Idee des Commonwealth formuliert eine eher ethische als programmatische Zielsetzung: dass wir darauf hinarbeiten sollten, Umstände zu schaffen, unter denen Gegenseitigkeit eine materielle Realität werden kann, anstatt bloß ein frommer Wunsch zu bleiben. In der derzeitigen US-Politik kommt ein starker Green New Deal dieser Idee am nächsten. Er sagt ganz klar, dass natürliche und soziale Welt, Fürsorge und Gerechtigkeit untrennbar sind. Ich glaube, diese Welten waren nie trennbar, aber jetzt sind sie das weniger denn je.
Die Idee, dass wir über die Bewahrung und Gesundheit der nichtmenschlichen wie auch der menschlichen Welt sprechen müssen; über die Arbeit, die Menschen leisten und über die Art und Weise, wie Natur und Infrastruktur Menschen verletzlich machen oder schützen – das ist eine außergewöhnliche praktische Synthese der Dinge, über die wir jetzt nachdenken müssen. Die elektrisierende Wirkung des Green New Deal ist eine der hoffnungsvollsten Tatsachen unserer Zeit. Wenn man jemandem ganz einfach die Idee eines neuen Gemeinwesens erklären wollte, könnte man im Grunde einfach auf den Green New Deal verweisen und sagen: »Das ist, was ich meine«. Ich meine Formen der Arbeit, in der wir nicht die Feinde des Landes sind, und Formen der gesellschaftlichen Organisation, in der wir nicht die Feinde der anderen sind. Ich spreche davon, wie das Gedeihen eines dieser Bereiche die Voraussetzung für das Gedeihen des anderen sein kann.
Eine Herausforderung der linken Mentalität – fast könnte man sagen, der linken Grundeinstellung – besteht darin, sowohl ein lebendiges, realistisches Gespür dafür zu haben, wie grausam und falsch die institutionellen und ideologischen Rahmenbedingungen sind, in denen wir oft kämpfen, als auch diesen moralischen Horizont nie aus den Augen zu verlieren, der der Grund dafür ist, warum wir tätig sind. Ich denke, das sind die beiden polaren Wahrheiten der linken Orientierung. Die Welt ist wirklich so schlecht. Und es ist wirklich so wichtig, dass sie gut wird. Beides ist wahr – und aufs Engste miteinander verwoben.
Ich mochte, wie das Buch Dein Denken mit Erfahrungen verbindet, die Du in deiner Kindheit im deindustrialisierten, ländlichen West Virginia gemacht hast. Du bringst Realitäten zur Sprache, mit denen sich Linke oft schwertun, zum Beispiel wie Menschen einen Job selbst dann lieben könnten, wenn er sie umbringt. Beim Lesen musste ich an eine Reportage denken, die wir vor kurzem veröffentlicht haben und in der es auch um Proteste gegen einen industriellen Schlachthof [Tönnies, Anm. d. Red.] ging. Die Arbeitsbedingungen dort sind fürchterlich, der Betreiber ein Quasi-Monopolist, der den Bauern extrem schadet. Trotzdem kamen einige mit Traktoren zu den Protesten, um den Schlachthof zu schützen. Sie sagten: »Wir brauchen diesen Schlachthof. Ihr kommt hierher, um Prinzipien auszufechten, aber ihr versteht nicht, dass es dabei um unseren Lebensunterhalt geht«. Um das auf den Green New Deal zurückzubeziehen: Machen wir es uns zu einfach, wenn wir davon sprechen, wir könnten die Wirtschaft radikal umgestalten und zugleich den Menschen mit einer Arbeitsplatzgarantie neue Jobs geben, etwa im Pflegebereich; während eigentlich vor Ort tiefe materielle und historisch gewachsene Bindungen an Industrien und Landschaften bestehen, die schlichtweg nicht in diesen Plan passen?
Ich fürchte, das ist völlig richtig: Dein Beispiel ist stark, und ich sehe direkt die Parallelen zur Situation in Appalachia. In meinem Buch erwähne ich den Großvater meiner Frau; er starb, bevor sie geboren wurde, aber mein Schwiegervater spricht ständig von ihm. Er liebte es, unter Tage zu gehen. Der Stollen war wahrscheinlich der Ort, an dem er am glücklichsten war. Und zugleich hat dieser Ort ihn umgebracht – und zwar sehr jung.
Für die Leute, die heute in den Kohlerevieren oder in der Ölindustrie arbeiten, hört sich das Gerede vom »Programmieren lernen« oder der »Umschulung zur Pflegekraft« definitiv wie ein schlechter Scherz an. Was dabei rüberkommt, ist, »im Grunde ist es uns egal, was mit euch passiert«. Von den angeblichen Kompensationsprogrammen für Beschäftigte in sterbenden Sektoren ist in den letzten 30 Jahre so wenig bei den Leuten angekommen, dass für sie alles Reden von Transformationsplänen einfach nur ein grausamer Witz ist. Die Leute wissen bestens Bescheid über diese Dinge, niemand ist ahnungslos was den eigenen Lebensunterhalt angeht.
Aber die Ausübung einer bestimmten Art von Arbeit hat natürlich auch eine kulturelle Dimension und ist identitätsstiftend für viele. Man kann das nicht einfach ausklammern. Die Annahme, unser Humankapital sei so flexibel und austauschbar, ist extrem neoliberal. Die Menschen denken so nicht von ihrer Arbeit.
Was Du also ansprichst, und was ich für absolut richtig halte, führt in zwei Richtungen. Die eine ist sehr deprimierend – sie besagt, dass ein Green New Deal, den wir vielleicht sowieso nicht bekommen, beim Ausgleich von Interessen und Perspektiven viel weniger erfolgreich sein kann, als wir es uns vorstellen, und dass er vielleicht als ein rücksichtsloses Plattwalzen bestimmter Industrien erlebt würde, auf die keine attraktiven Lebensaussichten für die Betroffenen folgen. Vielleicht sollten wir diese Gefahr jetzt schon ganz offen benennen, damit wir ernsthaft versuchen können, sie abzuwenden. Denn wenn wir so tun, als gäbe es sie nicht, dann werden die Menschen spüren, dass wir es nicht ernst meinen, dass wir sie und ihre Anliegen nicht ernst nehmen.
Andererseits kann echte politische Ermächtigung hier einen Unterschied machen. In meinem Buch mache ich folgende Feststellung: Als die Gewerkschaften stark waren, waren die Bergarbeiter und die Gewerkschaften viel stärker an Umweltfragen interessiert. Sie drängten darauf, den Tagebau [den besonders zerstörerischen Abbau von Gesteinsschichten an der Erdoberfläche, Anm. d. Red.] zu verbieten und streikten, um Umwelt- und Gesundheitsstandards durchzusetzen. All das ist heute verschwunden und wurde durch eine Art Populismus der Konzerne ersetzt: Wo die Gewerkschaften sich nicht mehr gegen die Bosse stellen, stellen sich jetzt die Bosse gegen die Umweltauflagen der Regierung.
Es ist nicht klar, wie wir zu einer Welt kommen, in der Arbeiterinnen und Arbeiter, deren Sektoren von einem erfolgreichen Green New Deal verdrängt würden, die politische Macht haben, die Bedingungen dieses Wandels selbst zu verhandeln. Fest steht bloß, dass sie dazu unbedingt befähigt werden müssen. Denn alles, was Dir von jemandem auferlegt wird, der Dich nicht versteht, wird auf Ablehnung stoßen, auch wenn dafür ein Pflegejob mit 15 Dollar Mindestlohn geschaffen wird. Man wird auch das mit Händen und Füßen bekämpfen. Aus dieser Einsicht ergibt sich noch kein klarer Plan dessen, was wir zu tun haben, aber eine Skizze der Schwierigkeiten, mit denen wir es aufnehmen müssen. Das dürfen wir nicht vergessen, wenn wir uns an die Arbeit machen.
Jedediah Purdy ist Professor für Verfassungs- und Umweltrecht an der Columbia University in New York. Sein Buch »Die Welt und Wir. Politik im Anthropozän« erschien im Oktober in deutscher Übersetzung bei Suhrkamp.
Linus Westheuser ist Redakteur bei JACOBIN und promoviert in Florenz zu Politischer Soziologie.
Jedediah Britton-Purdy lehrt Verfassungs- und Umweltrecht an der Columbia University in New York.