01. Mai 2022
Manche Linke wollen die Arbeit abschaffen. Sozialistinnen und Sozialisten wollen sie verändern.
Detail aus dem Detroit Industry Mural von Diego Rivera.
Am 30. April 1983 bereitete sich eine Gruppe holländischer Aktivistinnen und Aktivisten im Amsterdamer Stadtviertel De Pijp auf den 1. Mai vor – den Tag der Arbeit. Als eine Art Pfingsten der weltweiten Arbeiterbewegung ist der 1. Mai der einzige gesetzliche Feiertag, der keinen volkstümlichen oder religiösen Hintergrund hat und der für die Errungenschaften eines ganzen Jahrhunderts hart erkämpften Klassenkampfs steht.
1884 rief die Federation of Organized Trades and Labor Unions dazu auf, am 1. Mai 1886 für den 8-Stunden-Tag zu demonstrieren; vier Jahre später, nach einem gewaltsamen Tag des Streikbrechens, bei dem fünf Menschen starben, forderte der Gewerkschaftsführer Samuel Gompers den Gründungskongress der Zweiten Internationale in Paris dazu auf, den 1. Mai zu ihrem »offiziellen« Feiertag zu machen.
Im Jahr 1983 war die besagte Gruppe jedoch der Auffassung, die Bezeichnung »Tag der Arbeit« sei überflüssig. Auch wenn die holländische Regierung den Tag – hauptsächlich wegen der zeitlichen Überschneidung mit dem »Tag der Königin« am 27. April – nie als Feiertag anerkannt hatte, blieb er für linke Parteien von Bedeutung und wurde mit großen Demonstrationen und Feierlichkeiten in holländischen Städten begangen. Die Gruppe schlug vor, den 1. Mai zum »Tag gegen Arbeitsethos« (Dag tegen het arbeidsethos) umzubenennen und mit ihm den Aufbruch in eine Welt zu feiern, in der die Menschheit von der »Pflicht zur Arbeit« ein für alle Mal befreit sein würde. Zu Beginn des Jahres hatten bereits einige Mitglieder im Amsterdamer Kino Rialto die »Niederländische Vereinigung gegen Arbeitsethos« (Nederlandse Bond Tegen het Arbeidsethos) gegründet, die es sich zur Aufgabe machte, den »freiwillig Arbeitslosen« (bewust werklozen) eine Stimme zu geben.
Die Presse verfolgte die Aktivitäten schon bald mit Interesse, während »wütende« Mitglieder der Niederländischen Partei der Arbeit (Partij van de Arbeid, PvdA) und Gewerkschaftsorganisationen ihren Unmut kundtaten. Obwohl sich die Organisation offiziell als Gewerkschaft der Arbeitslosen verstand, stießen vor allem die Bestrebungen danach, die Re-Integration der niederländischen Arbeitslosen zu stoppen, auf Widerstand in der Arbeiterbewegung. Arbeit sollte ihrer Ansicht nach nicht als zentrales Thema aufgegeben werden. Die Opposition der etablierten Linken milderte die Ambitionen der Vereinigung gegen Arbeitsethos jedoch kaum. In den 1980er Jahren wuchs die Vereinigung zu einer der lautesten Stimmen der Anti-Arbeits-Bewegung an und gab das monatlich erscheinende Magazin Luie Donder (Die Stinkfaulen) heraus. Somit stimmte sie in den stetig wachsenden Chor derjenigen Linken ein, die glaubten, dass die »Gesellschaft der Arbeit« ihr Ende gefunden hatte.
Aktuelle Diskussionen um eine Gesellschaft jenseits der Arbeit spiegeln in vielerlei Hinsicht die Pattsituation zwischen der Vereinigung gegen Arbeitsethos und der Niederländischen Partei der Arbeit wider. In den letzten Jahren hat sich eine neue Form der post-kapitalistischen Theoriebildung unter dem Vorzeichen einer »Anti-Arbeits«-Politik herausgebildet: von Paul Masons Postkapitalismus (2015) bis zu Nick Srniceks und Alex Williams’ Inventing the Future (2015) und Aaron Bastanis Fully Automated Luxury Communism (2019). Im Gegensatz zu einer etwas aus der Mode gekommenen Fixierung auf Arbeit, distanziert sich diese »neue« Neue Linke vom »Kult der Arbeit« vorhergehender sozialistischer Parteien und widmet sich stattdessen einer Ehrenrettung der Untätigkeit – in etwa so, wie es die Vereinigung gegen Arbeitsethos vor ihnen tat.
Die Gegner der Arbeit wähnen die empirischen Beweise auf ihrer Seite. »Die überwältigender Mehrheit der Menschen«, so schreiben Srnicek und Williams, »sieht in ihrer Arbeit weder Sinn noch Erfüllung oder Erlösung«, sondern »einfach nur etwas, das die Rechnungen bezahlt«. Da es »bereits einen weitverbreiteten Hass auf Jobs« gäbe (zusätzlich zu der zunehmenden Bedrohung durch die massenhafte Vernichtung derzeitiger Arbeitsplätze), sollten Sozialistinnen und Sozialisten auf die »weitverbreitete Forderung, andere sollten deren Arbeitsmoral übernehmen … nur mit der Verachtung, die wir für unsere eigenen Jobs empfinden«, reagieren. Wie auch Bastani und Mason sehen beide die Lösung darin, für mehr Automatisierung einzutreten sowie eine massive Ausweitung von Freizeit zu fordern. Ihr ultimatives Ziel ist damit die Abwesenheit von Beschäftigung – im Gegensatz zur Vollbeschäftigung. »Schlussendlich«, schreiben sie, »müssen wir uns zwischen der Glorifizierung von Arbeit und der Arbeiterklasse und der Abschaffung von beidem entscheiden«.
Die Agitation rund um eine Gesellschaft jenseits der Arbeit ist dabei keineswegs eine Neuheit unter Linken. Im späten 19. Jahrhundert feierten Anarchistinnen und Anarchisten bereits »Arbeitsverweigerung« als die anti-kapitalistische Taktik schlechthin und niederländische Kommunistinnen und Kommunisten prangerten in den 1930ern das »Arbeitsethos« ihres Landes als die »größte Krankheit des Jahrhunderts« an. Eines der bekanntesten Beispiele ist das 1880 erschienene Pamphlet Das Recht auf Faulheit von Karl Marx’ Schwiegersohn Paul Lafargue, das auch unter Sozialistinnen und Sozialisten weite Kreise zog, obwohl es von der SPD aus dem Verkehr gezogen wurde.
Fast ein Jahrhundert später erreichte die europäische Anti-Arbeits-Bewegung mit dem Mai 1968 in Frankreich und dem »heißen Herbst« 1969 in Italien neue Höhen. Situationistinnen, Maoisten und Anhängerinnen des Operaismus nutzten die turbulenten Mai-Tage als Revolte gegen den »Produktionsimperativ« industrieller Gesellschaften; der belgische Kommunist Raoul Vaneigem schrieb in seinem Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen von 1967: »Vom Arbeit macht frei der Nazis zu Henry Ford und Mao« sei der »Kult der Arbeit« zu einer universellen Gegebenheit in der kommunistischen wie in der kapitalistischen Welt geworden.
Dieser Kult könne jedoch nicht anhalten. In den späten 1960ern, insistierte Vaneigem, würde man durch »Automatisierung und Kybernetik« die »massenhafte Ersetzung von Arbeitern durch mechanisierte Sklaven« erleben. Der Aufstieg der computerbasierten Produktion würde menschliche Arbeit zunehmend überflüssig machen und »ihr Verhaften in den barbarischen Methoden der etablierten Ordnung« zeigen. »Die Betrügerei der Arbeit hat sich erschöpft«, postuliert Vaneigem 1967, »und da gibt es nichts mehr zu verlieren, nicht einmal die Illusion von Arbeit«.
Vaneigems Plädoyer ähnelt dem für »volle Automatisierung« von Srnicek und Williams sehr – wenn man »Kybernetik« durch »Massen-Automatisierung« und »mechanisierte Sklaven« durch »Roboter« ersetzt, entsteht der Eindruck, dass sich bei den Anhängerinnen und Anhängern der Bewegung gegen die Arbeit kaum etwas getan hat.
Und doch gibt es ein paar neue Aspekte, die sich unterschiedlich einschätzen lassen. Das Schicksal vom Paul Lafargues Pamphlet in sozialistischen Kreisen sagt zum Beispiel viel über das angespannte Verhältnis der Arbeiterbewegung zu den frühen Schriften aus, die sich gegen Arbeit aussprachen. Als Friedrich Engels seinen SPD-Kollegen Eduard Bernstein mit einer Übersetzung von Lafargues Buch beauftragte, ließ dieser mehrere Stellen aus und verwarf den Text als »Karikatur« und »Witz« – das Pamphlet sei nichts weiter als eine »Polemik gegen bürgerliche Moralvorstellungen«.
Bezeichnenderweise lieferte Bernstein damit eine »revisionistische« Sicht auf Lafargue und verschleierte so die subversive Kraft dieses Textes. Das gleiche lässt sich allerdings auch über Bernsteins Feinde sagen. Sowjetische Lobredner von »Arbeit« wie Lenin und Trotzki – die nicht weniger propagierten als die »komplette Militarisierung von Arbeit« und eine überbordende Beschleunigung der Arbeitsmoral – qualifizierten sich auch nicht gerade als Denker der Post-Arbeits-Bewegung.
Das Neue an der aktuellen Anti-Arbeits-Bewegung ist vielleicht, dass sie eine andere Kritik am Kapitalismus formuliert – eine Kritik, die zu Lafargues und Bernsteins Zeiten einfach noch nicht existiert hat. Gemäß dieser Logik ist das Problem des Kapitalismus nicht, dass er ökonomisch irrational und ausbeuterisch ist. Vielmehr kritisierten Theoretiker wie Gilles Deleuze, Félix Guattari und Michel Foucault den Kapitalismus dafür, dass er die triebhaften Bedürfnisse einer Gesellschaft, die bereits auf endlosen Konsum ausgerichtet ist, nicht erfüllen könne. Anstatt die Produktivkräfte, die er nicht kontrollieren kann, zu entfesseln, hat der Kapitalismus demnach ein unstillbares Verlangen geschaffen, dass er nur periodisch in Phasen des Aufschwungs befriedigen kann – nur um dann zu moralisierenden Mantras von Entbehrung und Sparpolitik in Zeiten der Rezession zurückzukehren.
Die Philosophin Bini Adamczak beschreibt diese neue »Konsumkritik« wie folgt: »Als der Nachkriegskapitalismus der aufholenden Akkumulation und mit ihm der Sozialcharakter der preußisch-protestantischen Sparmentalität in die Krise gerät, eröffnet die kulturelle Revolution neue Expansionsfelder für das Kapital und seine Kritiker. Die Enttabuisierung von Sexualität und Hedonismus produziert neue Märkte, neue Marketingstrategien und setzt neue Akkumulationsspiralen in Gang. Die Fokussierung der Reproduktion erschließt neue politische Kampffelder und ist gleichzeitig auch historischer Effekt von Niederlagen innerhalb der Fabrik.«
Der stiefmütterliche Umgang mit Lafargue sagt uns auch etwas über unsere aktuelle Lage bezüglich einer Gesellschaft jenseits der Arbeit. Denn die Forderung, »Arbeit abzuschaffen«, wird in einer Zeit laut, in der die arbeitenden Klasse nicht siegreich, sondern eher besiegt zu sein scheint.
Von André Gorz’ Abschied vom Proletariat (1983) bis zu Jeremy Rifkins Das Ende der Arbeit (1995) haben Vertreter der Anti-Arbeits-Bewegung ihre Vorschläge auf eine Generation zugeschnitten, die Niederlagen gewohnt ist. In diesem Sinne versprechen die aktuellen Ansätze einer komfortablen »post-utopischen Utopie« denjenigen, die gar nichts haben, alles. Die Verschiebung hin zur Reproduktion, so Adamczak, war zweifelsohne »die historische Folge der Niederlage in den Fabriken«. Aber Niederlagen führen selten zu klarem Denken – und tendieren eher zu konzeptueller Unklarheit. Es gibt verschiedene Deutungsmuster dafür, wie diese Mutlosigkeit den Blick auf eine Post-Arbeits-Gesellschaft verzerrt. Doch wie sehen sie aus?
Als erstes wirft die anhaltende Unfähigkeit, die Begriffe »Arbeit«, »Einsatz« und »Beschäftigung« sinnvoll voneinander zu unterscheiden, Zweifel auf. Es ist natürlich äußerst kompliziert, sie in unserer derzeitigen Gesellschaft auseinanderzuhalten: »Arbeit« ohne »Beschäftigung« scheint unmöglich, »Einsatz« assoziiert man sofort mit Pünktlichkeit und Ordnung, die uns von modernen Arbeitsverhältnissen aufgebürdet werden. Dass aber alle drei Qualitäten in unserem sozialen Umfeld miteinander verwoben sind (oder auch, dass die kapitalistische Wirtschaft nur »Arbeit in Beschäftigungsverhältnissen« entlohnt) sollte nicht heißen, dass wir diese Gleichsetzung einfach in unser eigenes Denken übernehmen sollten.
Zunächst einmal müssen wir »Beschäftigung« – die eine spezifische Abhängigkeit von Ausbeutung kennzeichnet, in der eine Gruppe von Menschen ohne Zugang zu Reproduktionsmitteln Güter verkauft (z.B. ihre Arbeitskraft) – von bloßer »Arbeit« trennen. Wenn solche Dienstleistungen zu Geld gemacht und Arbeitende dafür bezahlt werden, handelt es sich um »abstrakte Arbeit«: die Arbeit einer Person kann qualitativ mit der einer anderen gleichgesetzt werden, und jede Arbeit wird zu »gesellschaftlicher Arbeit«.
»Konkrete Arbeit« dagegen bezeichnet etwas anderes. Auch wenn das nicht historisch generalisierbar ist, so gehen Gesellschaften doch auf sehr unterschiedliche Art und Weise mit ihrer Umwelt um: Die Interaktionen zwischen Mensch und Natur können eine Vielzahl von Formen annehmen. Einige davon können hochgradig ausbeuterisch sein, wie in Gesellschaften mit Sklaverei, während andere unvermittelter und freier sind (man denke an die geteilte Beute von Jägerinnen und Sammlern).
Das bedeutet nicht, dass alle Belege menschlicher Zivilisationen gleichermaßen zur Verherrlichung von Arbeit tendieren. In den Schriften der antiken Philosophen Sokrates und Platon, den ersten Propheten der »Post-Arbeit«, wird Arbeit als die Domäne höriger Sklaven und Hausfrauen angeprangert – »die Freuden des Pöbels«. Da Sokrates und seine Schüler von ihrem Anteil an der Sklavenarbeit lebten, konnten sie philosophierend durch die Athenische Agora schlendern, ohne sich Gedanken über ihren Lebensunterhalt machen zu müssen. Von André Gorz bis Hannah Arendt wurde dieses Ideal jenseits aller Arbeit oftmals als Gegenentwurf zu unserer von Arbeit besessenen Welt in Stellung gebracht. Der zeitgenössische Reiz liegt dabei ebenso auf der Hand: Da wir mutmaßlich in Zukunft in einer Gesellschaft mit Robotern als privaten Sklaven leben werden – die gewissermaßen die Entsprechung zu Aristoteles’ »menschlichen Werkzeugen« sind –, wird die Menschheit sich endlich zu einem Geschlecht von philosophierenden Vollzeit-Königinnen entwickeln, sodass jede ihren eigenen Phaidon und ihre eigenen Nomoi schreiben kann.
Die Beweise, die die Anhängerinnen und Anhänger der »Post-Arbeit« heranziehen, widersprechen jedoch den zugrundeliegenden Annahmen. Wie Historiker wie Perry Anderson feststellten, war das antike Griechenland nämlich nicht gerade eine Sklaven-Wirtschaft. Ein großer Teil der Bevölkerung bestand aus Kleinbauern, die auch am meisten an einer partizipatorischen Herrschaftsform interessiert waren. Die Vorstellung eines Athens, als »Gemeinschaft arbeitsfreier Bürger, die gegenüber den Sklaven in der Minderheit waren, deckt sich nicht mit den historischen Beweisen«. Das heißt nicht, dass Sokrates und seine Jünger demütige Handwerksgesellen waren. Als Angehörige der aristokratischen Sklavenhalter waren Sokrates und Platon leidenschaftliche Gegner demokratischen Denkens, sahen sie doch die Demokratie als ein System, in dem der »Pöbel« das Hohe und Heilige der griechischen Kultur entthronen könnte. Es ist nicht verwunderlich, dass ihre grundsätzliche Ablehnung gegen »Arbeit«, die sie mit weiblicher Dienstbarkeit und menschenunwürdiger Plackerei assoziierten, daher rührte. Es brachte sie aber auch in Opposition zu denjenigen in der Athenischen Bevölkerung, die am meisten von einer demokratischen Ordnung, die auf der Würde der Arbeit basiert, profitieren würden: Handwerker, Händler und Kleinbauern. Der platonische Hass auf die Demokratie und auf die Arbeit sind also untrennbar miteinander verbunden.
Die Historikerin Ellen Meiksins schreibt dazu: »Es besteht kein Zweifel daran, dass die griechischen Gegner der Demokratie wie Platon, Xenophon und sogar Aristoteles eine tiefe Abneigung gegen Erwerbsarbeit und diejenigen, die genötigt waren sich damit abzugeben, hegten … Schwierig wird es allerdings, wenn diese aristokratischen Abneigungen als repräsentativ für den Ethos der gesamten Athenischen Bevölkerung angenommen und sogar auf die Arbeitenden bezogen werden, die die hauptsächliche Zielscheibe antidemokratischer Haltungen waren. Diese Tendenz zur Generalisierung eigentlich rein aristokratischer Haltungen gibt es über alle ideologischen Grenzen hinweg und sie spielt eine wichtige Rolle in konservativen Geschichtsschreibungen.«
Diese Sicht auf »Demokratie«, die eng mit dem »Arbeitsethos« zusammenhängt, insofern als die ökonomische Unabhängigkeit der Handwerker auch ihre politische Selbstbestimmung untermauerte, prägte auch radikale Denkansätze während der Frühmoderne von James Harringtons Loblied auf die »Agrargesetze« in seinem Werk Oceana (1656) bis zu Thomas Paines Preisung der »Produzenten« in Agrarian Justice (1797).
»Arbeitsethos« war ein Grundpfeiler radikalen Denkens seit der frühdemokratischen Bewegung der Levellers und Diggers, um die »einfachen Leute« gegen aristokratische Rentiers, unverbesserliche Bourgeois und wuchernde Grundbesitzer zusammenzubringen. Selbst die Sozialisten des 19. Jahrhunderts waren diesem plebejischen Arbeitertum stark verpflichtet, da sie das Proletariat als die »produzierende Klasse«, die »ebenso allseitig in ihrer Produktion als Konsumption ist« (Marx), verstand. Und auch wenn Marx das Proletariat als Klasse, die alle Klassen abschafft, erachtete, ist dennoch unklar, ob das zwangsläufig auch bedeuten müsse, dass Arbeit an sich hochgehalten werden muss. Arbeit, so Marx, ist nicht weniger als »die universale menschliche Fähigkeit, Natur zielgerichtet den materiellen Bedürfnissen anzupassen«. Zumindest historisch gesehen steht die Anti-Arbeits-Bewegung also einer bedeutsamen Richtung progressiver Theorie entgegen.
Warum nun also überhaupt die Diskussion? Fans der Post-Arbeits-Bewegung würden wohl entgegnen, eine Verteidigung des »Arbeitsethos« sei nur einem falschen Bewusstsein geschuldet und es bedürfe daher einer »kulturellen Revolution«, um uns dessen bewusst zu werden. Diese Sichtweise ist allerdings aus mehreren Gründen problematisch. Das erste Problem ist philosophischer Natur: Es gibt so etwas wie ein »falsche Bewusstsein« nicht. Die zeitgenössische Bindung an die Arbeit, so irrational sie auch sein mag, sollte stets in Hinblick darauf betrachtet werden, wie der Kapitalismus dauerhaft Bedürfnisse schafft – er wälzt die Verantwortung sozusagen vom Systemischen auf das Individuelle ab. Zusätzlich wird nicht deutlich, warum Menschen überhaupt bestimmte »falsche« Vorstellungen haben. Anstatt menschliche Bedürfnisse als etwas zu betrachten, das auf ein Ziel ausgerichtet ist, das unsere Welt nicht erfüllen kann, tendiert diese Sichtweise dazu, das objektive Verlangen nach »Arbeit« einfach abzulehnen. Sie erklärt darüber hinaus nicht, warum sich der lautstarke Ruf nach mehr »Arbeit« in den letzten Jahrzehnten so beharrlich gehalten hat – im Gegensatz zur simplen Forderung nach verbriefter Faulheit.
Die Post-Arbeits-Bewegung bringt sich also durch ihren Versuch das »Arbeitsethos« zu überwinden in einen massiven strategischen Nachteil. Da die Abwesenheit von Arbeit in unserer Gesellschaft dermaßen stark mit Arbeitslosigkeit in Verbindung gebracht wird, ist es sehr schwer, Menschen davon zu überzeugen, dass der Bezug von Arbeitslosengeld eine emanzipatorische Wirkung haben soll. Genau das war natürlich die Absicht der »freiwillig Arbeitslosen«: Sie wollten der Arbeitslosigkeit den Makel nehmen und ein Leben jenseits der Lohnabhängigkeit vorstellbar machen.
Das war jedoch leichter gesagt als getan. Im Verlauf der 1980er konnten sich konservative Politikerinnen und Politiker wie Thatcher, Le Pen und Reagan indem sie die Sprache der Arbeiterschaft übernahmen, erfolgreich als Verteidiger des »Arbeitsethos« positionieren, der von der Neuen Linken vernachlässigt wurde. Damit konnten sie sogar einen nennenswerten Teil der Arbeitslosen erreichen, die ihren eigenen Status als Überflüssige einer erfolgreichen Wirtschaft verabscheuten. Wie der Soziologe Richard Hyman anmerkt, wendeten sich diese Arbeitslosen nicht »üblicherweise gegen Arbeit«, sondern »wurden von Schuldgefühlen und Minderwertigkeitsgefühlen heimgesucht«, während sie an dem Glauben festhielten, dass »eine Anstellung, selbst in einem repressiven und schädlichen Job, ein entscheidender Teil der sozialen Identität und des Selbstwertgefühls sei«. Anstatt also befreiend zu wirken, überlässt die Post-Arbeits-Bewegung das Feld der Produktion also den Rechten und stimmt damit indirekt der Ansicht zu, dass es unmöglich sei, kollektive Bedürfnisse zu bestimmen, außer mittels des Marktes.
Die Anti-Arbeits-Bewegung hat darauf natürlich gleich erwidert, dass all diese Beweise den statistischen Fakten zuwider laufe: Menschen mögen Arbeit einfach nicht. Oder, um es noch deutlicher zu sagen: Sie hassen sie. In einer Umfrage der britischen Agentur YouGov von 2015 sagten erstaunliche 37 Prozent der Befragten, ihr Job würde »keinen bedeutsamen Beitrag zur Welt leisten« und sei daher sinnlos, 87 Prozent zeigten Anzeichen sogenannter »Arbeitsermüdung«. Das Fazit scheint sehr klar zu sein: Den Ergebnissen dieser Umfrage nach würden die meisten Befragten lieber Zeit zu Hause mit ihren Kindern und ihren Freunden verbringen, als sich abzurackern (während sich Hausfrauen nach einem Leben fernab des privaten Haushalts sehnen).
Allerdings gibt es zwei anhaltende Probleme mit dieser Sicht auf die Dinge. Das erste ist, dass Anhängerinnen und Anhänger der Post-Arbeits-Bewegung dazu tendieren, es bei der Beweisführung nicht so genau zu nehmen. Die besagte Erhebung von YouGov erlaubt zum Beispiel keineswegs, wie Harry Pitts und Paul Thompson bemerken, den Schluss, dass die Mehrheit der Befragten ihren Job als »sinnlos« empfinden. Derselben Umfrage ist nämlich auch zu entnehmen, dass 63 Prozent der Befragten ihren Job durchaus als »sehr oder einigermaßen persönlich erfüllend« einstufen, »während 33 Prozent das nicht so fanden«. Auch die Ergebnisse des British Workplace Employment Relations Survey lassen auf Ähnliches schließen und zeigen einen Anstieg der Zufriedenheit unter den Befragten mit dem eigenen Job zwischen 2004 und 2011. 72 Prozent waren »zufrieden oder sehr zufrieden damit, zu arbeiten« (ungefähr zwei Drittel sprachen von einem »Gefühl, etwas geschafft zu haben«, wenn sie über ihre Arbeit redeten).
Die 13 Prozent, auf die Srnicek und Williams verweisen, beziehen sich außerdem lediglich auf diejenigen Befragten, die sich als in ihre »Arbeit aktiv involviert« fühlten. Allerdings fühlten sich auch nur 18,8 Prozent in derselben Umfrage »aktiv ausgeschlossen« – eine überschwängliche Ablehnung gegenüber der Arbeit sieht anders aus. Dabei sind Kriterien wie »Involviertheit« oder auch »Zufriedenheit« ohnehin eher schwer zu definieren: Sich darum zu bemühen, in die eigene Arbeit involviert zu sein, ist nicht dasselbe, wie sich für die Chefin auszubeuten, ohne dafür einen Ausgleich zu erhalten. Im Schatten einer weltweiten Rezession, einhergehend mit quasi zwangsläufigem Stellenabbau, ist es nicht verwunderlich, dass Arbeiterinnen und Arbeiter eine solche »Involviertheit« ablehnen.
Die eigenen Daten der Post-Arbeits-Bewegung hingegen zeichnen ein viel ungenaueres Bild der aktuellen Beziehung der Arbeiterschaft zu ihrer »Arbeit«. Anstatt einfach einen Ausgleich zwischen Arbeit und Freizeit anzustreben, lassen Forschungen darauf schließen, dass es vielmehr um einen »komplexe Mischung aus positiver Anhänglichkeit und Arbeitsidentität« in Verbindung mit einem »Anstieg der Sorge um Themen wie Unsicherheit, Anerkennung, Unterbeschäftigung, Arbeitsdruck und unfaire Entlohnung« geht. Paul Thompson schließt daraus, dass es mehr um die »steigende Divergenz zwischen dem, was Arbeit uns abverlangt und dem, was wir von Arbeit erwarten« gehe als um das Verlangen, Arbeit abzuschaffen.
Das statistische Argument wirft letztendlich die Frage auf, warum genau Menschen von der Aussicht auf mehr Freizeit so fasziniert sind. Schon 1840 gab der amerikanische Republikaner Orestes Brownson, der sich mit der Arbeitspolitik auseinandersetzte, zu bedenken, dass die Gegenüberstellung von mühsamer »Arbeit« und lustvollem »Spielen«, den die moderne Gesellschaft aufmacht, nicht weniger als ein inakzeptabler Akt der Erpressung sei. »Auch der Faulste unter uns«, schrieb Brownson, »angelt oder jagt über den ganzen Tag hinweg«; »Ehrenmänner, die dem Feldsport zugeneigt sind, verausgaben sich dabei häufig mehr als ein gewöhnlicher Arbeiter«; und »Jungen, die völlig harter Arbeit abgeneigt sind, erfreuen sich an nicht weniger hartem Spiel«.Wenn man nur Arbeit von den degradierenden Zuschreibungen, die mit ihr verbunden sind, befreien könnte«, schließt er, »und sie als ehrenhaft einzustufen vermöge; als so zugehörig zum Charakter des Ehrenmannes, wie es die Fuchsjagd in England ist, würde niemand versuchen, sie zu meiden«.
Thompson Unterscheidung zwischen dem, was Arbeit uns abverlangt und dem, was wir von Arbeit erwarten – eine Unterscheidung die vage an die zwischen »abstrakter« und »konkreter« Arbeit erinnert – deutet auf das Paradoxon hin, dass auch Brownson hier identifiziert. Die Tatsache, dass es uns so schwerfällt, unsere Wünsche an die Arbeit mit den Aufgaben, die uns Arbeitgeber auferlegen, in Einklang zu bringen, sorgt dafür, dass sich zwischen dem, was »ist« und dem, »sein könnte« eine Diskrepanz auftut. Vielmehr als der Wunsch zu entkommen, lässt sich die Beziehung der Menschen zur Arbeit als eine Art missbräuchlicher Liebesbeziehung beschreiben. Auch wenn eine Person möglicherweise Spuren einer befriedigenden Bindung in ihrer Beziehung zu einer anderen Person verspürt, wird das Versprechen dieser Befriedigung ständig von der ausbeuterischen Logik untergraben, die der Beziehung zugrunde liegt.
Die Reaktion der Post-Arbeits-Bewegung auf die Gräuel der Arbeit tendiert demnach dazu, sich der amourösen Beziehung ganz und gar zu entziehen und eine sicheres Dessinteresse an dessen Stelle zu setzen. Anstatt also eine Welt zu schaffen, in der die Voraussetzungen für Missbrauch keine Chance mehr haben, wollen sie den gesamten morschen Überbau der »Arbeit« ein für alle Mal loswerden.
Diese radikale Fluchtstrategie birgt dabei allerdings ihre ganz eigenen bittersüßen Enttäuschungen. Schon in den 1960ern kritisierten Denker wie Theodor Adorno und Christopher Lasch die Neue Linke für ihre Behauptung, die Missstände der Arbeit könnten durch eine höhere Konsumrate ausgeglichen werden. Lasch nahm damit Bezug auf die amerikanischen Partisanen des »Kybernetischen Sozialismus« und befand, dass der Versuch, »den Definitionsraum der Freizeit zu vergrößern« und »die Unterscheidung zwischen Arbeit und Freizeit selbst abzuschaffen«, leicht in »neuen Formen der Unterdrückung« münden könnte. Da die Gegenkultur ihre Aufgabe nicht nur darin sah, »mehr Freiräume für erotische Hingabe zu schaffen«, sondern »Arbeit selbst zu erotisieren« – oder Arbeit zu einem Spiel zu machen – , verschleierte sie damit die Unterdrückungsmechanismen der Lohnarbeit.
In den Vorstellungen der Gegenkultur, so Lasch, stellt sich »die Utopie als allumfassende Freizeit dar und reproduziert damit das Bild der Industriegesellschaft, anstatt ihm zu widersprechen«. Die Utopie wurde durch diese Sichtweise zur »demokratisierten Faulheit«; Lasch dagegen bestand darauf, dass »uns jahrhundertelange Erfahrung gelehrt hat …, dass Arbeit zu den tiefliegenden Antrieben der Menschheit gehört«. Da Freizeit das dialektische Gegenstück zu moderner Lohnarbeit im Kapitalismus war, war sie auch durchweg durch sie bestimmt – wie schon in der kapitalistischen Vereinnahmung der Freizeit durch die Tourismusindustrie sichtbar wurde.
Lasch bringt die Empfindsamkeit der Post-Arbeits-Bewegung natürlich mit einem bestimmten soziologischen Profil in Verbindung. Die meisten radikalen Aktivistinnen und Aktivisten der Nachkriegszeit stammten aus dem studentischen Milieu und hatten einen Hang dazu, ihre unbefriedigenden Erfahrungen als Akademikerinnen und Akademiker zur Blaupause einer post-kapitalistischen Gesellschaft zu generalisieren. »Eher die Ideologie der Hipster-Klassen als Marx«werde hier nach Philip Cunliff beschrieben. Ihre Schriften gäben uns »die Zukunft, wie sie sich ein paar beschäftigungslose und arbeitsscheue Studenten erträumen, die sich nichts sehnlicher wünschen, als ihr ganzes Leben lang in überteuerten Cafés in Ost-London auf ihren Laptops rumzuhacken«. Diese Leute werden höchstwahrscheinlich »Emanzipation mit Technisierung verwechseln«, da »sie die Grundfrage nach Kontrolle, Konstruktion und Programmierung ignoriert«.
Aber was ist mit der Behauptung, dass es die meisten Jobs von heute ohnehin nicht mehr lange geben wird? Zahlreiche Bücher versuchen zu beweisen, dass wir bereits in einer Gesellschaft leben, in der es die meisten Jobs so nicht mehr lange geben wird. Da weder die Industrie noch die Landwirtschaft »die Beschäftigten, die auf den Arbeitsmarkt gespült werden, aufsaugt«, sah es für das Wachstum des Arbeitsmarktes in den letzten zehn Jahren samt stagnierenden Gehältern und entsetzlichen Arbeitsbedingungen »immer elender« aus. Anders als die Arbeiterinnen und Arbeiter des 19. Jahrhunderts bleibt dem neuen globalen Proletariat nichts weiter übrig, als die Rolle der »Zuschauerinnen und Zuschauer des Spektakels der Akkumulation« einzunehmen. Schon bald werden wir auf die Jobs von heute mit dem gleichen exotischen Staunen zurückblicken, wie wenn wir heute von längst ausgestorbenen Berufen hören. Warum sich dem Lauf der Dinge in den Weg stellen?
Auch wenn das natürlich nicht die gesamte Automatisierungsdebatte obsolet macht, so bleibt doch festzuhalten: Die »Arbeiterklasse« ist nicht verschwunden. Zwischen 1980 und 2018 stieg die Zahl der abhängig-beschäftigten Arbeiterinnen und Arbeiter von 44 Prozent auf ungefähr 58,6 Prozent der Weltbevölkerung – und das obwohl auch die Zahl der Arbeiterinnen und Arbeiter im sogenannten »informellen Sektor« stieg. Wie Loren Goldner feststellt, »gibt es trotz des Aufkommens des ›post-industriellen‹ Kapitalismus im Westen und den Ideologien, die das Verschwinden der Arbeiterklasse heraufbeschwören, heute mehr Arbeiterinnen und Arbeiter in Lohnarbeit auf der Welt als jemals zuvor.«
Goldner stellt außerdem klar, dass die schiere Gleichsetzung von »Arbeiterklasse« und »Proletariat« hier einfach nicht funktioniert. Die Arbeiterklasse ist logischerweise die Klasse, die arbeitet – sie produziert die Produkte, zu denen sie keinen Zugang hat, backt Brote für eine Arbeitgeberin, um einen Lohn dafür zu bekommen, mit dem sie ihr eigenes Brot kaufen kann. Dabei machten sogar Marx und Engels klar, dass das Proletariat eben nicht immer arbeitet – es sucht vielmehr stets nach Arbeit, von befristeten zu festeren Verträgen. Der Situation des Proletariats wohnt die Prekarität inne – darüber kann auch die kurze Zwischenphase des Wohlfahrtsstaats der Nachkriegszeit nicht länger hinwegtäuschen.
Genau deswegen dachten im 19. Jahrhundert die belgischen Gewerkschaften auch, nicht länger nur den »arbeitenden« Teil der Bevölkerung repräsentieren zu können. Anstatt dessen wurden sie als Allianzen zwischen den Arbeiterinnen und Arbeitern, Unter-Beschäftigten und Arbeitslosen gegründet. In Belgien und skandinavischen Ländern weist noch immer das sogenannte »Genter System« (in dem die Gewerkschaften die Regulierung der staatlichen Arbeitslosen-Beihilfen mitkontrollieren) auf dieses Erbe hin. Solche Gewerkschaften sehen sich durch ihre Position zwischen Individuum und Gesellschaft als Repräsentantinnen derjenigen an, die von der Reproduktion ausgeschlossen sind. Dadurch spielen sie auch eine ebenso große Rolle dabei, Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber zur Verantwortung zu ziehen und sicherzustellen, dass die Arbeiterschaft den technologischen Entwicklungen entsprechend geschult werden kann. Wie zu erwarten reagieren diese Gewerkschaften eher allergisch auf die Thesen der Post-Arbeits-Bewegung und sehen ihre Hauptaufgabe in der Verteidigung der »Arbeit«.
Das heißt jedoch nicht, dass es nicht potenzielle Übereinstimmungen zwischen den Zielen der Gewerkschaften und der Post-Arbeits-Programmatik gäbe. Eine generelle Reduzierung der Arbeitszeit bei gleichbleibendem Lohn und längere Wochenenden zum Beispiel stehen bereits bei einigen dieser Gewerkschaften auf dem Plan. Aber selbst diese Annäherung bedeutet noch lange nicht den Wunsch »Arbeit abzuschaffen«. Sie stellt vielmehr den Versuch dar, die potenziell lustvollen Aspekte von Arbeit zu erhalten und zu verhindern, dass sie durch Ausbeutungszusammenhänge verloren gehen – dass also »abstrakte« Arbeit die »konkrete« Arbeit nicht komplett vernichtet.
Darüber hinaus können Gewerkschaften eine entscheidende Rolle dabei spielen, Menschen jeden Geschlechts gleichermaßen den Zugang zu gut bezahlter und erfüllender Arbeit zu ermöglichen, indem sie sich für staatliche Kinderbetreuung und bessere Elternzeitregelungen einsetzen. In diesem Sinne können nominal »reguläre« Gewerkschaften eine Schlüsselrolle bei der Minimierung und Abschaffung ausbeuterischer Hausarbeit spielen, indem sie sicherstellen, dass Frauen sich nicht zwischen bezahlter Kinderbetreuung und permanenter Alleinbetreuung entscheiden müssen.
Es ist natürlich wahr, dass die Verteidigung der »Arbeit« leicht ins Reaktionäre umschlagen kann. Man muss sich nur ansehen, wie Frankreichs Ex-Präsident Nicolas Sarkozy 2008 ein »Frankreich, dass früh aufsteht« anpreist oder wie geschmacklos David Cameron »Arbeiterfamilien« verteidigt. Das alles ist keineswegs neu im Arsenal rechter Politik. Der Wahlspruch der Vichy-Regierung im Frankreich der 1940er-Jahre – »Arbeit, Familie, Heimat« – lässt den anhaltenden Versuch konservativer Kräfte erahnen, die »Würde der Arbeit« für sich zu vereinnahmen und die sozialistischen Kräfte als lasterhaft zu verunglimpfen. Die perverseste Form dieses rechten Arbeitskult lässt sich in der Unterscheidung der Nazis zwischen schaffendem und raffendem Kapital erkennen, die selbst nur ein blasser Abklatsch von Henry Fords Dichotomie zwischen denen, die etwas nehmen, und denen, die etwas erzielen, ist. Ersteres wird mit dem »internationalen Judentum«, letzteres mit Fords »Industriekapitänen«, die vornehmlich weiße protestantische Amerikaner angelsächsischer Herkunft waren, in Verbindung gebracht. Das Motto dieser verkommenen Metastase findet man am Tor zum Konzentrationslager Auschwitz: Arbeit macht frei. In der Todesfabrik der Nazis war das »Produzententum« nichts weiter als ein Vorwand zur Auslöschung.
Es bleibt jedoch unklar, ob solche sozial-konservativen Verteidigungen des Werts der Arbeit am Ende wirklich als Verteidigung der Arbeit zu verstehen sind. Auch der italienische Schriftsteller Primo Levi, selbst ein Überlebender des Holocaust, merkte an, dass ihm die Zeile Arbeit macht frei »letztlich immer unklar schien«, wie er 1962 schrieb:
»In Wirklichkeit und entgegen jedem gegenteiligen Anschein ist die Abscheu und die Ablehnung gegenüber dem Wert der Arbeit fundamental für den faschistischen Mythos in all seinen Formen. Hinter jeder Form von Militarismus, Kolonialismus und Korporatismus liegt das konkrete Bestreben einer Klasse, die Arbeitskraft der anderen Klassen auszubeuten und ihnen jeden menschlichen Wert abzusprechen. Dieses Bestreben war schon in den arbeiterfeindlichen Positionen des italienischen Faschismus in seinen frühen Jahren zu beobachten und wurde mit dem Aufkommen des deutschen Faschismus noch erweitert. Seinen Höhepunkt fand es in großangelegten Deportationen von Arbeiterinnen und Arbeiter aus allen besetzten Ländern nach Deutschland. Erst im Universum der Lager gelangte es dann jedoch zu krönendem Ruhm und gleichzeitig seiner reductio ad absurdum.«
Auch wenn Levi seine Kritik mit sehr extremen Beispielen belegt, hilft sie, die Ambivalenz im Kern rechter Lobpreisungen der Arbeit zu verstehen. Wie Robert Ley, Leiter von Hitlers Einheitsverbands Deutsche Arbeitsfront, es 1935 formulierte: »Wir erklären, dass die Arbeit dem Menschen nicht schadet, solange der Geist der Volksgemeinschaft die Arbeit durchflutet.«
Was Konservative an Arbeit interessiert, ist demnach nicht die Möglichkeit der Selbstbestimmung, sondern die Hochachtung vor Autoritäten, die aus ihr entspringt. Theoretisch preist der rechte Arbeitskult vielleicht die kreativen Tugenden der Handwerker und Kleinbauern an, die in der Lage sind, für ihre eigene Familie zu sorgen (während sie nichtsdestoweniger dem Druck des Marktes ausgeliefert sind). In der Praxis standen Konservative seit jeher aber an vorderster Front wenn es darum ging, Arbeit zu degradieren. Dementsprechend war auch ihre Form von Taylorisierung mehr Nostalgie als kritischer Ansatz. Diese Nostalgie drückt sich unter anderem in den Wehklagen vieler Konservativer über den Mangel an »Fügsamkeit« und den Hang zum Streik unter Industriearbeiterinnen und Industriearbeitern aus.
Eine ähnliche Doppelzüngigkeit ist im aktuellen Diskurs eines rechten Arbeitskults zu finden. Früh am Morgen aufzustehen, worauf Sarkozy es hinunterbricht, mag eine Notwendigkeit frenetischer Künstler sein, doch es taugt nicht, um das zu beschreiben, was an Arbeit potenziell erfüllend sein könnte. Was Sarkozy an Arbeit interessiert ist also nicht so sehr die Möglichkeit, kollektiv etwas Großartiges zu schaffen oder irgendeinen Sinn in der Arbeit zu finden. Vielmehr erklärt sich seine Vorliebe zum Thema Arbeit aus der ihr eingeschriebenen Struktur ungleicher Machtbeziehungen und ihrer Konditionierung von Hierarchien. In diesem Sinne unterliegt Sarkozy aber demselben Trugschluss wie die Post-Arbeits-Bewegung: Er setzt »Arbeit« mit »Beschäftigung« gleich. Aber »Arbeit, bei der man unterwürfig sein muss, ist keine echte Arbeit«, wie es mit der amerikanischen Historiker James D. Steakley einmal formuliert hat.
Selbst hier bleiben jedoch ein paar ungelegene Fragen offen. Nehmen wir einmal an, die Gesellschaft hätte sich komplett von den Motiven des Marktes losgesagt und niemand müsste noch seine Arbeitskraft verkaufen, um überleben zu können. Auch in dieser Situation stellen wir uns möglicherweise noch die Frage, ob es machbar (oder gar erstrebenswert) wäre, dass jedwede Tätigkeit in reiner Spontanität ausgeführt werden könnte, während Maschinen die Drecksarbeit übernehmen würden. Die Abscheu, mit der zum Beispiel Akademiker der Post-Arbeits-Bewegung auf die Automatisierung ihrer eigenen Profession – etwa durch Online-Kurse – schauen, ist nicht nur ein Zeichen technophober Nostalgie. Es zeigt auch, dass es Jobs gibt, von denen wir denken, dass sie lieber nicht von Maschinen übernommen werden sollten, weil sie einen Grad an Charakterbildung voraussetzen, den Maschinen einfach nicht besitzen – ganze egal wie spektakulär ihre Ergebnisse im Turing-Test auch gewesen sein mögen.
Auch in einer Welt jenseits der Marktwirtschaft werden Schlüsselaufgaben eine Frage des gesellschaftlichen Bedarfs sein. Viele dieser Aufgaben werden gesamtgesellschaftlich verordnet werden müssen. Und, ob wir wollen oder nicht, auch eine post-kapitalistische Gesellschaft müsste einen Mechanismus finden, der die Bevölkerung zu »gesellschaftlich notwendiger« Arbeit (Kindererziehung, Bildung, Entsorgung) verpflichtet. So entsteht zwangsläufig ein bestimmter Grad an Fremdbestimmung innerhalb einiger Arbeitsformen.
Das stellt jedoch nicht unbedingt ein Problem für Marxistinnen und Marxisten dar. Auch wenn der Sozialismus in der Tat darauf besteht, dass man um bestimmte Arbeiten nicht herum kommt (ein Vorgang den wir ebenso jeden Tag im Kapitalismus beobachten können), so würde all das innerhalb verlässlicher Strukturen, die offen für Partizipation sind und auf die Bedürfnisse der Bevölkerung reagieren, geschehen müssen. Ohne Frage, bedarf diese Struktur irgendeiner Form des Zwangs; eines Zwangs, der definitiv abstrakt, aber nicht willkürlich ist.
Wenn wir uns von der These verabschieden, dass es sich bei Arbeit um eine Frage des falschen Bewusstseins handle, müssen wir ernsthaft darüber nachdenken, auf welches menschliche Bedürfnis Arbeit reagiert. Es sollte demnach auch die Aufgabe einer sozialistischen Gesellschaft sein, diese ineinandergreifenden Beziehungen anzuerkennen und eine Welt zu ermöglichen, in der die Strukturen, die uns dabei helfen, die Bedürfnisse anderer zu erfüllen, stets auch nachvollziehbar und hinterfragbar bleiben.
Das führt uns ohne Frage zu einem der Schwachpunkte der aktuellen Post-Arbeits-Debatte. Gründlich konditioniert durch das Zeitalter der liberalen Vereinzelung akzeptieren die meisten Anhängerinnen und Anhänger dieser Position mittlerweile ein sehr individualisiertes Bild von »Bedürfnissen«, das in vielerlei Hinsicht mit der »Konsumentensouveränität«, die allerorts von Neoliberalen beschworen wird, kompatibel ist. Da frühere Formen von Wohlfahrt immer auch den Armen vorgaben, was diese zu konsumieren und zu produzieren hätten, verwirft die Post-Arbeits-Bewegung diesen Ansatz vollständig.
Dieser anti-normative Instinkt trifft ganz klar den Kern der meisten zeitgenössischen Veröffentlichungen der Anti-Arbeits-Bewegung. Das erklärt auch ihren Hang zu einer der meist diskutierten gesellschaftlichen Maßnahmen unserer Zeit – dem sogenannten »Grundeinkommen«. Schon 1979 charakterisierte Michel Foucault Milton Friedmans Vorschlag einer negativen Einkommenssteuer (konzeptuell dem Grundeinkommen sehr ähnlich) als eine »weniger disziplinarische und autoritäre« Form der Wohlfahrt. Wie Foucault selber befand, wäre es mit so einem garantierten Einkommen »den Menschen selbst überlassen, zu arbeiten, wenn sie wollen, und nicht zu arbeiten, wenn sie nicht wollen«. Das wiederum impliziere auch »die Möglichkeit, niemanden zur Arbeit zu zwingen, der kein Interesse daran hat«. Friedman könnte damit der Linken im Westen dabei assistieren, die Wohlfahrt von einem »disziplinarischem« in ein »libertäres« Modell umzuwandeln.
Diese Querverbindung ist nicht folgenlos. Es geht nicht nur darum, dass Friedmans Ansatz dem Markt den Rücken stärkt, er bedeutet auch (wie der englische Historiker James Heartfield im Bezug auf die Grundeinkommen-Bewegung feststellte) einen allumfassenden »Rückzug aus der Sphäre der Produktion«. Das ist durchaus gewagt: Im Kapitalismus bedeutet die Kontrolle über die Produktion stets auch den ersten Schritt zur Kontrolle des öffentlichen Lebens; der Wunsch, die demokratischen Institutionen zu beherrschen, ist untrennbar mit dem Mechanismus verbunden, der diese Institution überhaupt erst am Laufen hält. »Auch nach vielen Jahren«, so Heartfield 1998, »bleibt die Sphäre der Produktion eine, die immer wieder in Frage gestellt wird. Arbeiter hinterfragten die Produktionsteilung und setzten sich für höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten ein … Mit diesen gesellschaftlichen Infragestellungen stand die materielle Produktion immer im Zentrum des politischen Lebens.«
Für Heartfield löse der Vorschlag von Friedman und Foucault allzu leicht die »Frage der Grundbedürfnisse von den gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen« ab und stelle Arbeitslosigkeit als »unumgänglich« dar.
All das heißt nicht, dass die Linke einfach unkritisch zum Arbeiterinnentum der Vor-Kriegszeit zurückkehren sollte. Auch sollte sie nicht dem leichtfertigen Produzentinnentum verfallen, das eine »produktive« Industrie einer »unproduktiven« Finanzwirtschaft gegenüberstellt (und gleichzeitig deren inhärente gegenseitige Abhängigkeit verschleiert); auch sollte sie Laschs naturalistischen Trugschluss umgehen, der behauptet, Arbeit sei von vornherein einer der »tiefliegensten Antriebe der Menschheit«.
Es wäre jedenfalls ein schwerwiegender Fehler, das Kind mit dem Arbeiterinnen-Bade auszuschütten. Wenn es uns, als Sozialistinnen, ernst ist mit der Schaffung eines menschlichen Subjekts, dass über eine Individualität verfügt, die »ebenso allseitig in ihrer Produktion als Konsumption« (Marx) ist, müssen wir uns die Frage stellen wie wir Arbeit jenseits des Marktimperativs neu strukturieren und neu erfinden können.
Das ist keine leichte Aufgabe. Wie von Bini Adamczak ausgeführt, braucht es nicht weniger als ein »Bestreben, alle gesellschaftlichen Sphären so einzurichten, dass sich das Bedürfnis nach Flucht (in die Freizeit, die Schaufenster, Fernseher) minimiert«. Es bedeutet auch, sicherzustellen, dass der frustrierendste Zustand überhaupt – das Verschleiern von abhängiger Arbeit als »frei« – kein permanenter Aspekt unserer Gesellschaft wird.
Ironischerweise wurde die Niederländische Vereinigung gegen Arbeitsethos später eines der besten Beispiele für dieses Problem. Nach der Gründung 1982 stand die Gruppe nach nicht einmal zweieinhalb Jahren kurz vor der Auflösung – aus sehr merkwürdigen Gründen. Die Vereinigung, wie ein ehemaliges Mitglied behauptet, empfand die Unternehmung »einfach zu mühevoll«. Im Versuch Arbeit abzuschaffen, arbeitete sich die Post-Arbeits-Bewegung beinahe zu Tode.