20. April 2022
Ein Gasembargo kann Putins Krieg nicht stoppen. Um die Abhängigkeit von russischem Gas zu reduzieren und Preissteigerungen auf Kosten kleiner Einkommen zu vermeiden, brauchen wir eine Energiewende.
Förderpumpe des Gas- und Öllieferanten Tatneft in Almetjewsk, Russland.
Ein Gasembargo ist der einzige Weg, um den Ukraine-Krieg zu stoppen, argumentieren Befürworter dieser Forderung. Sowohl in der Wissenschaft als auch in der breiten Öffentlichkeit wird das Thema heiß diskutiert. In der Politik hingegen ist man sich in dieser Frage selten einig: Von links bis rechts wird die Forderung nach einem Energieembargo einhellig abgelehnt. Zwischen Habeck, Lindner und Scholz gibt es dahingehend keinerlei Meinungsverschiedenheiten.
In der Bevölkerung ist die Resonanz durchmischter. Laut einer Umfrage vom Infratest dimap vom 07. April unterstützen 71 Prozent der Grünen-Wähler, 56 Prozent der SPD-Wähler, 55 Prozent der Union-Wähler, 41 Prozent der FDP-Wähler und 16-Prozent der AfD-Wähler die Forderung. Die Zustimmung scheint tendenziell zu steigen.
Die Situation ist also alles andere als eindeutig. Auch in der Politik sind in allen Parteien vereinzelt Rufe nach einem Embargo zu vernehmen. Zudem scheint sich die Stimmungslage verändert zu haben. Ausschlaggebend dafür dürften wohl Putins Kriegsverbrechen sein. In jedem Fall wird die Forderung nach einem Embargo die nächsten Monate immer wieder debattiert werden, da klar ist: Die Abhängigkeit von Putins Energie muss beendet werden.
Viele Stimmen aus Wissenschaft, Gesellschaft und Politik behaupten, Deutschland finanziere Putins Krieg. Wenn Deutschland aufhören würde, russisches Gas zu importieren, müsse Putin früher oder später den Krieg beenden, so das Argument. Der erste Punkt ist schlichtweg falsch und der zweite unabsehbar.
Die Aussage zur Finanzierung spiegelt ein falsches Verständnis des Geldsystems wider: Der russische Staat müsse Geld erst einnehmen, um es dann ausgeben zu können. Doch da der Staat in aller Regel der Währungsherausgeber ist, kann er neues Geld einfach schöpfen. Hinzu kommt, dass Putin seine Soldaten und Kriegsindustrie überwiegend in Rubel bezahlt – nur bei wenigen Ausnahmen wie der Söldnerbezahlung oder Technikimporten braucht Putin Devisen. Ob er Euro einnimmt, hat erstmal nichts mit der Bezahlung in Rubel zu tun.
Auf diesen Trugschluss hat auch der Militärökonom Marcus Kneupp der ETH Zürich kürzlich hingewiesen: »Auch die Truppenlogistik ist nicht auf Einnahmen aus dem Ausland angewiesen. Die Streitkräfte beziehen sämtliche Öl-, Diesel- und Kerosinlieferungen vom Staatsunternehmen Rosneft. Die Zahlungen des russischen Kriegsministeriums an Rosneft werden in Rubel fakturiert, auch die Soldaten werden in Rubel bezahlt. Hier hat die russische Regierung die Geldmenge direkt in der Hand. Die russische Kriegsführung ist also autark. Selbst wenn Deutschland und Europa überhaupt kein russisches Öl und kein russisches Gas mehr kaufen würden, könnte diese Kriegsmaschinerie unbegrenzt weiterlaufen.«
Bei Verhängung eines Embargos würden die Soldaten also nicht sofort die Waffen fallen lassen. Das Geld für die Gaslieferungen geht auch nicht direkt an den russischen Staat, sondern an Gazprom. Nun könnte Russland die Gewinne der Staatsunternehmen beziehen oder sie besteuern. Das Problem dabei ist: Das Eurokonto Russlands ist gesperrt. Daher hat Putin als Antwort auf die westlichen Sanktionen einen Zwangsumtausch von 80 Prozent der Euroeinnahmen in Rubel angeordnet. Das stützt den Rubelkurs, der wegen der etlichen anderen Sanktionen gelitten hat. Kürzlich hat Russland sogar angekündigt, dass die Gaslieferungen komplett in Rubel bezahlt werden sollen. Putin will also gar keine Euro, er möchte vielmehr die Rubelnachfrage stärken.
Das Embargo hätte aber zur Folge, dass die Rubelnachfrage erheblich sinken würde, wodurch sich der Wechselkurs des Rubel enorm verschlechtern würde. Die wenigen erlaubten Importe nach Russland würden dadurch noch teurer werden, was wiederum eine angebotsseitige Inflation zur Folge hätte.
Der Wirtschaftseinbruch durch die bereits erfolgten Sanktionen und die zusätzliche Schwächung der Gasindustrie dürfte in Russland Massenarbeitslosigkeit, Inflation und Armut nach sich ziehen. Ein Embargo träfe also in erster Linie die russische Zivilbevölkerung. Doch der Krieg würde dadurch vermutlich nicht kurzerhand zum Erliegen kommen. Denn Russland war vor dem Krieg einer der größten Waffenexporteure der Welt. Inwieweit die russische Militärindustrie von Importen aus dem Westen abhängt und wie viel Rüstung noch auf Lager ist, weiß niemand – und wahrscheinlich ist dies auch ein sehr gut gehütetes Geheimnis von Putin.
Es ist ebenso unwahrscheinlich, dass der Wirtschaftseinbruch in Russland zu einer Revolte führen würde, da auch die letzten Jahrzehnte von wirtschaftlicher Stagnation geprägt waren und Proteste in Russland schnell und hart zerschlagen werden. Das Embargo könnte sogar gegenteilig wirken, wenn sich die Bevölkerung etwa mit Putin gegen den Westen solidarisiert.
Ökonomisch blieben Putin auch noch etliche Alternativen, um den Krieg aufrechtzuerhalten – mindestens kurzfristig. So könnte er auf chinesische Devisen zugreifen, um den Rubel zu stabilisieren, Handelsabkommen mit China und Indien abschließen, die nicht von Euro oder Dollar abhängen, oder Importe mit Krediten bezahlen.
Die Folgen für Russland sind also unkalkulierbar. Teile der Bundesregierung sind der Überzeugung, dass ein Embargo in Deutschland wiederum zu Massenarbeitslosigkeit und einer Wirtschaftskrise führen würde, da Deutschland immer noch 40 Prozent seiner Gasimporte aus Russland bezieht.
Auch eine kurzfristige Ersetzung dieses Gases ist schwierig. So sagte Habeck, dass Deutschland noch bis Mitte 2024 von russischem Gas abhängig sein könnte. Die Klimaökonomin Claudia Kemfert hingegen kam in einer Untersuchung des DIW zu dem Fazit, dass Deutschland schon Ende 2022 ohne russisches Gas auskommen könnte. Um die Folgen des Embargos abschätzen zu können, ist also entscheidend, wie hoch der Grad der Abhängigkeit tatsächlich ist.
Etliche Ökonominnen und Ökonomen haben daher unterschiedliche Szenarien für die wirtschaftlichen Folgen eines Embargos analysiert. Die Bandbreite des erwarteten BIP-Verlusts erstreckt sich in den unterschiedlichen Studien von 0,5 Prozent bis zu über 6 Prozent. Dazu kommt ein Aufschlag auf die Inflation von geschätzten 0,8 Prozent bis 2,6 Prozent. Entscheidend bei der Kalkulation ist vor allem auch die Versorgungslücke: Ein Embargo bei einer hohen russischen Versorgung ist schwerwiegender als bei einer geringen Versorgung – das erklärt sich von selbst.
Das ungünstigste Szenario kommentierte Habeck mit folgenden Worten: »Wir reden bei einem sofortigen Importstopp über Hunderttausende Menschen, die ihre Arbeit verlieren.« Diese Einschätzung ist nicht aus der Luft gegriffen, denn weite Teile der Industrie sind vom Gas abhängig – und zwar nicht nur indirekt beim Heizen. Bezüglich der Abhängigkeit der Industrien nannte die FAZ kürzlich folgende Zahlen: »Zuletzt stand die Chemie für 24 Prozent des industriellen Gasverbrauchs, das Metallgewerbe für 22 Prozent. Die ohnehin gebeutelte Glas- und Keramikherstellung sowie Papierproduktion folgen mit acht und sieben Prozent: Im Verhältnis zum Umsatz ist hier der Gaseinsatz am höchsten.«
Die gewerkschaftsnahen VWL-Professoren Krebs und Dullien argumentieren, dass ein Embargo bei energieintensiver Produktion zu Rationierungen und Produktionsstillstand führen würde. Das beträfe »nicht nur jene Unternehmen, die Erdgas etwa für Prozesswärme benötigen, sondern potenziell auch Stahlwerke, die russische Kohle verheizen, und Großverbraucher von Strom, weil Erdgas und russische Kohle in der Elektrizitätserzeugung eingesetzt werden«. Dies würde auch bei anderen Unternehmen Kaskadeneffekte nach sich ziehen: »Wie wir in den vergangenen beiden Jahren schmerzhaft etwa in der Automobilindustrie gesehen haben, kann eine kleine Störung in den komplexen Wertschöpfungsketten einer modernen Volkswirtschaft erhebliche Auswirkungen auf die Produktion nachgelagerter Unternehmen und angrenzender Branchen haben.« Ihnen zufolge wären die Produktion und Arbeitsplätze in der Chemie-, Stahl- und Autoindustrie besonders betroffen.
Unter bestimmten Kriterien könnte die Krise noch viel schlimmer ausfallen – insbesondere dann, wenn große Versorgungslücken bestehen. Die Gefahr ist also offensichtlich. Bei einem Sofort-Embargo drohen extreme Preissprünge. Dadurch würden vor allem kleine und mittlere Einkommen belastet. Schon jetzt bleiben viele auf den Kosten der Energiepreise sitzen – und das trotz der beiden Entlastungspakete der Ampel. Vor allem auf die Prognosemodelle für ein Energieembargo sollte man sich kaum verlassen, denn diese stehen auf äußerst wackeligen Beinen.
Um die Kalkulationen der Modelle ist in der Wirtschaftswissenschaft eine hitzige Debatte entbrannt, angeführt von VWL-Krawallmeister Rüdiger Bachmann, der Ko-Autor einer der ersten Studien zum Energiemebargo ist, die eher moderate Folgen prognostizierte. Doch das Problem ist: Die Studienergebnisse der Ökonominnen und Ökonomen können nur so gut sein wie ihre Modelle. Allerdings sind letztere nicht dazu geeignet, mittelfristige Auswirkungen aufzuzeigen, da es keine verwendbaren Daten für die Modellierung gibt. Denn in den letzten Jahrzehnten hat es kein Energieembargo gegeben. Das führt dazu, dass die Modelle die mittelfristigen Auswirkungen systematisch unterschätzen.
Seit Wochen wird nun über das Embargo diskutiert, doch es gibt daneben auch etliche Vorschläge, wie man bisherige Sanktionen ausweiten könnte. So hat die EU Embargos für Kohle, Wodka und Holz verhängt. Daneben wurden weitere Oligarchen auf die Sanktionsliste gesetzt. Die Bundesregierung hat die temporäre Kontrolle über Gazprom Deutschland übernommen. Außerdem plant Deutschland aufgrund der massenhaften Probleme bei der Sanktionierung von Oligarchen ein Sanktionsdurchsetzungsgesetz, um rechtliche Grundlagen auszuweiten. Wie weit das Gesetz gehen wird, ist noch unklar.
Klar ist hingegen, dass die Sanktionen nicht nur auf praktischer Ebene scheitern, sondern auch auf politischer Ebene. Während Sanktionen gegen juristische Personen aufgrund zu klärender Eigentumsverhältnisse schlecht skalierbar sind, sind Sanktionen gegen natürliche Personen skalierbar, da bei Finanzvermögen die Banken zur Umsetzung verpflichtet sind und diese digitaler arbeiten als regionale Verwaltungen. Etliche weitere Hebel bleiben außerdem noch ungenutzt, wie zum Beispiel die Besteuerung von Oligarchenvermögen oder die Prüfung, ob diese Vermögen aus legaler Quelle stammen. Für die praktische Umsetzung bieten sich noch etliche weitere Vorschläge, angefangen bei der besseren Personalausstattung bis hin zu transparenten Offenlegungsregeln und dem Ausbau unterschiedlicher Register zur Vermögensverfolgung. Daneben wird zum Beispiel auch ein Strafzoll auf Energie-Importe aus Russland diskutiert.
Auch bei den nicht-finanziellen Sanktionen ist noch Luft nach oben. So müsste der internationale Druck auf Länder erhöht werden, die mit Russland Handelsbeziehungen haben – insbesondere im Hinblick auf Rüstungsgüter. Genauso sollten auch Aneignungen der Infrastruktur als Sanktion begriffen werden. Kürzlich hat Habeck bei den Gasspeichern von Gazprom Germania eingegriffen, wo sich ein juristisches Fenster zur treuhänderischen Übernahme eröffnet hatte. Solche Möglichkeiten wären jedoch nicht nur bei den Gasspeichern sinnvoll, sondern bei allen Tochterunternehmen der russischen Energiewirtschaft. In einem zweiten Schritt könnte dann die Enteignung dieser Unternehmen erfolgen.
All diese Maßnahmen würden den Druck auf Putin erhöhen, aber weder die russische noch die deutsche Wirtschaft in die Krise stürzen. Damit dürfte man dem Verhandlungstisch und einer Vertragslösung näher kommen als durch die forcierte Auslösung einer russischen Wirtschaftskrise.
Je schneller die Klimawende vorangetrieben werden kann, desto stärker destabilisiert man Russlands Wirtschaft. Je geringer die Nachfrage nach Gas ist, desto geringer ist auch die Rubelnachfrage. Das schwächt die russische Wirtschaft mittelfristig.
Auch wenn man Habeck abnimmt, dass er alles in seiner Macht Stehende tut, ist sein politischer Handlungsspielraum, um den Verbrauch zu reduzieren, begrenzt. Er ist nun verantwortlich für die beschleunigte Klimawende und das Aufspüren von alternativen Gaslieferungen. Gleichzeitig koaliert er mit der FDP. Das Dilemma, das sich daraus ergibt, wird beim Tempolimit deutlich. Hier könnten auf einen Schlag auf 5 bis 7 Prozent der russischen Ölimporte verzichtet werden, aber die FDP stellt sich quer. Jede Klimaschutzmaßnahme und jeder Wechsel des Kaufpartners von Energie ist eine mehr oder minder starke Sanktion.
Die Klimawende ist auch für die wirtschaftlichen Folgen des Embargos entscheidend: In Deutschland werden Preissprünge, der Wirtschaftseinbruch und damit auch die sozialen Folgen milder ausfallen, wenn die Energiewende vollzogen wird. Mit fortschreitender Unabhängigkeit wird auch Russland geschwächt. Je weniger Gaslieferungen erfolgen, desto weniger Euro stehen den russischen Gasunternehmen zum Umtausch in Rubel zur Verfügung. In der Folge sinkt die Rubelnachfrage und die Währung wird unter sonst gleichen Umständen abgewertet – wenn sich andere Länder beteiligen umso mehr.
Moralische Argumente sind in der aktuellen Debatte in aller Regel absolut nachvollziehbar, bringen uns politisch aber nicht weiter. Dennoch wird vielerorts Moralismus vorgetragen. So befand Ex-Bundespräsident Joachim Gauck, man könne in diesen Tagen auch mal frieren für die Freiheit – ganz so, als könnten Einzelpersonen den Gesamtgasverbrauch beeinflussen. Der private Gasverbrauch betrug 2020 gerade einmal 30 Prozent. Ähnlich moralisch argumentiert VWL-Professor Rüdiger Bachmann, wenn er erklärt, dass man Griechenland in eine viel größere Krise geschickt habe und Deutschland sich nun zu fein sei, ein paar Prozente BIP-Abschlag hinzunehmen. Auch das falsche Verständnis von Staatsfinanzen, welches besagt, dass Deutschland Putins Krieg finanzieren würde, ist moralisch motiviert – es impliziert eine Mitschuld.
Es zeigt sich, dass die Debatte um ein Gasembargo unsachlich geführt wird und von einem falschen Individualismus, angeblicher Doppelmoral und fiktiver Schuldzuweisung angebtrieben wird. Dabei geht es um nicht weniger als um eine weitere heftige Wirtschaftskrise für Deutschland. Anstatt in falschen Individualismus oder übersteigerten Moralismus zu verfallen, sollten wir uns auf die sachlichen Fragen konzentrieren: Ab wann soll Deutschland kein Gas mehr aus Russland kaufen? Soll es jetzt passieren, wo noch 40 Prozent aus Russland kommen, oder erst zum Jahresende, wo vielleicht nur noch 20 Prozent aus Russland importiert werden? Dass Deutschland aus dem Gasimport aussteigen muss, ist unstrittig. Die Frage ist vielmehr wann, unter welchen Umständen und mit welchen Maßnahmen.
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Lukas Scholle ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundestag für Finanzpolitik und betreibt den Podcast Wirtschaftsfragen.
Lukas Scholle ist Volkswirt, Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Finanzpolitik im Deutschen Bundestag und Kolumnist beim Jacobin Magazin.