22. Juni 2022
Mit Gustavo Petro hat Kolumbien einen Linken zum Präsidenten gewählt – zum ersten Mal in der Geschichte. Nach Jahrzehnten der Unterdrückung ist dieser Sieg ein geschichtsträchtiger Wendepunkt für das Land und die gesamte lateinamerikanische Linke.
Der neu gewählte Präsident Gustavo Petro und die Vizepräsidentin Francia Marquez am Wahlabend in Bogota, 19. Juni 2022.
Mit dem Sieg von Kolumbiens linker Koalition Pacto Historico und ihrem Präsidentschaftskandidaten Gustavo Petro am letzten Sonntag endet die seit mehr als zwei Jahrhunderten andauernde formale Herrschaft der kolumbianischen Eliten. Petro und sein progressives Kabinett werden im August vereidigt werden. Auf seiner Agenda stehen die Umverteilung von Vermögen und eine ambitionierte Klimastrategie. Das vielleicht wichtigste Vorhaben der neuen Regierung ist aber die unverzügliche Umsetzung des Friedensabkommens mit der Guerillaorganisation FARC aus dem Jahr 2016, das die bisherige Regierung so gut wie aufgegeben hatte.
Der Pacto Historico wird sich gegen eine feindselige, vom Westen unterstützte Opposition im Kongress durchsetzen müssen – kein leichtes Unterfangen. Doch nach einem historisch starken Ergebnis bei den Parlamentswahlen im März muss die Koalition nur eine Handvoll progressiver Abgeordneter der traditionellen Parteien auf ihre Seite ziehen, um ihre ehrgeizigen politischen Ziele zu realisieren.
Auf dem Höhepunkt des Bürgerkriegs in den frühen 1960ern begannen einige Revolutionärinnen und Revolutionäre, die Idee eines Nueva Colombia, also einer zweiten Republik, voranzubringen, denn die erste hatte sich für die Mehrheit der Menschen im Land nicht ausgezahlt. Heute, nachdem Jahrzehnte der Kämpfe mindestens 300.000 Opfer forderten, scheint die Saat des Nueva Colombia endlich Früchte zu tragen. Ob sie auch tiefere Wurzeln schlägt, hängt von den Geschehnissen der nächsten vier Jahre ab. Das Projekt des Pacto Historico wird nur von Dauer sein, wenn seine Vorschläge auch vollumfänglich umgesetzt werden. Gleichzeitig muss die breite Mobilisierung der Massen anhalten und weiter für einen langfristigen strukturellen Wandel kämpfen.
Kolumbien ist nach Brasilien das Land mit der zweitgrößten Biodiversität auf der Welt. Etwa 35 Prozent der Landesfläche sind vom Amazonas-Regenwald bedeckt.
Es ist daher begrüßenswert, dass einer Strategie zum Umgang mit der weltweiten Klimakrise im Regierungsprogramm oberste Priorität eingeräumt wird. In den Mainstream-Medien wird diese Frage immer wieder kontrovers diskutiert, da extraktive Industrien viel Macht über das Land ausüben. Doch die linke Koalition verspricht nun einen »Wandel hin zu einer Produktivwirtschaft, die auf dem Respekt vor der Natur beruht und das ökonomische Modell, das auf reinem Extraktivismus aufbaut, hinter sich lässt.«
Anders als der rechte Gegenkandidat Rodolfo Hernández, der vage Versprechungen ähnlicher Art machte, legte Pacto Historico hierfür einen detaillierten Aktionsplan vor. Dieser sieht unter anderem vor, das Land territorial neu zu strukturieren und sich hierbei am Wasserversorgungssystem zu orientieren, um »ökologische Funktionen und die Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen zu harmonisieren«. Der Zugang zu sauberem und sicherem Trinkwasser ist eines der Themen, das viele Menschen in dem von Konflikten heimgesuchten Land am meisten bewegt. Extraktive Industrien haben heute ein Monopol auf die Flüsse, das sie nicht nur durch den Bau von Wasserkraftwerken missbrauchen, sondern auch durch die Entsorgung von Giftmüll in Gewässern.
Die neue linke Regierung verspricht, innerhalb von fünfzehn Jahren das Energiesystem umzubauen. Dieses Vorhaben umfasst verschiedene Maßnahmen, wie zum Beispiel die Gründung eines »Nationalen Instituts für Grüne Energiegewinnung« und substanzielle öffentliche Mittel für erneuerbare Energien. Entscheidend ist, dass in jedem Stadium dieser Projekte mehr demokratische Teilhabe ermöglicht werden soll, um die Macht der privaten Energiekonzerne über die Zukunft des Sektors zu brechen. Zum Beispiel soll die Indigene Gemeinschaft der Wayú in der Provinz Guajira damit beauftragt werden, den Wandel vom Kohleabbau hin zur Solarenergie zu gestalten.
Auch fordert das Programm der progressiven Regierung die Zusammenarbeit einer »großen amerikanischen Front gegen den Klimawandel«, ein Vorhaben, das die gesamte Region gegen den Extraktivismus und die weit verbreitete landwirtschaftliche Monokultur verbünden soll. Freihandelsabkommen mit dem Westen sollen so umgestaltet werden, dass der Handel fortan mit den umweltpolitischen Zielen im Einklang steht.
Diese Pläne sind ambitioniert, und ihre Umsetzung ist nur dann realistisch, wenn sowohl die Bevölkerung des Landes als auch ihre internationalen Verbündeten hinter ihnen stehen – und sich gegen die vorhersehbaren Angriffe einer geschwächten, aber immer noch mächtigen kapitalistischen Klasse zu wehren wissen.
Trotz seines offensichtlichen Reichtums an Ressourcen galt Kolumbien über Jahrzehnte nicht nur innerhalb Lateinamerikas, sondern weltweit als eines der ungleichsten Länder. Die herrschende Klasse und ihre internationalen Partner prahlten mit einem angeblichen »kolumbianischen Wunder«, was sie daran festmachten, dass Kolumbien ein erstaunlich hohes Wachstumstempo für ein so unterentwickeltes Land aufwies. Bei der Mehrheit der Bevölkerung kam davon jedoch nichts an. Normale Kolumbianerinnen und Kolumbianer aus der Arbeiterklasse müssen schon lange von Hungerlöhnen leben, sei es in der exportorientierten Landwirtschaft, in erbärmlichen Sweatshops, wo billige Textilien für westliche Märkte hergestellt werden, oder als Bergleute in den Kohleminen, die internationalen Konzernen gehören. Was für die nationale und internationale Bourgeoisie ein »Wunder« war, stellte sich für die Massen des Landes als Fluch heraus.
Die Pläne des Pacto Historico sind angesichts der Not, in der die große Mehrheit lebt, also alles andere als radikal. Die Strategie erwächst aus der Einsicht, dass das Land historisch gesehen stets als Rohstoffexporteur in den Weltmarkt integriert war, und die heimische verarbeitende Industrie keinerlei Schutz genoss. Um dagegen vorzugehen, schlägt das Programm des Pacto Historico eine nationale Allianz aus Privatsektor, informellem Sektor, der Zivilgesellschaft und dem Staat vor. Damit wird die Hoffnung verbunden, dass eine solcher landesweit koordinierter Umbau zu einer dynamischeren Wirtschaft führen könnte, welche den Interessen aller Kolumbianerinnen und Kolumbianer dient und nicht nur denen der Privatwirtschaft.
Ein spezifisches Beispiel hierfür ist der Vorschlag zur Nachverhandlung von Freihandelsabkommen mit den USA und Europa. Die neu gewählte progressive Regierung verspricht, diese Abkommen so umgestalten zu wollen, dass eine Entwicklung weg vom extraktiven, exportorientierten Modell (fokussiert auf Kohle, Erdöl und Monokulturen) und hin zu einer Weiterentwicklung der landwirtschaftlichen und industriellen Produktion und mehr Wertschöpfung im eigenen Land ermöglicht wird.
Außerdem soll die Ungleichheit durch eine dringend notwendige Bodenreform angegangenen werden, welche unter anderem die riesigen, unproduktiven Latifundien von Großgrundbesitzerinnen und -besitzern durch eine adäquate Besteuerung einem besseren Nutzen zuführen soll. Ländereien, die nicht produktiv oder für verschwenderische, extraktive Viehzucht genutzt werden, sollen Bauern zugänglich gemacht werden, um Lebensmittel für den lokalen Markt zu produzieren. Ebenso sollen diese Flächen für sogenannte agrosilvopastorale Systeme verwendet werden, bei denen land- und forstwirtschaftliche Methoden kombiniert werden. Der Plan, die Freihandelsabkommen mit dem Westen ebenso wie dem landwirtschaftlichen Sektor umzustrukturieren, zeigt einen plausiblen Weg auf, um die grassierende Ernährungsunsicherheit, unter der die Mehrheit im Land derzeit leidet, zu beheben.
Wie überall auf der Welt ist kapitalistische Ausbeutung in Kolumbien intrinsisch mit der Ordnung der Gesellschaft entlang rassistischer und patriarchaler Hierarchien verknüpft. Die strukturelle Gewalt der weißen Vorherrschaft und des Machismus lässt sich in Kolumbien bis in die Kolonialzeit zurückverfolgen. Nach der Unabhängigkeit wurde sie durch die Integration des Landes in das kapitalistische Weltsystem verstärkt. Die allgemein sehr ungleichen gesellschaftlichen Machtverhältnisse machen brutale Ausbeutung und Gewalt gegen bestimmte soziale Gruppen zu einer Alltagserscheinung und erlauben den Mächtigen, diese straflos zu begehen.
Wie niemand sonst steht die Vizepräsidentschaftskandidatin Francia Marquez, die seit ihren frühen Jugendjahren Aktivistin ist, für die Strategie des Pacto Historico gegen gesellschaftliche Unterdrückung. Marquez, die der historisch unterdrückten afrokolumbianischen Community angehörig ist, hat ihre politischen Erfahrungen auf der Straße gesammelt, Seite an Seite mit den Menschen, die vom Staat am meisten vernachlässigt wurden.
Konkret möchte der Pacto Historico historisch bedingte Ungleichheiten dadurch beheben, benachteiligten Gruppen Land für Produktions- und Wohnungszwecke zuzuteilen. Das ist besonders wichtig, da sich der gewaltsame Konflikt in Kolumbien in den letzten Jahren oft um Landrechte drehte.
Unter anderem sind finanziell gut ausgestattete Regierungsbehörden geplant, die von den Indigenen, Schwarzen und kleinbäuerlichen (campesino) Gemeinschaften selbst verwaltet werden sollen, sodass sie mehr Einfluss auf den politischen Prozess ausüben können. Bemerkenswert ist auch, dass das Programm des Pacto Historico fordert, »staatliche Strukturen proportional nach Bevölkerungsgruppe, Gebiet und Kultur zu besetzen«, um sicherzustellen, dass Indigene, Schwarze und campesino Gemeinschaften daran teilhaben, »das Schicksal der Nation mitzugestalten«. Diese Vorschläge reichen weit über die Art von symbolischem Fortschritt hinaus, der lediglich auf Vielfalt in Führungspositionen setzt, so wie es unter dem gegenwärtigen Neoliberalismus üblich ist. Stattdessen könnte eine echte Neuverteilung von Macht und Ressourcen stattfinden, die die strukturellen Wurzeln der Probleme tatsächlich angeht. Das Programm versteht diese Maßnahmen als Reparationsleistungen und erkennt an, dass rassifizierte Gemeinschaften strukturelle Gewalt erfahren haben.
Neben der rassistischen Unterdrückung, unter der in Kolumbien Millionen von Menschen leiden, ist die institutionalisierte Diskriminierung von und Gewalt gegen Frauen ebenso weit verbreitet, wobei Schwarze und Indigene Frauen am stärksten davon betroffen sind. Eine vor kurzem von Sheila Gruner und Charo Mina Rojas durchgeführte Studie legte dar, dass Schwarze und Indigene Frauen unter dem jahrzehntelangen kolumbianischen Bürgerkrieg überdurchschnittlich stark gelitten haben. Der Pacto Historico verspricht, dass »Frauen auf allen Ebenen und Bereichen der öffentlichen Verwaltung mindestens fünfzig Prozent der Positionen besetzen sollen; dies wird uns erlauben, uns mit größerem Nachdruck für den Wandel einzusetzen«. Neben anderen Projekten plant die linke Koalition ein »Nationales System für Sorgearbeit« einzuführen, um Frauen, die Tätigkeiten außerhalb des formalen Arbeitsmarkts verrichten, angemessen zu entlohnen. Teil davon bildet eine Grundeinkommensgarantie für alleinerziehende Mütter, die entweder keiner formalen Beschäftigung nachgehen oder in Arbeitsverhältnissen mit Niedriglöhnen tätig sind.
Die Umsetzung der ehrgeizigen Pläne des Pacto Historico wird ohne Zweifel mehr als Gustavo Petros vierjährige Amtszeit in Anspruch nehmen (Kolumbianische Präsidenten dürfen nicht zur Wiederwahl antreten). Wichtig wird sein, dass die Koalition zumindest einige ihrer Schlüsselvorhaben umsetzt und die Bevölkerung dazu inspiriert, ihre eigene langfristige Strategie des Wandels zu verfolgen, ganz gleich, wer die nächste Regierung stellt. Der formale Bruch mit zweihundert Jahren der bürgerlichen Herrschaft auf der höchsten Machtebene stellt an sich schon einen wichtigen Sieg dar, doch er muss in den kommenden Jahrzehnten durch eine revolutionäre Mobilisierung der Basis ergänzt werden. Die Region hat schon einige ähnliche Experimente hinter sich, es mangelt also nicht an Konzepten und Lektionen aus der Vergangenheit.
Konkret bedeutet dies, dass der Weg in die Zukunft mit Vorsicht beschritten werden muss. Es wäre ein Fehler, zu glauben, dass der Wahlsieg mehr ist als der Anfang eines langen Kampfes, doch leider ist dieser Fehler den Menschen in Lateinamerika schon oft passiert. Dies hat dazu geführt, dass die absolut essenziellen Traditionen der Massen- und Basisbewegungen – das wirksamste Mittel der Massen gegen die herrschende Klasse und ihre Gewalt – oft geschwächt wurden oder ganz in Vergessenheit gerieten.
Kolumbiens traditionelle wirtschaftliche und politische Eliten haben mit dieser Wahl eine erste Niederlage erlitten, aber sie werden zweifellos versuchen, ihre Macht in allen Lebensbereichen weiterhin rücksichtslos durchsetzen. Doch im Unterschied zur Vergangenheit haben die unterdrückten Klassen nun eine Chance, dieser Machtausübung etwas entgegenzusetzen, da sie sich staatliche Institutionen zunutze machen können. Die nächsten vier Jahre bieten die Möglichkeit, den Nährboden für das lang ersehnte Nueva Colombia zu bereiten und der großen Mehrheit im Land ein friedliches, demokratisches Zusammenleben unter materiell würdigen Bedingungen zu ermöglichen.
Wenn wir diese Perspektive auf Wandel weiter offen halten wollen, müssen wir wachsam bleiben. Es waren letztlich die unterdrückten Massen, die den Pacto Historico als Instrument für den Wiederaufbau des Landes geschaffen haben. Einfache Kolumbianerinnen und Kolumbianer sowie ihre internationalen Verbündeten müssen jetzt auf die Umsetzungung dieser Vorhaben drängen. Letztlich würde ein Erfolg dieses Projekts nicht nur der kolumbianischen Bevölkerung ein Leben in Würde ermöglichen, sondern einen Beitrag zu einer besseren Zukunft für die gesamte Menschheit leisten.
Carlos Cruz Mosquera ist Doktorand und Lehrbeauftragter an der Queen Mary University of London. Er forscht zum zivilgesellschafltichen Einfluss der Europäischen Union in Lateinamerika und ihrer Rolle bei der Aufrechterhaltung des neoliberalen Status quo.