11. November 2021
Lars Klingbeil soll neben Saskia Esken Chef der SPD werden. Die Parteilinke gibt sich selbst auf.
Steht hinter Olaf Scholz: Lars Klingbeil im Willy-Brandt-Haus in Berlin, 27. September 2021.
»Moin, hier ist Lars.« Lars Klingbeils Videobotschaft an seine Genossinnen und Genossen transportiert hanseatische Bodenständigkeit. Nach dem angekündigten Rückzug von Norbert Walter-Borjans vom Ko-Vorsitz der SPD wurde Klingbeil vom Parteivorstand einstimmig als dessen Nachfolger nominiert. Die Wahl auf dem Parteitag im Dezember ist nur noch eine Formalie. Er kündigt Großes an und beschwört dabei gleichzeitig die Geschlossenheit seiner bereits totgesagten Partei während des Bundestagswahlkampfs: »Ein Wahlerfolg reicht mir nicht.«
Die deutsche Medienlandschaft ist sich indes sicher, dass der bisherige Generalsekretär der richtige Mann für den Job ist: Der »smarte Seeheimer« (taz) gilt als geschickter Vermittler zwischen den Lagern. Sein Organisationstalent habe den Wahlsieg im September erst möglich gemacht. Nur ihm wird zugetraut, die Parteilinke Saskia Esken, deren vergleichsweise harmlose Äußerungen von der Presse regelmäßig skandalisiert werden, zu bändigen.
Klingbeil ist eine der interessanteren Figuren der deutschen Sozialdemokratie. Laut eigener Aussage war der Soldatensohn aus Munster in seiner Jugend Mitglied bei einer Antifa-Gruppe. Später machte er Karriere bei den Jusos. Verweise auf seine Zeit als Sänger in einer Rockband, seine Leidenschaft fürs Gitarrespielen und das berüchtigte Foto mit dem Piercing in der linken Augenbraue finden sich in beinahe jedem Portrait über den Seeheimer. So umweht den konservativen Shooting-Star zumindest ein Hauch von jugendlicher Rebellion.
Dabei war Klingbeils Parteikarriere alles andere als rebellisch: 2001, direkt nach dem Studium, wurde er Mitarbeiter im Wahlkreisbüro von Gerhard Schröder, dem er seinen Aufstieg zu verdanken hat. Die Freundschaft der beiden hält bis heute. Erst danach wurde er Vize-Chef der Jusos und zog 2005 als Nachrücker in den Bundestag ein. Anschließend verpasste er den Wiedereinzug, doch 2009 gelang ihm dann erneut der Sprung nach Berlin. Gefördert wurde er dabei von Peter Struck, einem weiteren Spitzenpolitiker der Schröder-Ära. 2017 unterstützte er Martin Schulz bei seiner Bewerbung um den Parteivorsitz. Nach der anschließenden Wahlschlappe machte Schulz ihn dann zum Generalsekretär. Wenn es eines gibt, das man über Lars Klingbeil mit Sicherheit sagen kann, dann dass er immer wusste, welche Bündnisse seiner persönlichen Karriere zuträglich sein würden.
Zuletzt war er als Generalsekretär der Hauptorganisator des diesjährigen Wahlkampfes, weshalb er den Sieg von Olaf Scholz auch als persönlichen Erfolg verbuchen kann. Dies dankt ihm nun auch die Parteilinke: Saskia Esken kann sich eine Doppelspitze mit ihm »sehr gut vorstellen«. Annika Klose, Ex-Chefin der Berliner Jusos und neues Mitglied des Bundestages, findet das designierte neue Duo »überzeugend« und selbst das Forum Demokratische Linke 21 lobt Klingbeil und Esken dafür, dass sie »erfolgreich Kampagnen organisieren können«.
Bei all der trauten Einigkeit vergisst man beinahe, dass diese Personalie keine ist, wie jede andere. Immerhin geht mit Norbert Walter-Borjans ein Vorsitzender, der gemeinsam mit Saskia Esken vor erst zwei Jahren gegen große Widerstände von den Jusos ins Amt gehievt wurde. Man wollte das selbstzerstörerische Erbe der Schröder-Ära endlich abwerfen, die Lethargie der großen Koalition hinter sich lassen und – so eine beliebte Formulierung – den alten Markenkern der SPD wieder entdecken: Soziale Gerechtigkeit, Umverteilung, Frieden, Solidarität. Sozialdemokratie eben.
Mit dem formalen Machtantritt Klingbeils ist dieses Projekt endgültig begraben worden. Um zu verstehen, warum der linke Flügel jeden Anspruch auf eine personelle und politische Führungsrolle in der Partei aufgegeben hat, muss man ins Jahr 2019 zurückblicken. Im Juni dieses Jahres trat Andrea Nahles vom Partei- und Fraktionsvorsitz zurück. Die SPD hatte bei der Europawahl im Mai gerade einmal 15,8 Prozent geholt. Fast 5 Punkte weniger als bei der desaströsen Bundestagswahl 2017. Die Jahre in der Großen Koalition hatten die Partei zermürbt. Die Parteilinke war frustriert, das konservative Establishment bemühte sich vor allem darum, möglichst viele Posten über die Pensionierungsgrenze zu retten. Nun war jedem klar: Wenn sich nichts ändert, würde die Partei nicht überleben. Der Niedergang der einst ruhmreichen sozialistischen Parteien in Frankreich und Griechenland lieferten ein anschauliches Beispiel für dieses Szenario.
Die Angst vor der totalen Bedeutungslosigkeit und die Unfähigkeit des Parteiapparats, mit ihr umzugehen, ermöglichte den Jusos im Bündnis mit anderen Linken, ihre Kampagne für eine linke Erneuerung zu starten. Kevin Kühnert galt in den Medien zu diesem Zeitpunkt schon längst als Enfant terrible der Sozialdemokratie. Den kalkulierten Aufschrei über seine Aussage, BMW am liebsten vergesellschaften zu wollen, hatte der damalige Juso-Vorsitzende geschickt genutzt, um zum öffentlich präsentesten Sozialdemokraten der Nation zu werden: Frech, links und provokativ, aber immer bereit, im entscheidenden Moment zu seriöser Realpolitik zurückzufinden.
Eine Linkswende gab es übrigens schon einmal bei den Jusos: Auf ihrem Kongress 1969 formierten sie sich von einer reinen Nachwuchsorganisation zu einem sozialistischen Richtungsverband innerhalb der SPD. Darauf wollten sich die Jusos fünfzig Jahre später zurückbesinnen und die Partei grundlegend reformieren. Eine Mitgliederbefragung erschien als probates Mittel für den notwendigen personellen Umbruch. Endlich sollte die Basis selbst entscheiden wer die SPD künftig führen soll. Die Cliquenwirtschaft in den Landes- und Bezirksverbänden, von denen die Delegierten auf den Parteitagen abhängen, wollte man so endlich umgehen können. Im Juni beschloss der Parteivorstand dieses Vorgehen, nicht zuletzt weil alle Lager wussten, dass die Glaubwürdigkeit der neuen Vorsitzenden davon abhing. 20.000 Mitglieder strömten in die Partei um die alte Tante SPD vor dem selbstverschuldeten Alterstod zu retten.
Mit prominenter Unterstützung der Jusos konnten sich schließlich Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans gegen Olaf Scholz und Klara Geywitz durchsetzen. Die altgediente Parteilinke um Hilde Mattheis und Dirk Hierschel konnte Kühnerts Unterstützung nicht gewinnen. Um das linke Lager nicht zu spalten, zog das Duo seine Nominierung zurück. Kühnert wiederum stieg durch das Bündnis von Esken und Walter-Borjans zum stellvertretenden Parteivorsitzenden auf.
Nach der euphorischen Aufbruchstimmung des Parteitages machte sich schnell Ernüchterung breit. Nachfragen von Journalistinnen und Journalisten, wann man denn mit dem Austritt aus der Großen Koalition rechnen könne, wurden von Esken, Walter-Borjans und Kühnert geschäftsmäßig abgebügelt. Man habe schließlich nie versprochen die Koalition sofort zu verlassen – ein entsprechender Antrag war auf dem Parteitag abgelehnt worden. Damit hatte die neue Führung zwar recht, doch politisch hatten diese Aussagen eine verhängnisvolle Signalwirkung. Schließlich wurden die neuen Vorsitzenden gerades deswegen gewählt, weil sie versprachen, nicht mehr länger um jeden Preis mitregieren zu wollen. Aus dem Neuanfang wurde ein Weiter-so.
Die Jusos sahen sich gerne als eine Art deutsche Momentum-Bewegung. Diese hatte 2015 dem neoliberalen Establishment der britischen Labour-Partei den Kampf angesagt und den Sozialisten Jeremy Corbyn zum Parteivorsitzenden gemacht. Was den Jusos fehlte, war eine Strategie, um die Konfrontation mit den konservativen SPD-Eliten der Schröder-Ära auch tatsächlich zu wagen. Das linke Trio bemühte sich schnell um Aussöhnung, denn einen wie auch immer gearteten Bruch wollte niemand riskieren. Die Angst, sich an innerparteilichen Konflikten zu verbrennen, war zu groß.
Die vielen neuen Mitglieder und ihr Tatendrang waren zwar noch da, aber nun da sie ihren Zweck erfüllt hatten, wusste niemand so recht etwas mit ihnen anzufangen. Weder gab es nennenswerte Initiativen um die jahrzehntelang gelähmte Parteibasis zu repolitisieren, noch den Willen oder gar ein Konzept, um den Machtkampf innerhalb der Partei auszufechten. Mit dem Aufstieg von Esken, Walter-Borjans und Kühnert in die Parteispitze hatte sich ein neues Bündnis im Machtzentrum der SPD gebildet, das den Konservativen lediglich soziale Minimalforderungen abverlangte und von den Linken im Gegenzug ungebrochene Loyalität einforderte.
Wie folgenlos der Parteitag von 2019 sein sollte, zeigte sich schließlich im August des folgenden Jahres als der Parteivorstand einstimmig Olaf Scholz zum Kanzlerkandidaten kürte. Scholz war als Generalsekretär unter Gerhard Schröder ein maßgeblicher Architekt der Agenda 2010. Zum Zeitpunkt seiner Nominierung war er mit Cum-Ex und Wirecard außerdem in zwei handfeste Wirtschaftsskandale verstrickt. Seine Rolle darin ist bis heute nicht vollständig aufgeklärt.
Wer einen parteiinternen Aufschrei erwartete, wurde enttäuscht. Die Jusos blieben ruhig. Ihr Bundesvorsitzender und die linke Parteispitze standen hinter Scholz’ Nominierung. Es ist kaum zu überschätzen, wie entscheidend die Rolle von Lars Klingbeil bei der Aushandlung dieser Allianz war. Esken und Walter-Borjans durften weiter als Parteivorsitzende agieren, doch die mächtigste Position – die des womöglich zukünftigen Bundeskanzlers – blieb dem Wunschkandidaten der Konservativen vorbehalten.
Nun ist es nicht so, als hätte es in diesem Aushandlungsprozess nicht auch gewisse Zugeständnisse an die Parteilinke gegeben: Die SPD setzte im Wahlkampf auf retro-sozialdemokratische Ästhetik, versprach die Abschaffung von Hartz IV zugunsten eines Bürgergeldes und sogar die Einführung einer Vermögenssteuer. Doch ein klares Bekenntnis zu einem Mitte-links-Bündnis gab es, wie zu erwarten, nicht: Ein solches wurde zwar zu keinem Zeitpunkt ausgeschlossen, aber Olaf Scholz ließ kaum eine Gelegenheit im Wahlkampf verstreichen, um seine politische Distanz zu einem solchen Projekt zu signalisieren.
Lars Klingbeil und Kevin Kühnert präsentierten sich zu dieser Zeit bereits in freundschaftlichen Posen auf Instagram. In geselligem Austausch diskutierten sie die »K-Frage« in einem gemeinsamen Podcast. Die harten politischen Konflikte der alten Flügelkämpfe wurden zu sportlichem Gerangel unter Freunden heruntergespielt.
Der Erfolg scheint dem neuen Zentrum recht zu geben. Scholz holte in einem Wahlkampf, der komplett auf seine Person zugeschnitten war, 25,7 Prozent und wird nun aller Voraussicht nach Kanzler einer Ampelkoalition werden. Seine Strategie, sich bewusst in die Kontinuität von Angela Merkel zu stellen, ging auf – nicht zuletzt weil die schiere Inkompetenz der politischen Konkurrenz den Kurs der SPD steigen ließ. Das katastrophale Abschneiden der Partei DIE LINKE machte jede Debatte über ein Mitte-links-Bündnis überflüssig.
Das Sondierungspapier der Ampel zeigt indes, was der Parteilinken abgerungen wurde, um den Burgfrieden zu wahren: Während sich die SPD mit einem 12-Euro-Mindestlohn brüstet, der ohnehin längst überfällig ist, hat die FDP erfolgreich die Einführung einer Vermögenssteuer verhindert und somit jede Hoffnung auf soziale Umverteilung zunichte gemacht. Auch die geplante Ausweitung der täglichen Arbeitszeit auf bis zu 13 Stunden kann die FDP für sich verbuchen. Auf Kapitalseite freut man sich darüber. Denn im Vergleich zur Flexibilisierung der Arbeitszeit und der Verhinderung der Vermögenssteuer fällt der ohnehin zu niedrige neue Mindestlohn kaum ins Gewicht.
Und die Jusos? Die stellen nun zum ersten Mal stolze 49 Abgeordnete der neuen Bundestagsfraktion – und schweigen. Die zahnlosen Appelle ihrer neuen Bundesvorsitzenden Jessica Rosenthal, die Jusos bei den Koalitionsverhandlungen mitreden zu lassen, hatten keine Auswirkungen auf politische Forderungen oder die interne Machtverteilung. Auch wenn die Jusos von der Presse regelmäßig als neuer Machtblock stilisiert werden, lässt sich das mit Blick auf die tatsächlichen Kräfteverhältnisse kaum sagen.
Mit Lars Klingbeil als Parteivorsitzenden der SPD endet jeder Anspruch der SPD-Linken, die Partei selbstbewusst in die Erneuerung zu führen. Klingbeil lässt sich von den Medien zurecht als derjenige feiern, der alle parteiinternen Konflikte erfolgreich abmoderiert und in die »Kompromissmaschine SPD« integriert hat. Insofern spielt es dann politisch auch keine Rolle mehr, ob ihm Kevin Kühnert als Generalsekretär folgt. Die Integration des linken Spitzenpersonals in das neue Machtzentrum lässt kaum noch Perspektiven auf eine Rückbesinnung der SPD auf ihre Wurzeln als Arbeiterpartei zu.
Wie erfolgreich die Partei damit in Zukunft sein wird, ist offen. Die Schwäche der politischen Konkurrenz kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es der SPD schon lange nicht mehr gelingt, ihre einstige proletarische Stammwählerschaft an sich zu binden. Für die gut ausgebildeten urbanen Mittelschichten bieten sich mit den Grünen und der FDP außerdem zwei sehr attraktive Alternativen.
Für die gesellschaftliche Linke ist die Selbstaufgabe der Linkswende eine Niederlage, denn sozialistische oder wenigstens linke gesellschaftliche Mehrheiten sind auf absehbare Zeit auf die SPD-Linke angewiesen. Solange diese aber der offenen Konfrontation mit dem neoliberalen Parteiestablishment ausweicht, und sich mit faulen Kompromissen und lukrativen Positionen für loyale Spitzenfunktionäre abspeisen lässt, wird auf sie kein Verlass sein.
Während der politischen Wende der DDR mahnte ein Plakat »Lasst euch nicht verWENDEn«. Diesen Rat hätten die Protagonisten der SPD-Linkswende vor zwei Jahren auch nötig gehabt. Nun kommt er zu spät.
Sascha Döring lebt in Berlin und arbeitet für die Linksfraktion im Bundestag.
Sascha Döring lebt in Berlin und arbeitet im Bereich politische Kommunikation.