08. Dezember 2022
Die zahnlose Identitätspolitik der letzten Jahre und das Erstarken der Rechten sind zwei Symptome derselben Krise.
Das Problem mit der Identitätspolitik ist also, dass sie vorgab, die Linke zu erneuern, tatsächlich aber vielmehr den Neoliberalismus erneuerte.
Eine EU-Kommissarin gratuliert einer Mussolini-Verehrerin zum Amtsantritt als Premierministerin, weil sie die erste Frau auf dem Posten ist. Ein Ex-Springer-Chef ist überzeugt, dass eine öffentlich-rechtliche Comic-Maus die Kinder dieses Landes in die Transsexualität zwingen will. Im Bundestag fordert ein Rechter eine »Willkommenskultur für ungeborene Kinder«. Die grotesken Kulturkämpfe unserer Gegenwart sind wie ein schmerzhaftes Schrillen, das von Jahr zu Jahr lauter wird. »Deutschland. Aber normal« – der AfD-Slogan zur Bundestagswahl bringt das Narrativ der Rechten in diesen Auseinandersetzungen auf den Punkt. Fleisch essen, Winnetou gucken und ohne Limit über die Autobahn heizen – all das muss gegen »woke« Eliten verteidigt werden.
Im Zentrum dieser Debatten stehen nicht politische oder wirtschaftliche Fragen, an denen sich die Sphäre der Politik einst in Links und Rechts spaltete, sondern Fragen des Lebensstils, die unter dem Schlagwort »Kultur« gefasst werden. Dass genau um solche Fragen gekämpft wird, ist an sich kein sonderlich neues Phänomen. Über Sexualität, Religion oder Kunstfreiheit wurde auch in den 1950er und 60er Jahren erbittert gestritten. Kaum jemand erinnert sich heute etwa an den katholischen Volkswartbund, der Bücher und Filme auf »unsittliche« Inhalte untersuchte und mit staatlichen Behörden zusammenarbeitete.
Aber vor dem Hintergrund des ökonomischen Wandels der letzten Jahre haben Kulturkämpfe eine neue Aggressivität angenommen. Während strukturelle Probleme wie wirtschaftliche Stagnation, Reallohnverluste, soziale Ungleichheit und die Zersetzung öffentlicher Infrastruktur in den letzten Jahren fortbestanden oder weiter eskalierten, rückten sie dagegen selten in den Fokus konfliktreicher politischer Debatten. Sie wurden stattdessen zum Gegenstand einer sonoren Problemverwaltung, die uns ein Trümmerfeld hinterlassen hat: Unsere sozialen Sicherungssysteme sind dysfunktional, die Armut ist auf einen tragischen Höchststand geklettert und spätestens mit der anhaltenden Inflation hat die Angst vorm Abstieg nun auch weite Teile der Mittelschicht erfasst.
Man könnte annehmen, dies hätte die Rückkehr kollektiver Verteilungskämpfe eingeläutet – und damit auch die Rückkehr der Linken. Doch der organisatorische Rahmen, in denen diese materiellen Auseinandersetzungen ausgefochten wurden, ist nach Dekaden neoliberaler Technokratie schwer lädiert. Die Konjunktur der sozialen Frage fällt in eine Zeit, in der sich der Eindruck verhärtet hat, die politische Linke bewege sich in luftigen Sphären: Sie würde selbstreferenzielle Nischenanliegen priorisieren, die weite Teile der Bevölkerung als nicht besonders drängend wahrnähmen. Die Rechte wiederum stößt gezielt immer wieder hyperventilierende Kulturkämpfe um solche Fragen an, um ein Trugbild heraufzubeschwören, wonach nur sie für die Belange der »normalen Leute« einstünde – und die Linke tappt jedes Mal wieder in die Falle und verschleißt sich in Debatten, die nur die Fremddarstellung ihrer politischen Gegner bestätigen. Diese kulturell und identitär übersättigten Auseinandersetzungen sind aber nicht die Ursache für die Abgeschlagenheit der Linken und die Neuformierung der Rechten. Sie sind das Symptom einer Linken, die verloren hat.
Angesichts dieser katastrophalen Lage raten viele Linke dazu, sich mit kulturellen Fragen nicht weiter aufzuhalten. Sie führten nur zu hitzigen Debatten, in denen es eigentlich um nichts ginge. Gleichzeitig ist der von rechten Medien und Parteien angeführte Kreuzzug gegen alles, was »woke« ist, nicht ohne Konsequenzen geblieben: Die Hasskriminalität gegen queere Menschen ist in Deutschland gestiegen, allein in Berlin hat sie sich in den Jahren 2014–21 verfünffacht. Und die krisengebeutelte AfD fährt mit ihrer Rückbesinnung auf den alten Kulturkampf – Tradition, Identität, Familie – wieder starke Ergebnisse an der Wahlurne ein.
Für die Selbstinszenierung der Partei als Fürsprecherin »der kleinen Leute«, die einer vermeintlich übermächtigen »woken« Elite von Globalisten mutig die Stirn bietet, eignen sich diese Fragen gerade deswegen so gut, weil Rechte diese Kulturkämpfe in der Vergangenheit tatsächlich verloren haben: Frauenquoten werden mittlerweile selbst von Konservativen eingefordert, unter einer CDU-Kanzlerin wurde die Ehe für alle eingeführt, die Sprache vieler Mainstream-Medien wurde gendergerecht, die Toiletten in staatlichen Museen genderneutral. Vieles, was einst zum Repertoire linker Szenen gehörte, ist Teil einer mehrheitsfähigen gesellschaftlichen Liberalisierung geworden. Verengt man den Blick auf diese eher lebensweltlichen Themen, übersieht man leicht, dass von einer tatsächlichen Gleichstellung der Geschlechter lange nicht gesprochen werden kann. Die Ungleichheiten haben sich auf anderen Ebenen stillschweigend fortgeschrieben. Deutschland rangiert im europäischen Vergleich auf Platz vier der Staaten mit den extremsten Lohnunterschieden zwischen den Geschlechtern. Frauen verdienen weniger, sie besitzen weniger und sie tragen die Hauptlast unbezahlter Sorgearbeit. Ohne materielle Bodenhaftung werden valide emanzipative Bestrebungen wie die Geschlechtergerechtigkeit zur Verhandlungsmasse in einem Kulturkampf zwischen Linksliberalen und Rechtskonservativen verzwergt.
Die Rechte macht den Kampf gegen diese emanzipativen Teilerfolge aber auch zur ideologischen Leitlinie ihres Angriffs auf das politische Establishment eines Systems, das der Bevölkerung keine Sicherheit mehr bieten kann. In der rechten Hetze gegen »Trans-Ideologie« und »Genderwahn« werden Fragen von Geschlecht und Sexualität immer wieder mit einer völkischen Globalisierungskritik verbunden. Die Anklage von Krisenerscheinungen der neoliberalen Globalisierung vermischt sich mit einem offen rechten Wertekanon zu einer neuen reaktionären Melange. Wenn etwa Björn Höcke gegen Transrechte und Schwangerschaftsabbrüche agitiert und von einem »Kampf gegen Mann und Frau« und einem »Angriff auf unsere Kinder« spricht, dann geht dieser Angriff seiner Meinung nach von einem »multinationalen Regenbogenimperium« aus, das nicht weniger als die »Zerstörung der Nation« bezwecke. Nur im Osten – in Russland, Ungarn und Serbien etwa – habe man sich der »globalen Einheitszivilisation« noch nicht unterworfen. Ein rechtsextremer Nationalismus wird hier einem globalisierten Liberalismus entgegengestellt. Diese Rhetorik verdreht LGBTQI-Rechte zum Gipfel einer extrem individualisierenden Kultur und frivolen Dekadenz spätkapitalistischer Gesellschaften, die die traditionellen Gemeinschaftsbande »zersetzen«. Angeführt werde das alles – wie zu erwarten – von den USA, die sämtliche »Altparteien« in ihrem Gefolge hätten.
Die anti-elitäre Rhetorik der Rechten richtet sich gegen eine »woke«, also kulturelle und nicht ökonomische Elite, weil ihnen das erlaubt, reale Problemlagen aufzugreifen und sie identitär umzudeuten. Die Globalisierung ging tatsächlich von den USA aus, sie hat auch tatsächlich dazu geführt, dass nationale Regierungen weniger souverän agieren können, und die großen Volksparteien haben sich ideologisch auch tatsächlich angeglichen und sind diesem Kurs gefolgt. Die verschärfte Standortkonkurrenz durch die Globalisierung hat viele Beschäftigte auch tatsächlich gesellschaftlicher Entsicherung ausgesetzt und sie demoralisiert. Nur haben weder LGBTQI-Rechte noch »Trans-Ideologie« irgendetwas damit zu tun. Doch genau darauf wird die Wut über Arbeitslosigkeit, Lohnverfall, Zeitarbeit und auch die gesunkene Anerkennung vieler Tätigkeiten umgelenkt. Die Verantwortung dafür, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt an den Spätfolgen des globalisierten Neoliberalismus zerbröckelt, wird so auf den kulturellen Fremdeinfluss eines globalen »queeren Imperiums« projiziert. Das hat für die Rechten außerdem den Vorteil, dass sie lediglich ein Gefühl kultureller Entfremdung bestärken und kein Gegenprogramm anbieten müssen, das mehr soziale und ökonomische Absicherung gewährleisten würde.
Man könnte nun anmerken, die aufgeheizten Kulturkämpfe hätten zumindest die Politik zurück ins kollektive Bewusstsein gerückt. Das Problem dabei ist nur: Wenn politische Fragen immer weiter kulturalisiert werden, vollzieht sich eine Polarisierung entlang kultureller Differenzen, anstatt entlang der Klassengegensätze. Von links kann man hier wenig gewinnen – von rechts aber umso mehr.
Die Dominanz von Kulturkämpfen lässt sich ohne die politische Entkernung, die sich in den 1990ern und 2000er Jahren vollzog, kaum verstehen. Mit der neoliberalen Deregulierung versuchte man bekanntermaßen der Stagnation, Inflation und steigenden Arbeitslosigkeit im Kapitalismus entgegenzuwirken. Diese Offensive sollte alles offener, responsiver und natürlich weniger bürokratisch machen. Die Umsetzung des Neoliberalismus wurde in einen ideologischen Rahmen gebettet, der vorgab, den Markt gewissermaßen einem sozialen Zweck zuzuführen. Es sollte gesellschaftlich nach vorn gehen. Mit dieser neoliberalen Agenda trat der Kapitalismus in eine Phase »regressiver Modernisierung«, wie es der Soziologe Oliver Nachtwey auf den Begriff gebracht hat. An der Agenda 2010 zeigt sich das besonders drastisch, da sie den Arbeitsmarkt tatsächlich öffnete und mehr Frauen und mehr Migranten integrierte, gleichzeitig aber die Tarifbindung senkte, die Tarifflucht verstärkte und die Niedriglohnquote explodieren ließ. Der Neoliberalismus lässt sich daher als eine Ära beschreiben, in der die Opposition der arbeitenden Klasse so weit entwaffnet wurde, dass sie ihren disziplinierenden und demokratisierenden Effekt auf die Wirtschaft zunehmend verlor.
»Als etwa die AfD 2017 in den Bundestag einzog, wurde einerseits in flammenden Reden immer wieder betont, dass nun zum ersten Mal seit 1945 wieder Faschisten im Parlament saßen, die man dann andererseits auf Großdemonstrationen wahlweise ›wegbassen‹ oder ›wegglitzern‹ wollte.«
Der vielleicht größte ideologische Erfolg des Neoliberalismus bestand darin, die Vorstellung zu etablieren, dass es in wettbewerbsorientierten Gesellschaften keine Klassen mehr gäbe. Das einzige, was dem Aufstieg durch Leistung im Weg stehe, seien sexistische, rassistische oder homophobe Vorurteile. Diese sollten im Sinne der Chancengleichheit abgebaut werden, damit auch einstmals Ausgeschlossene vereinzelt mit am Tisch sitzen dürften – mehr Stühle wollte man allerdings nicht bereitstellen. Während die Gesellschaft einerseits horizontal inklusiver wurde und einzelne Gruppen durchaus emanzipative Fortschritte errangen, wurde gleichzeitig ein Klassenkonflikt in neuer Härte ausgetragen, für den man nun keine Worte mehr fand.
Die Erzählung, nach der sich unsere Gesellschaft nicht entlang der Klassengrenzen, sondern entlang diffuser Linien von Identität, Lebensstil, Kultur und Wertvorstellungen fragmentiert, begann den politischen Diskurs zu dominieren. Diese Vorstellung der Gesellschaft war auch anschlussfähig für eine Spielart linker Kritik, die inzwischen mit dem Reizwort der Identitätspolitik besetzt ist. Diejenigen, die heute zur Ehrenrettung dieser Strömung antreten, beschreiben die Integration der Identitätspolitik in den Neoliberalismus als eine Art feindliche ideologische Landnahme. Der Spätkapitalismus sei so expansiv geworden, dass er irgendwann alles vereinnahmt habe, selbst seine eigene Opposition.
Naheliegender ist jedoch, dass eine Politik, die lieber über Identität als über Klasse spricht, in einem System, in dem Macht auf Kapital gründet, schlichtweg nicht oppositionsfähig war. Die neoliberale Besetzung erfolgte so reibungslos, weil die Identitätspolitik die subjektive, individuelle Erfahrung favorisierte, was mit der sozialen Atomisierung dieser Zeit leicht in Einklang zu bringen war. Mag man die Identitätspolitik auch falsch finden, ihre Anziehungskraft ist dennoch nachvollziehbar: Wenn sich der politische Raum für eine gesamtgesellschaftliche Emanzipation immer weiter verengt und man die Hoffnung darauf gar nicht erst in Erwägung zieht, will man sich zumindest noch selbst befreien.
»Es hat nicht zu viel kulturellen Fortschritt gegeben, sondern zu wenig sozialen.«
Das Problem mit der Identitätspolitik ist also, dass sie vorgab, die Linke zu erneuern, tatsächlich aber vielmehr den Neoliberalismus erneuerte. Als in einer Zeit der Wachstumskrisen die alten Verteilungskämpfe zurückkehrten, die Zweifel an dem pseudo-progressiven Aufstiegsversprechen hätten wecken können, konnte der Neoliberalismus seine Legitimität verteidigen. Denn er hatte mit der Identitätspolitik eine progressiv auftretende Komplizin an seiner Seite, die dafür einstand, klassenbasierte Antworten auf die grassierende Ungleichheit kapitalistischer Gesellschaften als überkommen, verstaubt und zu »orthodox« abzukanzeln. Stattdessen wurde punktuell ein bisschen kulturelle Liberalisierung zugesichert.
Das Schlagwort der Politisierung des Privaten verwies ursprünglich auf die Eigenart des Kapitalismus, gesellschaftliche Probleme, die er selbst produziert, auf das Individuum zu verlagern. Es ging darum, zu verdeutlichen, dass es eben nicht dem persönlichen Versagen geschuldet ist, wenn man zu denjenigen gehört, die eher schwerere Arbeit zu schlechteren Löhnen verrichten, oder zu denjenigen, die eher von der Staatsgewalt gegängelt werden, oder zu denjenigen, denen der Chef eher mal die Hand aufs Knie legt. Die Identitätspolitik in ihrer heutigen, selbstbezogenen Form hat hingegen zu einer Personalisierung des Politischen geführt: Wie man spricht, was man isst oder wie man sich kleidet, rückte vor ins Arsenal des politischen Ausdrucks.
In der Folge wurde die Bevölkerung entlang ihrer kulturellen Präferenzen gruppiert anstatt auf Basis ihrer gemeinsamen materiellen Interessen, die diese individuellen Unterschiede hätten überbrücken können. Der Frust über das, »was in der Welt passiert«, fand zunehmend Ausdruck in performativen Gesten, die Unterschiede in Fragen des Geschmacks und des Lebensstils zum Gegenstand der Politik machten. Eine Spätfolge davon ist eine seltsame Gleichzeitigkeit von Alarmismus und Verspieltheit. Als etwa die AfD 2017 in den Bundestag einzog, wurde einerseits in flammenden Reden immer wieder betont, dass nun zum ersten Mal seit 1945 wieder Faschisten im Parlament saßen, die man dann andererseits auf Großdemonstrationen wahlweise »wegbassen« oder »wegglitzern« wollte. Als 2016 mit Donald Trump ein offensiv misogyner rechter Immobilienmogul als Präsident ins Weiße Haus einzog, traf dies auf eine empörte feministische »Resistance«, deren Protestsymbol pinke Mützen mit Katzenöhrchen wurden.
Dass in der politischen Debatte der Kulturkampf den Klassenkampf verdrängte, hat in zweifacher Hinsicht zu großer Resignation geführt. Zum einen wurde Politik nicht mehr als das Mittel zur Transformation der Gesellschaft wahrgenommen. Man erwartete immer weniger von der Politik und zog sich daher in immer kleinere Gefechte zurück, weil zumindest diese noch gewinnbar erschienen. Da im Zuge dessen materielle Fragen im politischen Raum immer weniger artikuliert wurden, ließ das zum anderen insbesondere jene Menschen resignieren, für die diese Fragen prioritär sind – nämlich die unteren Klassen.
Man vernachlässigte also die Fragen, die für die Verbesserung der Lebensumstände der meisten Menschen ausschlaggebend sind und drängte sie damit aktiv in die politische Passivität. Als diese Menschen dann nicht mehr wählen gingen, erklärte man ihnen anschließend, sie seien desinteressiert und verdrossen – als sei ihre Abkehr von einer Politik, die ihnen nichts zu bieten hatte und die über sie hinwegregierte, anstatt sie zu repräsentieren, eine Art moralischer Makel oder ein Anzeichen kultureller Verwahrlosung.
Dieser moralisierende Ton zog sich fort, als mit der AfD eine politische Akteurin in Erscheinung trat, die aus dieser Repräsentationslücke Profit schlug. Anstatt die Rechten politisch zu bekämpfen, widmete man sich einer Art Stilkritik ihres Wähler-Milieus und ihrer Rhetorik. So wurde etwa gebetsmühlenartig betont, wie unterkomplex, wutgeladen und verroht ihre Ansprache sei. Dass die Verrohung unserer Verhältnisse die Grundlage dafür bildet, dass eine Partei ohne Programmatik überhaupt so rasant aufsteigen konnte – gerade im Osten und in den ehemaligen Industrieregionen –, darüber wurde hinweggeredet. Strukturelle Probleme, wie das Gefälle zwischen Ost und West oder zwischen Stadt und Land, wurden erneut zu einem hauptsächlich kulturellen Problem kleingeredet – die reaktionäre Revolte sei vor allem Ausdruck dessen, dass sich die Menschen in der Provinz von der Lebensweise in den Metropolen herabgewürdigt fühlten. Das Problem war allerdings nicht, dass es zu viel kulturellen Fortschritt gegeben hatte, sondern zu wenig sozialen.
Was wir gerade erleben, sind die Spätfolgen einer Neutralisierung politisch-ökonomischer Fragen, über die sich ein tosendes Diskursrauschen legt. Es sind Ängste vorm Abstieg, die den Rechten ihren Appeal geben. Sie werden nicht von den Abgehängten gewählt – die gehen schon lange gar nicht mehr wählen –, sondern von denen, die mit der nächsten Wirtschaftskrise abgehängt werden könnten. Das politische Impasse der letzten Jahrzehnte hat zu viele Verliererinnen und Verlierer produziert, weshalb sich unausweichlich eine Politisierung der Bevölkerung vollzieht – nur ist diese Politisierung bizarr und kulturell übersättigt. Die Rechten fokussieren sich auf die bescheidenen linksliberalen Erfolge kultureller Integration, um darüber hinweg zu täuschen, dass sie selbst von dem politischen Vakuum immens profitiert haben. Das politische Zentrum ist indessen nicht dazu imstande, die Verschiebung nach rechts wirksam aufzuhalten.
Die Entpolitisierung der letzten Jahrzehnte hat dazu geführt, dass mittlerweile fast alles zu »Kulturkämpfen« banalisiert werden kann. Daher reicht es jetzt auch nicht, einfach zu behaupten, dass wir uns wieder einer Brot-und-Butter-Klassenpolitik zuwenden müssen. Denn das Erstarken der politischen Rechten, das euphemistisch als »Polarisierung« bezeichnet wird, hat bewirkt, dass sie gerade bestimmt, was in den Diskursraum des Kulturkampfs fällt und was nicht. Wenn Kulturkonservative kurz vorm Nervenzusammenbruch stehen, weil die Meerjungfrau Arielle im neuen Multimillionen-Dollar-Blockbuster von einer Schwarzen gespielt wird, dann muss uns das nicht weiter kümmern. Wenn aber im selben Atemzug sämtliche Fragen des Rassismus oder Sexismus als kulturelle Nebensächlichkeiten abgetan werden, dann schon. Die Kulturalisierung des Politischen ist schließlich das Handwerkszeug der Rechten: Rassismus wird zu »Heimatliebe«, Sexismus zu »Familientreue« verklärt. Wir können uns diese Themen nicht nehmen lassen, nur weil sie von Rechten zu kulturellen Frivolitäten degradiert wurden.
Die Fragen danach, wer in unserer Gesellschaft besonders häufig von Armut betroffen ist, wer besonders häufig Gewalt ausgesetzt ist – ob in der eigenen Wohnung oder auf den Straßen durch die Polizei – sind nicht das Produkt kultureller Unterschiede. Und sie sind schon gar nicht partikularistische Nischenanliegen, die neben der »breiten Gesellschaft« existieren. Sie sind Teil davon.
Der Kampf gegen Sexismus oder Rassismus ist nicht von materiellen Fragen abzusondern. Es ist vielmehr so, dass wir diese Kämpfe nur gewinnen können, wenn wir uns ihren materiellen Härten zuwenden. Der Niedriglohnsektor ist in Deutschland – einer der reichsten Volkswirtschaften der Welt – heute größer als in Rumänien. Es gibt kaum einen Bereich unserer Wirtschaft, der so weiblich und so migrantisch besetzt ist wie dieser. Der rückschrittliche Fortschritt der Agenda-Jahre, deren Spätfolge die hohe Niedriglohnquote ist, ließe sich am effektivsten progressiv aufbrechen, indem man diesen Sektor trockenlegt.
Wenn wir als Linke wieder stärker werden und wir uns nicht länger von Rechten diktieren lassen wollen, was zum Kulturkampf trivialisiert wird und was nicht, dann müssen wir dieser politischen Banalisierung mit materiellen Forderungen begegnen, die verdeutlichen, warum diese Anliegen universalistisch und nicht partikular sind. Dazu reicht es nicht, nur zu deklarieren, dass uns die Missstände unserer Gesellschaft emotional betroffen machen oder wir selbst von ihnen betroffen sind. Wenn wir wollen, dass diese Realität irgendwann Vergangenheit ist, dann müssen wir uns fragen, welche Kämpfe uns den Weg in eine andere Zukunft ebnen und welche ihn versperren.
Astrid Zimmermann ist Managing Editor bei JACOBIN.