14. Mai 2025
Finanzminister, Vizekanzler, Fraktionschef – Lars Klingbeil hat die Macht zentralisiert. Unter seiner Führung verkommt die SPD zur Regierungsmaschine, die nur noch dem Machterhalt dient.
Die beiden Vorsitzenden der SPD: Während Esken ihren Rückzug ankündigt, hat Klingbeil zentrale Posten an sich gerissen.
Die Bundestagswahl vom 23. Februar 2025 markierte einen tiefen Einschnitt in der Geschichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Mit nur 16,4 Prozent erzielte die Partei ihr historisch schlechtestes Ergebnis seit 1887 und landete hinter Union und AfD auf dem dritten Platz. Laut Wahlforschung waren die Ursachen klar: massive Kompetenzverluste, eine schwache Kanzlerwahrnehmung von Olaf Scholz und eine generelle Unzufriedenheit mit der bisherigen Regierungsarbeit. Noch am Wahlabend forderten führende Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten personelle Konsequenzen und eine grundlegende Neuaufstellung – doch es kam anders.
Anstelle einer kollektiven Erneuerung folgte ein bemerkenswerter personeller und struktureller Umbau, vorangetrieben durch Lars Klingbeil. Der SPD-Vorsitzende nutzte das Machtvakuum, das durch das Wahldebakel entstanden war, um sich als zentraler Akteur neu zu positionieren: Finanzminister, Vizekanzler, Fraktionschef – in wenigen Wochen sicherte sich Klingbeil eine beispiellose Machtfülle.
Otto Kirchheimer beschrieb bereits in den 1960er Jahren die Erosion ideologischer Klarheit zugunsten strategischer Breitenwirkung bei sogenannten »catch-all parties«. Doch was die SPD derzeit erlebt, geht darüber hinaus. In Anlehnung an das Konzept der Kartellparteien zeigt sich eine Partei, die sich funktional um eine machtstrategisch agierende Elite zentriert. Ressourcenorientierung ersetzt Programmdebatten, Loyalität ersetzt innerparteiliche Pluralität.
Klingbeils kometenhafter Aufstieg nach dem Wahldesaster – ohne Mandat der Basis, aber getragen durch taktisches Geschick – kann als Beispiel für das gelten, was die Politologen Thomas Poguntke und Paul Webb als die »Präsidentialisierung der Politik« bezeichnen: Machtkonzentration, Personalisierung und die Umdeutung kollektiver Parteistrukturen in Führungszirkel. Der Begriff »Klingbeilisierung« beschreibt dabei mehr als Stil. Es geht um Strukturwandel: eine systematische Zentralisierung und Hierarchisierung innerparteilicher Prozesse.
»Dass viele sozialdemokratische Projekte unter Finanzierungsvorbehalt gestellt oder zugunsten konservativer Prioritäten fallengelassen wurden, ist kein Nebeneffekt, sondern Teil von Klingbeils Strategie.«
Ende Februar 2025 begannen die Sondierungsgespräche mit der Union. Trotz des miserablen Wahlergebnisses führte Klingbeil die Verhandlungen an – ein klares Signal: Wer Kontrolle über das Verhandlungsteam hat, formt die inhaltliche Ausrichtung. Die Entscheidung, in eine Große Koalition einzutreten, obwohl die SPD keine Führungsrolle beanspruchen konnte, ist ein klassischer Fall strategischer Machtsicherung.
Das Finanzministerium wurde zur Schaltzentrale dieser Strategie. Es erlaubt Klingbeil, Projekte zu genehmigen oder zu blockieren, politische Richtung zu steuern – und sich gleichzeitig als staatsmännische Figur zu profilieren. Dass viele sozialdemokratische Projekte unter Finanzierungsvorbehalt gestellt oder zugunsten konservativer Prioritäten fallengelassen wurden, ist kein Nebeneffekt, sondern Teil dieser Strategie.
Die SPD präsentierte sich in den Koalitionsverhandlungen als stabilisierender Faktor gegen eine drohende Koalition mit der AfD – ein Argument, das rational erscheint, aber inhaltlich entkernt: Regierungsfähigkeit wurde zur Selbstlegitimation. Was bleibt, ist eine Partei ohne programmatische Eigenkontur, aber mit formaler Regierungsmacht.
Der innerparteiliche Prozess verlief symptomatisch: Der Koalitionsvertrag wurde von den Mitgliedern zwar mit deutlicher Mehrheit angenommen, aber bei auffällig niedriger Beteiligung. Dies verweist auf einen dramatischen Legitimitätsverlust – die vielzitierte »Basis« wurde zur Statistin degradiert. In der Parteitheorie ein Lehrbuchfall für das »eherne Gesetz der Oligarchie«, um es mit Robert Michels zu sagen: Eliten dominieren Entscheidungsprozesse, während demokratische Teilhabe zur Fassade verkommt.
Die personelle Neuaufstellung – häufig als »The House of Lars« bezeichnet – brachte neue, jüngere, vielfach weibliche Gesichter in Spitzenämter. Doch statt pluraler Erneuerung entstand ein loyalistisch strukturierter Machtapparat. Kritiker sprechen von einer systematischen Schwächung innerparteilicher Kontrolle. Auch der Rückzug von Co-Parteichefin Saskia Esken wurde nicht debattiert, sondern politisch stillgelegt.
In Regionen wie Nordrhein-Westfalen wächst der Unmut. Der Vorwurf: Entscheidungen fielen im kleinen Zirkel, ambitionierte Parteikader würden bewusst marginalisiert. Der Führungsstil Klingbeils – diszipliniert, berechnend, strategisch – ist dabei nicht nur Ausdruck persönlicher Ambition, sondern steht sinnbildlich für den Umbau der SPD zur Regierungsmaschine.
»Der Führungsstil Klingbeils – diszipliniert, berechnend, strategisch – ist dabei nicht nur Ausdruck persönlicher Ambition, sondern steht sinnbildlich für den Umbau der SPD zur Regierungsmaschine.«
Die SPD ist unter Klingbeils Führung nicht nur Koalitionspartner der Union – sie wird zu deren funktionalem Mehrheitsbeschaffer. Die programmatische Unterscheidbarkeit verwischt. Statt eigener Visionen verkündet die SPD »verantwortungsvolle Kompromisse«. Eigene Initiativen werden unter Ressourcenvorbehalt gestellt, linke Positionen bewusst vermieden. Klingbeils regelmäßige Warnung vor einem Linksruck ist kein Zufall, sondern Ausdruck einer strategischen Positionierung im Zentrum der Macht – koste es, was es wolle.
In Anlehnung an Adam Przeworskis Analyse sozialdemokratischer Dilemmata stellt sich die Frage, was bleibt, wenn alle Unterschiede nivelliert sind. Die SPD – einst Trägerin gesellschaftlicher Fortschrittsideen – verzichtet auf politische Polarisierung und setzt auf technokratische Regierungsfähigkeit. Der Preis: Identitätsverlust, schwindende Mobilisierungskraft – und ein gefährlicher Beitrag zur Erosion politischer Alternativen.
Denn genau in dieser Lücke gedeiht die AfD. Je ähnlicher sich die etablierten Parteien im Zentrum präsentieren, desto plausibler erscheint die rechtspopulistische Erzählung vom »Einheitsblock«. Wenn ausgerechnet die älteste Volkspartei Deutschlands keine sichtbare Alternative mehr bietet, wird die AfD für viele zum vermeintlich letzten Ausdruck von Opposition.
Klingbeils Strategie – auf Stabilität, Effizienz und Elitenkonsens zu setzen – mag kurzfristig Regierung sichern. Langfristig jedoch könnte sie das demokratische Gefüge destabilisieren. Wenn politische Repräsentation zur Verwaltung und Debatte zur Simulation wird, droht ein wachsender Teil der Bevölkerung abzuwandern – nicht nur von der SPD, sondern vom demokratischen System selbst.
Die SPD unter Lars Klingbeil steht exemplarisch für eine neue Parteiform: nicht Volkspartei, nicht Programmpartei, sondern Funktionspartei. In ihr wird Macht nicht mehr als Mittel zur Umsetzung von Ideen verstanden, sondern als Selbstzweck.
Was sich politikwissenschaftlich als Transformation zur Kartellpartei analysieren lässt, wird praktisch zur Strategie der Selbsterhaltung: Kontrolle über Ämter, über Ressourcen, über Narrative. Doch diese Strategie trägt einen Preis. Die Partei verliert ihre Fähigkeit zur gesellschaftlichen Repräsentation, zur Konfliktartikulation, zur Innovation.
Für eine Partei, die einst Kohorten von Arbeitern, Intellektuellen und sozialen Bewegungen mobilisierte, ist das mehr als ein Kurswechsel – es ist ein Systembruch. Die Frage ist nicht mehr, ob die SPD wieder stärker wird. Die Frage ist, ob sie noch etwas anderes sein will als das, was sie derzeit ist: eine funktionale Projektionsfläche für Machtwahrung im postideologischen Zeitalter.
In dieser Konstellation ist es nicht ausgeschlossen, dass die Sozialdemokratie nicht durch äußere Gegner, sondern durch innere Selbstverwandlung verschwindet. Und mit ihr ein entscheidendes Gegengewicht, das für das Funktionieren pluralistischer Demokratie lange Zeit konstitutiv war.