02. November 2025
Die Wahl des Mitte-rechts-Kandidaten Rodrigo Paz Pereira in Bolivien markiert das Ende einer Ära. Während die linke MAS sich selbst zerstörte, sprach Paz die urbane Mittelschicht an, die durch die zwanzig Jahre sozialistischer Politik stark angewachsen ist.

Rodrigo Paz feiert seinen vorläufigen Sieg in der bolivianischen Präsidentschaftsstichwahl in der Hauptstadt Paz, 19. Oktober 2025.
Die Stichwahlen in Bolivien am 19. Oktober waren mehr als nur ein Sieg für den neuen Präsidenten Rodrigo Paz Pereira: Sie waren der letzte Nagel im Sarg der fast zwanzigjährigen Herrschaft einer indigen-linken Allianz. Der Christdemokrat Paz profitierte vor allem von seinem populären Mitstreiter, dem Ex-Polizisten Edman Lara. In der Stichwahl besiegte Paz den rechtsradikalen Kandidaten Jorge »Tuto« Quiroga recht deutlich mit 9 Prozentpunkten Vorsprung.
Paz’ Werben für einen »Kapitalismus für alle« fand in einem Land, das von der weltweit größten informellen Wirtschaft dominiert wird, großen Anklang. Schon während der 14-jährigen Amtszeit des indigenen Arbeiterführers Evo Morales hatte es kaum eine Debatte über den Sozialismus an sich gegeben. Der überzeugte Marxist und vormalige Vizepräsident Álvaro García Linera propagierte einen von ihm so bezeichneten »Anden-Amazonas-Kapitalismus«. Dieser sei seiner Ansicht nach an die Realität des Landes ohne eine stark entwickelte Arbeiterklasse und Industriewirtschaft angepasst. Stattdessen konzentrierte sich die linke Ex-Regierungspartei, die Bewegung zum Sozialismus (Movimiento al Socialismo, MAS), auf die Entwicklung eines starken Staates, der in der Lage ist, im Namen des bolivianischen Volkes erfolgreich mit dem Privatkapital zu verhandeln.
»Als Evo Morales sein Amt antrat, strebten die indigenen Völker nach Anerkennung durch den Staat. Jetzt sind sie mehr daran interessiert, Unterstützung für ihre unternehmerischen Aktivitäten zu erhalten«, fasst Quya Reyna, eine 30-jährige Autorin aus der Volksgruppe der Aymara, zusammen. »Ihre Interessen haben sich von sozialen zu wirtschaftlichen Aspekten verschoben. Deswegen finden sie jetzt eher eine [politische] Heimat bei den Rechten.« Vor dem Hintergrund der deutlich gewachsenen sozialen und ökonomischen Mobilität, die unter der MAS-Regierung geschaffen wurde, stellte die Wahl von Paz für viele eine strategische Entscheidung dar: Die Menschen wollten vermeiden, die unter den MAS-Regierungen für sie erreichten Fortschritte wieder zu verlieren.
Paz präsentiert sich als populistischer Außenseiter, ist aber eng mit der traditionell weißen Führungselite Boliviens verbandelt. Der ehemalige Bürgermeister der südbolivianischen Stadt Tarija und amtierende Senator ist der Sohn eines Präsidenten und der Großneffe eines anderen, der zweimal im Amt war. In dem am stärksten von Indigenen geprägten Land Amerikas signalisiert seine Wahl die Rückkehr der »weißen Vormacht«, die Bolivien bis zur Regierung Morales dominiert hatte.
»Der Untergang der MAS wurde während der ersten Wahlrunde im August deutlich, als die Partei von einer Mehrheit im Parlament auf nur noch einen Sitz zurückgestutzt wurde.«
Trotz dieser Vorgeschichte gewann Paz auch Unterstützung bei Organisationen der bolivianischen Arbeiterklasse wie Bergbaukooperativen und Lkw-Fahrergewerkschaften, die einst Teil der MAS waren. Diese Unterstützung ist vor allem Paz’ Mitstreiter Lara zu verdanken, einem landesweit bekannten TikTok-Star, der wegen seiner scharfen Korruptionskritik aus dem Polizeidienst entlassen wurde (und aktuell vor allem mit seinen autoritären Neigungen auffällt).
Allerdings sind nicht alle Arbeiterinnen und Arbeiter vom Team Paz/Lara begeistert: An einer belebten Straßenecke in der Hauptstadt La Paz verkauft Mauricio Mamani Pokara seit seinem siebten Lebensjahr Zeitungen. Auf die Frage, ob er den Christdemokraten Paz oder den rechtsradikalen Tuto als neuen Präsidenten bevorzugen würde, antwortet er mit einem spöttischen Lachen und einem entschiedenen »weder noch«. Warum? »Nachdem sich die MAS selbst zerstört hat, haben wir keine andere Möglichkeit, als das kleinere Übel zu wählen. Wo bleiben da die Armen in diesem Land? Wir stehen wieder dort, wo wir vor der MAS waren.« Seine Meinung dürfte von vielen bolivianischen Arbeiterinnen und Arbeitern geteilt werden, die das Gefühl hatten, bei dieser Wahl keine Partei und keinen Kandidaten zu haben, die ihre Interessen vertreten.
Der Untergang der MAS wurde während der ersten Wahlrunde im August deutlich, als die Partei – die mächtigste politische Kraft der vergangenen 50 Jahre – von einer Mehrheit im Parlament auf nur noch einen Sitz zurückgestutzt wurde. »Wir waren schockiert«, erklärt Freddy Condo, ehemaliger Berater von diversen sozialen Bewegungen, die mit der MAS zusammenarbeiten. »Wir werden mindestens ein Jahr brauchen, um das Geschehene zu verarbeiten und neue Strategien zu entwickeln.«
Auslöser für den verheerenden Rückschlag war die Wut der Bevölkerung auf die amtierende MAS-Regierung unter Führung des Ökonomen Luis Arce. Seine Regierung war für eine tiefgreifende und sich verschärfende Wirtschaftskrise verantwortlich, getrieben von steigenden Preisen, Treibstoffknappheit und einen Mangel an US-Dollar.
Die Unterstützung für die MAS bröckelte auch aufgrund der sich stetig verschärfenden internen Machtkämpfe zwischen Präsident Arce und seinem Vorgänger Morales. Infolge des Streits traten bei den Wahlen im August sogar drei verschiedene MAS-Fraktionen gegeneinander an. Die MAS war einst als politisches Instrument ländlicher Gewerkschaftsorganisationen angetreten und hatte sich nach ihrer Machtübernahme zur »Regierung der sozialen Bewegungen« erklärt. Das Fehlen klassisch-institutioneller Parteistrukturen beschleunigt nun ihren Zerfallsprozess.
Die drei Fraktionen kämpften um die Stimmen einer Bevölkerung, die sich zunehmend desillusioniert von dem von der MAS angeführten Veränderungsprozess zeigt. »Die MAS konnte zehn Jahre lang entsprechend ihren politischen Verpflichtungen und Überzeugungen regieren«, so Condo. Doch nach 2016 sei die Partei »durch Individualismus, Eigeninteresse und Korruption entstellt« worden.
2016 verlor Morales ein Referendum, das ihm eine erneute Präsidentschaftskandidatur ermöglicht hätte. Als Morales’ Verbündete im Verfassungsgericht entschieden, er könne trotzdem ein weiteres Mal kandidieren, verstärkte sich die Unzufriedenheit mit der MAS, insbesondere in der urbanen Mittelschicht. So wurden erste Voraussetzungen für den rechten Putsch von 2019 geschaffen.
Die Streits innerhalb der MAS nahmen nach ihrer Rückkehr an die Macht (und der Rückkehr des Landes zur Demokratie) mit dem Wahlsieg von Morales’ früherem Wirtschaftsminister Arce im Jahr 2020 zu. Zum Hintergrund: Arce hatte in seiner Rolle als Minister für einen ökonomischen Rohstoffboom gesorgt, mit dem die Programme der MAS finanziert werden konnte, und galt daher als guter Verwaltungsfachmann. Ein Jahr nach dem Putsch, durch den Morales gestürzt worden war, erhielt er 55 Prozent der Stimmen und wurde Präsident. Morales sah Arce als Übergangskandidaten, der lediglich eine Amtszeit absolvieren und Morales den Weg für eine erneute Kandidatur bei den nächsten Wahlen 2025 ebnen würde. Doch Arce und sein Vizepräsident David Choquehuanca hatten ihre eigenen Vorstellungen.
»Mit ihrem bemerkenswerten Zerfall hat die einst hegemoniale MAS es ›geschafft‹, einen demokratischen Machtwechsel einzuleiten – auch wenn dies auf Kosten der Partei ging.«
Der Streit führte zu einer Spaltung innerhalb der MAS und wurde immer erbitterter ausgetragen. Dieser alles verzehrende Kampf führte dazu, dass die MAS es versäumte, auf bedeutende gesellschaftliche Veränderungen zu reagieren, zu deren Entstehung ihre Politik nicht unerheblich beigetragen hatte. »Da sich die unterschiedlichen Fraktionen in der MAS darauf konzentrierten, sich gegenseitig zu zerstören, gelang es der Rechten, erfolgreich das Narrativ zu konstruieren, dass die vergangenen zwanzig Jahre ein Misserfolg gewesen seien«, sagt der ehemalige Vizeminister für Planung, Alberto Borda.
So gingen viele der einstigen MAS-Stimmen bei den Wahlen 2025 an Paz und Lara. Der Politikwissenschaftler Fernando Mayorga hat errechnet, dass rund 30 Prozent der Stimmen bei jeder Wahl in Bolivien an linke und indigene Kandidatinnen und Kandidaten gehen. »Weitere 20 Prozent [der Wähler] haben in guten Zeiten für die MAS gestimmt, sich bei der jetzigen Wahl jedoch für Paz und Lara entschieden«, erklärt er.
Die Wählerwanderung zu Paz ist zum großen Teil seiner Zusage geschuldet, er werde die von der MAS eingeführten Sozialprogramme beibehalten. Diese haben zu einer signifikanten Verringerung der Armut und der Einkommensungleichheit sowie zu einem Anwachsen der Mittelschicht geführt. Paz gab außerdem das fast schon obligatorische Wahlversprechen, Bestechung und Vetternwirtschaft zu bekämpfen; und er hat gelobt, es der MAS-Regierung gleichzutun und Rettungskredite des Internationalen Währungsfonds abzulehnen. Ob er letzteres Wahlversprechen tatsächlich einhält, darf angezweifelt werden.
Paz hat darüber hinaus angedeutet, dass der Wiederaufbau der Beziehungen zu den USA eine Priorität sein wird. Vor 17 Jahren hatte die Regierung von Morales US-Beamte wegen Einmischung in die inneren Angelegenheiten Boliviens des Landes verwiesen: Nachdem er 2008 zunächst Botschafter Philip Goldberg und die Drug Enforcement Agency (DEA) ausgewiesen hatte, schmiss Morales 2013 auch die US Agency for International Development (USAID) raus, da diese größtenteils als Instrument der US-amerikanischen Koka-Bekämpfungspolitik diente.
Die seit Jahren leerstehende, festungsähnliche US-Botschaft in La Paz könnte also bald wieder bewohnt werden. Der Arbeitsschwerpunkt des oder der nächsten US-Botschafterin wird wahrscheinlich wieder derselbe sein wie der der US-Beamten in Bolivien seit den 1980er Jahren: der Kampf gegen Koka, einem wesentlichen Bestandteil der Kokainherstellung. Eine Bedingung für die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen könnte die erneute Zulassung der US-amerikanischen DEA in Bolivien sein. So könnte die klassische US-Drogenpolitik in Lateinamerika wiederaufleben, die in den 1990er Jahren mit Menschenrechtsverletzungen und politischer Instabilität einherging.
Mit ihrem bemerkenswerten Zerfall hat die einst hegemoniale MAS es »geschafft«, einen demokratischen Machtwechsel einzuleiten – auch wenn dies auf Kosten der Partei ging. »In der Vergangenheit führten die politischen Parteien die Geschäfte mit viel stärkerer Hand«, so Mayorga. In Bolivien gebe es selbst angesichts der Wahlpflicht eine hohe Wahlbeteiligung, was seiner Meinung nach zeige, »dass die Menschen fest an die Demokratie glauben und daran, dass sie durch Wahlen den Kurs des Landes ändern können«.
Eine der Ursachen der aktuellen Wirtschaftskrise ist Boliviens tief verwurzelte Abhängigkeit vom Rohstoffabbau. An diesem Muster wurde auch während der fast zwei Jahrzehnte währenden Herrschaft der MAS nicht gerüttelt. Vielmehr haben neue Technologien und die steigende Nachfrage aus China die Ausbeutung der reichhaltigen natürlichen Ressourcen des Landes noch verstärkt, insbesondere beim umweltschädlichen Goldabbau und in der industriellen Sojaproduktion. Die Abholzung der Wälder für Soja – das größte Agrarexportgut Boliviens – beschleunigt sich rapide und hat alarmierende Ausmaße erreicht.
Der Rückgang der Rohstoffpreise und der Erdgasreserven, die katastrophal niedrigen internationalen Finanzreserven und insbesondere der Mangel an US-Dollar haben derweil zu einem Anstieg der Preise für Grundnahrungsmittel im Land selbst geführt. »In den Dörfern hier in der Umgebung essen die Menschen nur noch zwei Mahlzeiten am Tag, weil die Lebensmittelpreise derart in die Höhe geschossen sind«, berichtet Alvaro Rodriguez, ein Student aus Sacaba, einer Stadt östlich von Cochabamba.
Nachdem die MAS 2006 die Regierung übernommen hatte, musste sie die Probleme eines historisch schwachen Staates angehen, dem es an grundlegenden Verwaltungskapazitäten mangelte. Die Partei baute den Staat erheblich aus, aber es gab nach wie vor viel Vetternwirtschaft. Zeitgleich wurden die mächtigen sozialen Bewegungen Boliviens in die Regierungsstrukturen integriert. Dies führte dazu, dass sie zunehmend ihre Unabhängigkeit vom Staat verloren.
»Tatsächlich waren radikale gesellschaftliche Veränderungen in Bolivien häufig das Ergebnis von größeren Bündnissen zwischen der Arbeiterklasse und der indigenen Bevölkerung mit Teilen der Mittelschicht.«
Insbesondere in städtischen Gebieten »schuf die Entpolitisierung der Armen und der Arbeiterklasse Raum für die Rechte, zunehmend die vorherrschenden Narrative zu prägen«, erklärt Andrés Huanca, der als Kandidat für eine MAS-Fraktion unter der Führung des jungen Gewerkschaftsführers und Senatspräsidenten Andrónico Rodríguez bei den jüngsten Wahlen antrat. Dieser Prozess werde durch den wachsenden Individualismus beschleunigt, während der historische Einfluss des Kollektivismus in Kommunen und Gewerkschaften stark zurückgedrängt wurde.
Der Individualismus erlebt unter anderem dank zwanzig Jahren Neoliberalismus einen Aufschwung. Er wurde aber durch die Entvölkerung ländlicher Gebiete aufgrund der Abwanderung in die Städte verstärkt; meist blieben nur ältere Menschen zurück. Junge indigene Menschen, die zunehmend ihre indigene Sprache und Kultur verlieren, kehren heute oft nur noch zu Festen aufs Land zurück.
»Wir müssen uns in Zukunft von der derzeitigen Betonung des Individualismus und der Eigeninitiative lösen«, fordert daher die Feministin Carmen Nuñez. »Wir müssen uns stärker als Arbeiterinnen verstehen und uns besser als Arbeiterinnen organisieren. Dieser Prozess, bei dem die Verantwortung für die wirtschaftliche Entwicklung ständig auf den Einzelnen verlagert wird, hat die Arbeiterklasse in Richtung einer rechten Politik gedrängt.«
Bolivien ist heute ein überwiegend urban geprägtes Land. Die städtische Jugend, die dank der Errungenschaften der MAS in relativer ökonomischer Sicherheit aufgewachsen ist, hat nie die Armut oder die Kämpfe erlebt, die das Leben ihrer Eltern prägten. Huanca meint: »Wir brauchen progressive Diskurse, die sich an junge Menschen in den Städten richten. Die ländlichen Bewegungen, aus denen die MAS hervorgegangen ist, sind heute nicht nur weniger wichtig, sondern sie haben die urbanen Gebiete früher oft als kaum mehr als eine Quelle für zusätzliche Wahlstimmen behandelt.«
Eine besondere Stärke der MAS lag in ihrem betonten Willen, die indigene Bevölkerung stärker einzubeziehen und zu beteiligen. Es gab ein Bekenntnis zum »plurinationalen Staat«. Im Laufe der Zeit führten Schwierigkeiten bei der Umsetzung der plurinationalen Vision jedoch dazu, dass dieser Schwerpunkt eher symbolischen Charakter annahm. Mit zunehmender Urbanisierung des Landes verlor die Vorstellung, dass die indigene Bevölkerung eine gesellschaftliche Erneuerung anführen würde, ebenfalls an Bedeutung. Darüber hinaus waren indigene Regierungsvertreter in Korruptionsskandale verwickelt.
Tatsächlich waren radikale gesellschaftliche Veränderungen in Bolivien häufig das Ergebnis von größeren Bündnissen zwischen der Arbeiterklasse und der indigenen Bevölkerung mit Teilen der Mittelschicht. »Für die radikale Mittelschicht hat die Zugehörigkeit zu einer politischen Partei an Bedeutung verloren. Das hat unsere Fähigkeit geschwächt, uns gegen den Staatsapparat zu behaupten«, erklärt Nuñez.
»Evo ist nach wie vor eine Kraft, mit der man rechnen muss«, sagt der Mayorga. Nachdem ihm die erneute Kandidatur für das Präsidentenamt untersagt worden war, rief Morales für die Wahlen im August dazu auf, ungültige Stimmen abzugeben. Fast 19 Prozent der Bevölkerung folgten diesem Aufruf (normalerweise werden rund 4 Prozent der Stimmzettel für ungültig erklärt). Diese 19 Prozent sind fast doppelt so viel wie das beste Ergebnis der anderen linksgerichteten Kandidaten.
Dieses anhaltende Vertrauen rührt von der alles überragenden Rolle her, die Morales bei der Transformation des Landes gespielt hat. Ein Großteil der Unterstützung kommt von den Armen, deren Leben seine Regierung zum Besseren verändert hat. »Sie schulden Evo ihr Leben lang Dankbarkeit«, so Mayorga.
Der Politikwissenschaftler führt weiter aus: »Er wurde aus dem Teil der MAS ausgeschlossen, der seit fünf Jahren an der Macht ist, ihm wurde wiederholt mit Verhaftung gedroht und er hat einen – seiner Meinung nach – Mordanschlag überlebt […] Er hat all das überwunden und erhält immer noch den größten Stimmanteil unter den Progressiven des Landes.«
»Der spektakuläre Zusammenbruch der MAS erfordert Aufarbeitung und eine Neubewertung der Lage. Dies wird Zeit in Anspruch nehmen.«
Doch Morales, der bereits über seine mögliche Kandidatur im Jahr 2030 spricht, kann nicht mehr die Rolle als Vermittler zwischen den verschiedenen Fraktionen der MAS und den Volksbewegungen spielen, die er einst innehatte. Er hat eine neue, noch nicht registrierte Partei namens EVO Pueblo (Estamos Volviendo Obedeciendo al Pueblo) gegründet, die bislang allerdings nur bei seinen treuesten Anhängern Unterstützung findet.
In vielen Teilen der Bevölkerung, insbesondere in der neu entstandenen Mittelschicht, stößt Morales heute hingegen auf Ablehnung. »Sie wollen nicht in die Armut zurückfallen und glauben, dass die MAS genau darauf zusteuert«, erklärt die Autorin Reyna. Der ehemalige Berater Condo fügt ein weiteres Problem hinzu: »In der Kultur der Aymara kann man nur einmal das höchste Amt bekleiden. Evo hat wiederholt gegen diese Regel verstoßen.«
Morales’ anhaltende Anziehungskraft, insbesondere bei den armen und bäuerlichen Bevölkerungsgruppen Boliviens, ist dennoch nicht zu übersehen. Der ehemalige Minister Borda sagt wehmütig: »Ein Führer wie Evo kommt nicht oft. Aber jetzt droht er, alles zu zerstören, was die MAS aufgebaut hat.«
Die linken und indigenen Kräfte in Bolivien befinden sich derzeit im Chaos. Wenn die zukünftige Regierung Paz/Lara jedoch versucht, die Wirtschaft durch ökonomische Maßnahmen zu sanieren, die vorhersehbar auf die Armen zurückfallen werden, besteht kaum Zweifel daran, dass die Bolivianer rebellieren werden, wie sie es seit Jahrhunderten tun. Wie so oft in der Zeit vor der MAS wird das Fehlen einer Linken in der Legislative, die harsche wirtschaftspolitische Gesetzesinitiativen zumindest abschwächen kann, mit ziemlicher Sicherheit zu erneuten Protesten auf den Straßen führen.
Es ist zu hoffen, dass dies den Volksbewegungen neues Leben einhaucht und ihnen eine Remobilisierung ermöglicht. Andererseits ist zu befürchten, dass anhaltende Spaltungen innerhalb der Linken – sowie die polarisierten Meinungen über die Person Morales – diesen Prozess zum Scheitern bringen.
Eine Wiedervereinigung der MAS-Fraktionen steht grundsätzlich im Raum, ist auf kurze Sicht allerdings unwahrscheinlich. Im März 2026 stehen Regional- und Kommunalwahlen an; und verschiedene Gruppen arbeiten bereits intensiv daran, in verschiedenen Teilen des Landes progressive Kandidaten aufzustellen. Ein Problem bleibt für alle: Es ist schwierig, verlässliche Parteistrukturen zur Unterstützung zu schaffen.
Der spektakuläre Zusammenbruch der MAS erfordert Aufarbeitung und eine Neubewertung der Lage. Dies wird Zeit in Anspruch nehmen. »Es hat sich herausgestellt, dass die MAS nicht in der Lage war, den Staat grundlegend zu verändern, und letztendlich wurde er zu einem bürgerlichen Staat wie jeder andere auch«, fasst Carmen Nuñez zusammen. »Dieses Versagen hat sich gerächt. Es ist unerlässlich, dass wir aus dieser Erfahrung lernen, damit wir eine tragfähige Alternative für die Zukunft aufbauen können.«
Linda Farthing ist Autorin, unabhängige Wissenschaftlerin und Journalistin. Sie hat vier Bücher über Bolivien geschrieben sowie unter anderem für den Guardian, The Nation und Al Jazeera berichtet.