06. April 2022
Jean-Luc Mélenchon könnte tatsächlich in die Stichwahl um das Präsidentenamt einziehen. Seine Partei La France Insoumise hat einen radikalen Plan, um Frankreich aus dem Würgegriff der Neoliberalen und Rechtsextremen zu befreien.
Mélenchon bei einer Wahlkampfrede, die zeitgleich in elf anderen Städten als Hologramm auf Bühnen projiziert wurde, Lille, 5. April 2022.
In den letzten Jahren hat Frankreich eine scharfe reaktionäre Wende vollzogen – und das nicht nur dank des Aufstiegs der migrantionsfeindlichen Marine Le Pen. Emmanuel Macron, der unter François Hollande von der Sozialistischen Partei (Parti Socialiste, PS) Finanzminister war, gewann 2017 die Präsidentschaftswahl mit dem Versprechen, »sowohl die Linke als auch die Rechte« zusammenzubringen. Doch in seiner Amtszeit hat er einen Mitte-rechts-Kurs verfolgt. Seine Regierung hat das Sozialsystem runtergewirtschaftet, autoritäre Maßnahmen gegen Demonstrierende durchgedrückt und regelrechte Hetze gegen angebliche »Islam-Linke« an französischen Universitäten geschürt.
Macrons Amtszeit war von sozialen Protesten geprägt, angefangen bei den Gelbwesten-Protesten, die im Herbst 2018 ausbrachen, bis hin zu den Streiks gegen seine Rentenreform. Das drängendste Anliegen der französischen Wählerinnen und Wähler ist ihre Kaufkraft – ein Problem, das sich durch die anhaltende Inflation noch verschärft. Bislang schien es, als würde es der Linken nicht gelingen, diese Frustration in Wahlergebnisse umzulenken.
Jean-Luc Mélenchon war zunächst einer von vielen Kandidierenden in einem dicht gedrängten Feld, das sowohl aufseiten der Linken als auch aufseiten der extremen Rechten sehr fragmentiert war. Doch die sinkenden Erfolgsaussichten von Kandidierenden wie Fabien Roussel von der Kommunistischen Partei (Parti communiste français, PCF), Yannick Jadot von den Grünen (Europe Écologie Les Verts, EELV) und Christiane Taubira von der Linken (Parti radical de gauche, PRG) haben den Fokus wieder auf den Vorsitzenden der France Insoumise (LFI) gelenkt. Im Rennen um die Teilnahme an der Stichwahl gegen Macron am 24. April rangiert Mélenchon mit starken 15 Prozent aktuell auf Platz drei, nur wenige Prozentpunkte hinter Le Pen.
Manon Aubry sitzt für France Insoumise im Europäischen Parlament und ist Ko-Vorsitzende der Partei der Europäischen Linken (EL). Im Interview mit David Broder von JACOBIN spricht sie über Mélenchons Wahlkampf und seine Chancen, den Teufelskreis von neoliberalen Reformen und identitärem Backlash in der französischen Politik zu durchbrechen.
Jean-Luc Mélenchons Umfragewerte sind auf rund 15 Prozent gestiegen. Wird er es in die zweite Runde schaffen – und wenn ja, wie würde sich das auf die Voraussetzungen der Debatte auswirken?
Wenige Tage vor den Wahlen hat Jean-Luc Mélenchon – aber dicht gefolgt darauf auch die Kampagne der Linken – eine echte Chance, in die zweite Runde einzuziehen, wodurch die rassistischen Rechtsextremen aus dem Rennen wären. Ganz egal, wie das Ergebnis dann ausfällt, würde sein Einzug in die Stichwahl daher schon einiges verändern.
Denn es würde den Wettstreit zwischen einem rechten Präsidenten wie Emmanuel Macron und einem rechtsextremen Kandidierenden bedeuten – und wirtschaftlich sind sie sich diese beiden Positionen in vielen Fragen einig: Sie wollen das Renteneintrittsalter auf 65 erhöhen, die Löhne einfrieren, die Präsidialmonarchie beibehalten und sie wollen den Reichsten weiterhin Steuergeschenke machen.
Wenn Mélenchon es in die zweite Runde schafft, werden wir endlich soziale Fragen diskutieren. Es wird eine Wahl geben zwischen der Rente mit 60 oder 65, einem Mindestlohn von 1.400 Euro netto oder weiterhin stagnierenden Löhnen, zwischen der Wiedereinführung einer Solidaritätssteuer auf Vermögen oder weiteren Geschenken an die Reichen, zwischen dem Weg zur Sechsten Republik oder der Beibehaltung der Präsidialmonarchie, zwischen grüner öffentlicher Planung oder einem destruktiven freien Markt.
Es würde bedeuten, dass wir nicht länger eine Debatte darüber führen, wie viele staatliche Arbeitsplätze abgebaut werden, wie viele Geflüchtete an der Grenze zurückgeschickt werden oder wie weit die Stigmatisierung von Musliminnen und Muslimen gehen soll.
Die Debatte über die tatsächlichen Fragen würde die Stimmung im Land völlig verändern, auch über die zweite Runde hinaus.
Bei der Wahl im Jahr 2017 fehlten Euch zum Einzug in die Stichwahl nicht einmal zwei Punkte. Was habt Ihr daraus gelernt? Ist es wichtig, die Zersplitterung der Linken zu überwinden und die »wütenden, aber nicht faschistischen« Protestwähler zu mobilisieren oder vielleicht sogar diejenigen, die normalerweise gar nicht wählen?
Für uns schließen sich diese Dinge nicht gegenseitig aus. Entscheidend für diese Wahl ist es, die Linke zu den Menschen und die Menschen wieder zur Linken zurück zu bringen. Wir müssen alle mobilisieren, die nicht dazu verdammt sein wollen, sich in der zweiten Runde zwischen Macron und Le Pen entscheiden zu müssen.
Wir müssen die soziale Frage in den Fokus rücken, insbesondere durch unseren Vorschlag zu Preiskontrollen als Reaktion auf die derzeitige sozialen Notlage. Wir fordern eine planvolle Klimawende, die Umverteilung des Reichtums und einen institutionellen Wandel hin zur Sechsten Republik. Für diese Vorschläge gibt es gesellschaftliche Mehrheiten in Frankreich. Genau diese Mehrheiten muss die Linke hinter sich versammeln, wenn sie in die zweite Runde kommen will.
»Unsere größte Herausforderung ist es, zu beweisen, dass Wahlen etwas bewegen können.«
Aber wir sollten uns auch nichts vormachen. Die Macht politischer Parteien, einschließlich der Linken, ist in Frankreich geschwächt. Unser Hauptfeind ist weder Macron noch Le Pen, sondern Verdrossenheit und Misstrauen. In den letzten fünfzehn Jahren waren drei verschiedene Parteien an der Macht, und keine hat für die Menschen irgendetwas bewegt – nichts hat sich verändert, außer dass die Bevölkerung immer ärmer wird. Unsere größte Herausforderung ist es, zu beweisen, dass Wahlen etwas bewegen können. Wenn wir uns für die zweite Runde qualifizieren, kann das auch dazu beitragen, diese Menschen wieder zu mobilisieren.
Die Entscheidung liegt jetzt in ihren Händen. Ich sage oft: Es gibt nur einen Ort, an dem normale Menschen mit einem Tycoon wie Bernard Arnault – dem reichsten Mann Frankreichs – gleichgestellt sind, und das ist an der Wahlurne. Arnault und seine ganze Clique von Milliardären werden für diese Wahl mobilisiert. Aber wir können das auch tun und wir sind in der Mehrzahl – und können dadurch auch etwas bewirken.
Nach dem Ende der Ära von Bernie Sanders in den USA und Pablo Iglesias in Spanien könnte das auch auf internationaler Ebene neue Hoffnung schenken. Denn gerade entsteht auch eine neue Linke, wie wir mit Gabriel Boric in Chile und mit Alexandria Ocasio-Cortez in den USA gesehen haben. In anderen Ländern hat die Linke gerade zu kämpfen – aber ein starkes Ergebnis in Frankreich würde unsere Genossinnen und Genossen in ganz Europa ermutigen und beweisen, dass wir es schaffen können.
Sanders, Iglesias, aber auch Jeremy Corbyn in Großbritannien hatten ihren Durchbruch alle mit einer populistischen Rhetorik, die sich gegen das Establishment positionierte. Doch in den darauffolgenden Wahlkämpfen schienen sie sich mehr darauf zu konzentrieren, »Progressive« oder die linke Wählerschaft zusammenzubringen. Hat France Insoumise nach 2017 einen ähnlichen Wandel vollzogen?
Dazu muss man zweierlei Dinge beachten. Das eine ist, dass wir 2017 die fünfjährige Präsidentschaft von François Hollande hinter uns hatten. In den Augen der Menschen war die Linke also an der Macht gewesen. Wenn wir also von Tür zu Tür gingen und sagten: »Hallo, wir vertreten Jean-Luc Mélenchon, wir sind die Linke«, dann entgegneten die Leute nur: Was hat die Linke denn für uns getan? Sie hat Arbeitsrechte ausgehöhlt, Großkonzernen Steuergeschenke gemacht und angedroht, Menschen mit Migrationsbiografie die französische Staatsangehörigkeit zu entziehen. Das Etikett »links« hatte damit seinen Wert und seine ideologische Orientierung verloren. Im Jahr 2017 war es also schwierig, sich als Linke zu positionieren. Heute behauptet Macron, »sowohl links als auch rechts« zu sein, obwohl er durchweg rechte Politik macht. Wenn wir ihm heute gegenübertreten, sind wir eindeutig die soziale Opposition im linken Lager.
»Wir müssen unser Wirtschaftsmodell grundlegend umgestalten, da reicht es nicht, hier und da kleine Verbesserungen vorzunehmen.«
Aber seit 2017 hat sich auch noch etwas anderes verändert. La France Insoumise war damals sehr neu und hatte wenig Erfahrung. Es hieß, dass nur Jean-Luc Mélenchon die Partei repräsentiere. Fünf Jahre später kandidiert er inmitten eines Teams von etablierten und bekannten Abgeordneten und Mitgliedern des Europäischen Parlaments. Im Jahr 2017 hat er zwei oder drei Kundgebungen pro Woche abgehalten. Dieses Mal sind Abgeordnete einmal pro Woche bei einem öffentlichen Auftritt in Städten in ganz Frankreich, Tausende Menschen strömen dorthin. Nur wir sind zu dieser kollektiven Mobilisierung in der Lage, was auch darauf hinweist, wie wir uns eine Regierung vorstellen: nämlich als Ausübung kollektiver Macht.
Eure Chancen auf den Einzug in die zweite Runde steigen, wenn ihr Wählerinnen und Wähler vom Kandidaten der Grünen, Yannick Jadot, abzieht. Er ist ein scharfer Kritiker von Mélenchon und lehnt die Idee einer »pragmatischen Stimme« für ihn ab. Er behauptet stattdessen, die einzige »pragmatische Stimme« sei eine für die Umwelt. Warum sollten ökologisch bewegte Menschen Mélenchon und nicht Jadot wählen?
Yannick Jadot scheint mehr Zeit damit zu verbringen, Jean-Luc Mélenchon zu bekämpfen als Emmanuel Macron oder gar die extreme Rechte, die sich überhaupt nicht um die globale Erwärmung schert. Das ist schade, denn Jean-Luc Mélenchon steht auf der Seite derjenigen, die den Klimanotstand ernsthaft bekämpfen wollen. Jadots Aufgabe sollte es eher sein, die Mitte-links-Wähler davon zu überzeugen, nicht für Macron zu stimmen.
Natürlich gibt es Überschneidungen zwischen uns und den Grünen (EELV). Es ist gut, dass es zwei ökologische Parteien im französischen politischen Spektrum gibt. Worin wir uns uneinig sind, ist die Frage, welche Strategie uns ans Ziel bringt. Wir sind der Meinung, dass wir die Klimakrise und die Herausforderung der planetaren Grenzen nicht innerhalb unseres derzeitigen Wirtschaftssystems bewältigen können und wir daher eine Politik des Umbruchs brauchen. Dazu müssen wir aber unser Wirtschaftsmodell grundlegend umgestalten, da reicht es nicht, hier und da kleine Verbesserungen vorzunehmen.
Das bedeutet auch, dass wir eine Strategie brauchen, um die Hindernisse, die sich uns in den Weg stellen werden, überwinden zu können. Viele Hürden stellen sich auf der EU-Ebene: Dort gelten bestimmte Regeln, die uns daran hindern, das Klimaproblem effektiv anzugehen.
Wenn wir beispielsweise morgen das Mittagessen in den Schulen kostenlos anbieten und nur noch Bio-Lebensmittel aus der Region verwenden wollen, dann verstößt das gegen das EU-Wettbewerbsrecht. Dieses sieht nämlich ein offenes Ausschreibungsverfahren für den Betrieb von Schulkantinen vor, doch eine solche politische Maßnahme würde nur eine Option begünstigen.
»Unseren Verbündeten in der Umweltbewegung sage ich, dass man die Hindernisse, die die EU dem Klimaschutz in den Weg legt, beseitigen muss.«
Oder wenn man etwa einen effizienten, staatlich verwalteten öffentlichen Nahverkehr aufbauen will, der die von der EU auferlegte Güterprivatisierung ablehnt, verstößt man damit gegen das EU-Recht. Und massive Investitionen in die ökologische Wende – insbesondere für den Übergang zu erneuerbaren Energien in der Landwirtschaft – sind nur möglich, wenn man die EU-Auflagen aufgibt, denn diese sehen ein Haushaltsdefizit von maximal 3 Prozent vor. Wenn man eine von Kleinbauern betriebene ökologische Landwirtschaft will, die im Einklang mit dem Planeten und den Kreisläufen der Erde ist, dann erfordert das eine tiefgreifende Umgestaltung der Agrarpolitik der EU.
All diese Vorschläge, die ich gerade genannt habe, sind mit den Regeln der EU unvereinbar. Unsere Strategie sieht daher vor, diese Regeln ernsthaft anzugehen. Die EELV beschränkt sich hingegen darauf, die anderen überzeugen zu wollen, was die Linke seit dreißig Jahren zu tun vorgibt. Auch François Hollande versprach, die europäischen Verträge neu zu verhandeln – aber er hat es niemals getan.
Unseren Verbündeten in der Umweltbewegung sage ich, dass man die Hindernisse, die die EU dem Klimaschutz in den Weg legt, beseitigen muss. Dieser Machtkampf muss auf europäischer Ebene ausgefochten werden, aber die EELV will sich dem bislang nicht stellen. Zuletzt möchte ich noch anmerken, dass Jadot immer wieder sagt, »angesichts der ökologischen Notlage liegt der wahre Radikalismus darin, zu regieren«. Da stimme ich ihm zu, und gerade deshalb muss der beste ökologische Kandidaten gewinnen – und das ist Jean-Luc Mélenchon.
In Eurem Wahlprogramm heißt es, dass Ihr Euer Programm umsetzen werdet, egal was die EU dazu sagt. France Insoumise hat auch verkündet, die Grenzen der EU-Verträge überschreiten zu wollen. Dennoch ist heute im Vergleich zu 2017 nicht mehr von einem »Plan B«, die Rede, also einem Austritt aus der EU. Wollt Ihr die bestehenden Regeln nur missachten oder geht es um konkrete Reformierungen der EU-Verträge?
Dazu lassen sich mehrer Dinge sagen. Erstens: Der Kontext hat sich seit 2017 verändert. Die Ära Angela Merkel ist vorbei. Die derzeitige Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, hat das schwächste Mandat in der Geschichte der Kommission. Aufgrund der Coronakrise wurden außerdem viele Regeln über den Haufen geworfen: die 3-Prozent-Schuldenregel wurde ausgesetzt; die Regel für staatliche Unterstützung, die das Recht auf freien Wettbewerb festschreibt, wurde ebenso pausiert. Daran sieht man, dass diese Vorschriften nicht sinnvoll sind. Selbst Marktliberale haben das verstanden.
Dank unserer Erfahrungen auf EU-Ebene haben wir heute außerdem ein besseres Verständnis unserer Kapazitäten und unserer Strategie. Wir wollen unser Programm um jeden Preis umsetzen – das ist unserer Leitlinie. Wir werden das Programm, für das wir gewählt wurden, nicht einfach aufgeben. Das ist das Gebot der Demokratie: erstens, weil wir die Menschen nicht belügen wollen, und zweitens, weil es uns die Gelegenheit bietet, die Hürden zu beseitigen, die wir erkannt haben.
Wir haben unsere Vorschläge mit den europäischen Vorschriften abgeglichen und sind dabei auf systemische Blockaden gestoßen. Einige davon habe ich bereits genannt, etwa in Bezug auf die Vergesellschaftung des Schienengüterverkehrs oder Investitionen in erneuerbare Energien.
Unsere Strategie steht auf zwei Säulen: Erstens ist eine Konfrontation innerhalb der europäischen Institutionen notwendig, etwa in Bezug auf Freihandelsabkommen. Solche Abkommen erfordern die Einstimmigkeit der EU-Mitgliedsstaaten. Ohne die Unterschrift Frankreichs wird es kein Abkommen mit dem Mercosur, mit China, Neuseeland, Kanada oder den USA geben. Wir haben hier also die Möglichkeit, diese Regeln zu blockieren.
Außerdem muss man die Kräfteverhältnisse innerhalb der EU berücksichtigen. Frankreich ist die zweitgrößte europäische Volkswirtschaft und ein Nettozahler für den europäischen Haushalt. Wir haben damit kein Problem und befürworten die europäische Solidarität natürlich. Aber diese Verpflichtung darf nicht gegen die Interessen Frankreichs und das Programm, für dessen Umsetzung wir gewählt wurden, verstoßen. Wir sind also bereit, auf Frankreichs wirtschaftliche Stärke zu verweisen, um unsere Verhandlungsposition zu stärken und um sicherzustellen, dass die EU-Regeln nicht gegen die Interessen der französischen Bevölkerung eingesetzt werden.
»Wir glauben, dass unsere Fähigkeit, die Regeln zu brechen, der beste Weg ist, um die Regeln zu verändern.«
Die zweite Säule ist der Ungehorsam. Die EU hat mehrere Regeln, die wir nicht einhalten werden, wenn wir an der Macht sind. Wir würden die Richtlinie über die »Entsendung« von Arbeiterinnen und Arbeitern nicht nutzen, denn sie führt zwischen Arbeitenden innerhalb der EU zu einem Unterbietungswettbewerb. Stattdessen würden wir sicherstellen, dass beispielsweise ein polnischer Beschäftigter in Frankreich das Recht auf den gleichen Sozialversicherungsschutz hat wie ein französischer Beschäftigter.
Dieser Ungehorsam ist auf EU-Ebene übrigens auch schon gang und gäbe. Macron selbst hält sich beispielsweise nicht an die Richtlinien zum Datenschutz. Macron hält sich außerdem auch nicht an die Vorgaben zu Arbeits- und Ruhezeiten in den Ministerien. Macron respektiert auch die europäischen Ziele für erneuerbare Energien nicht. Diese Regeln sind sinnvoll und daher wollen auch wir sie einhalten – aber es gibt auch Regeln, die uns davon abhalten, die Klimawende zu vollziehen, und diese werden wir missachten.
Wir glauben, dass unsere Fähigkeit, die Regeln zu brechen, der beste Weg ist, um die Regeln zu verändern. Dafür gibt es viele Präzedenzfälle. Deutschland hat kürzlich erklärt, dass Privatisierungen im Bereich der Wasserwirtschaft ausgeschlossen sind. Das gilt jetzt nicht nur für Deutschland, sondern für die gesamte EU.
Angesichts der aktuellen Energiekrise möchte Spanien die Energiepreise kontrollieren können, um sie für Privathaushalte senken zu können – auch das bedeutet eine Missachtung des EU-Wettbewerbsrechts. Diese Ausnahme wurde Spanien gewährt und auf die gesamte EU ausgedehnt. Wir können also gemeinsam mit anderen EU-Mitgliedstaaten unsere Forderungen stellen und somit das Konstrukt der EU neu ausrichten. Diese Veränderung ist notwendig, ansonsten wird das ganze Projekt gegen die Wand gefahren.
Es ist also vorstellbar, dass sich Frankreich über die EU-Gesetze hinwegsetzen und auf diesem Weg Veränderungen erzwingen könnte. Ihr sprecht aber auch über die Einberufung eines europäischen Gipfels.
Wenn Jean-Luc Mélenchon gewählt werden sollte, dann würde er für die verbleibenden Monate auch die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen. Wir haben vor, diese Zeit zu nutzen, um einen großen Gipfel einzuberufen, auf dem wir bestimmte EU-Regeln überprüfen wollen.
Bei dieser Gelegenheit könnte man etwa darüber debattieren, dass unsere Anfälligkeit für eine Energiekrise ein Ende haben muss. Dazu müssen Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben, ein, wie wir es nennen, öffentliches Energiepol mit einer öffentlicher Verwaltung zu schaffen. Das wäre eine echte Alternative zu der Zwangsprivatisierung, die uns die Europäische Kommission in den letzten Jahren aufgezwungen hat. Dadurch könnten wir sowohl die Frage der Energiepreise also auch die Frage der Energieunabhängigkeit gemeinsam angehen.
Uns geht es vor allen Dingen darum, eine Diskussion darüber anzustoßen und einige notwendige Maßnahmen festzulegen, bei denen Frankreich keine Kompromisse machen wird. Diese Chance wollen wir ergreifen und die französische EU-Ratspräsidentschaft nutzen, um einige starke politische Zeichen zu setzen. Das Gleiche gilt für das Ende der Austerität, die Finanzierung eines wirklich ökologischen und sozialen New Deals, der durch eine Besteuerung von Finanztransaktionen ermöglicht werden kann.
Bei Catalyst ist ein Beitrag erschienen, der vorschlägt, sich selektiv aus der EU zu desintegrieren und gleichzeitig aber auch in bestimmten Bereichen, etwa der Bekämpfung der Klimakrise, stärker zu integrieren. Was hälst Du von diesem Vorschlag?
Das folgt einer ähnlichen Logik, denn es bedeutet, dass die Debatte um Föderalismus in Abgrenzung zu Souveränismus heute keinen Sinn mehr ergibt. Man muss diese Fragen themenspezifisch angehen und in den jeweiligen Kontext setzen, denn es gibt Bereiche, bei denen »mehr Europa« tatsächlich angebracht ist. Das gilt etwa für das Gesundheitswesen, den Klimawandel oder der Bekämpfung der Steuerhinterziehung. Dennoch sollte uns das nicht daran hindern, bei Bedarf unilateral zu handeln, um nicht – wie in den letzten Jahrzehnten – durch den Rahmen der EU blockiert zu werden.
»Blockfreiheit heißt, imperiale Interessen zu erkennen und eine andere Form der Diplomatie vorzuschlagen.«
Um es mal an einem Beispiel konkret zu machen: Jeder Steuerbeschluss muss heute einstimmig von den Mitgliedstaaten angenommen werden. Die Zustimmung von Irland, Luxemburg, den Niederlanden und Malta – einigen der übelsten Steueroasen der Welt – ist also notwendig. Das schränkt unsere Möglichkeiten der Bekämpfung von Steuerhinterziehung und -vermeidung natürlich ein. In dieser Frage müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass wir das auch ohne ihre Zustimmung angehen werden. Wir haben aber auch vor, die Regeln zu verändern, und sind sogar bereit, europäische Steuerparadiese zu sanktionieren, um dieses Problem zu bekämpfen.
Gleich zu Beginn seiner Kundgebung auf dem Place de la République am 20. März lobte Jean-Luc Mélenchon den ukrainischen Widerstand gegen die russische Invasion. Er spricht sich auch für einen französischen Ausstieg aus der NATO aus und betont immer wieder, dass Blockfreiheit nicht automatisch Neutralität oder Isolationismus bedeutet. Wenn nicht Macron, sondern Mélenchon Präsident wäre und wenn Frankreich kein NATO-Mitglied wäre, wie würde sich das dann auf Frankreichs Rolle im anhaltenden Krieg in der Ukraine auswirken?
Zunächst einmal bedeutet Blockfreiheit in aller Linie, dass man keinem diplomatischem Block unterworfen ist. Das bedeutet nicht Isolation, es bedeutet vielmehr die geopolitische Situation mit klarem Blick zu betrachten. Es bedeutet, dass man Nein sagen kann, wenn die USA in den Irak einmarschieren oder wenn Russland in die Ukraine einmarschiert und wenn China eines Tages in Taiwan einmarschieren wird. Blockfreiheit beschreibt also nichts anderes als die Fähigkeit, Nein sagen zu können: Man hat dann keine systematischen Verbündeten, derenssen Strategie man immer gutheißen muss. Jeder Kontext erfordert eigene Allianzen.
Auch die Türkei zählt zu den NATO-Verbündeten. Ich bin mir nicht sicher, ob ich alles, was die Türkei unter Recep Tayyip Erdoğan derzeit tut, gutheißen möchte.
Blockfreiheit heißt also auch, imperiale Interessen zu erkennen und eine andere Form der Diplomatie vorzuschlagen, die den Prinzipien der Alterglobalisierung entspricht. Historisch betrachtet hat die Linke immer versucht, diplomatische Wege zu finden und auf diese Strategie kommen wir in der aktuellen Debatte jetzt erst wieder zu sprechen. Der Sozialist und Historiker Jean Jaurès sagte: Man kann keinen Krieg führen, um den Krieg zu überwinden. Wenn man auf einen Krieg mit Krieg reagiert, wird man diesen nur weiter eskalieren. Deswegen müssen wir alles in unserer Macht Stehende dafür tun, um Wladimir Putin dazu zu zwingen, an den Verhandlungstisch zurückzukehren.
Ich bin vorhin auf den Aspekt der Steuerhinterziehung zu sprechen gekommen. Wenn jetzt gesagt wird, man müsse das Vermögen von russischen Oligarchen beschlagnahmen, dann kann ich da nur lachen: Die Steueroasen sind so intransparent, dass wir gar nicht wirklich wissen, wo sich diese Vermögen überhaupt befinden. Eine Gruppe von Journalistinnen und Journalisten hat aufgedeckt, dass russische Oligarchen mindestens 17 Milliarden Dollar in Steueroasen geparkt haben. Die Europäische Kommission sollte vielleicht mal aufwachen und europäischen Steuerparadiesen, die die Liste von Vermögenswerten russischer Oligarchen nicht offenlegen wollen, mit Sanktionen drohen. Und wenn die EU-Kommission sich dagegen weigert, dann sollte Frankreich die Initiative ergreifen. Das zumindest ist unsere Vision einer blockfreien Diplomatie: Es geht darum, alle Druckmittel zu nutzen und um jeden Preis Frieden zu schaffen.
Blockfreiheit heißt, in jeder Situation eine unabhängige Stimme zu haben und sich die globalen Effekte vor Augen zu führen, um diejenigen zu überzeugen, die Druck auf Russland ausüben können. Ich denke dabei insbesondere an afrikanische Länder, die sich nicht gegen Russland gestellt haben. Wir müssen ihnen zuhören, aber auch versuchen, sie zu überzeugen. Denn wir müssen ihnen zeigen, dass uns die Nahrungsmittelkrise, die sie als Folge des Ukraine-Krieges erleiden könnten, nicht gleichgültig ist.
In diesem Jahr haben wir erlebt, wie begrenzt die vermeintliche Chancengleichheit bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich ist. In der ersten Runde hat sich Emmanuel Macron dagegen geweigert, mit den anderen Kandidierenden zu debattieren. Er ist nur bei inszenierten Medienveranstaltungen aufgetreten, gleichzeitig hat die Kandidatur des rechtsextremen Éric Zemmour in den Medien einen massiven Hype ausgelöst. Wie können wir diese Fokussierung auf Personen überwinden und den enormen Einfluss großer Medienkonzerne, die sie zu »Stars« machen, begrenzen?
Mit dem Thema der Medienkonzentration beschäftigen wir uns schon lange: Mélenchon hat das bereits in seinem Wahlprogramm von 2012 angesprochen. Heute, zehn Jahre später, sehen wir, was für politische Monster das geschaffen hat. Der Milliardär Vincent Bolloré, dem inzwischen ein großer Teil der französischen Medien gehört, hat dem rechtsextremen Éric Zemmour seinen Aufstieg erst ermöglicht. Bolloré hat es vollbracht, dass bei dieser Wahl ein Faschist als Spitzenkandidat antritt. Wir müssen dieses Problem ernst nehmen. Wenn auf diese Weise ein Kandidat praktisch aus dem Nichts geschaffen werden kann, dann stellt das eine echte Gefahr für unsere Demokratie dar. Deswegen müssen wir diese Medienkonzentration durchbrechen und in Frankreich wieder eine linke Medienlandschaft aufbauen. Momentan ist diese nämlich sehr schwach.
»Wir wollen uns die Demokratie, die uns in den letzten Jahren immer mehr entglitten ist, wieder aneignen.«
Dieses Phänomen ist jedoch nur ein Symptom einer tieferen Krise eines demokratischen Systems, in dem sich die Macht in den Händen eines einzigen Mannes bündelt – nämlich des Präsidenten. Den wählen wir nur alle fünf Jahre und in diesem Zeitraum haben wir keinerlei Kontrolle über ihn. Unter Macron hat sich das sogar noch verschärft, da er alles alleine entscheidet. Es gibt keinerlei Transparenz oder Rechenschaftspflicht. Auf diese Debatte lässt er sich selbst inmitten der Corona-Pandemie und in Vorbereitung auf die wichtigste Wahl in unserem Land nicht ein.
Aus diesem Grund wollen wir unser demokratisches System grundlegend neu gestalten. Wir wollen eine Sechste Republik. Nur so können wir die Kontrolle über die Politik zurückgewinnen und auch auf die wachsende Frustration und die extrem hohe Wahlenthaltung reagieren, die daher rührt, dass sich die Menschen im derzeitigen demokratischen System nicht repräsentiert sehen. Wir wollen die Verfassung neu schreiben, damit die französische Bevölkerung die Spielregeln mitbestimmen kann. Dies könnte eine Neugründung unserer Demokratie bedeuten.
Dabei geht es darum, den Bürgerinnen und Bürgern neue Rechte einzuräumen, damit sie zum Beispiel selbst Referenden einberufen können, so wie das auch die Gelbwesten gefordert haben, oder gewählte Beamte wieder abberufen können, wenn die Wählerinnen und Wähler mit ihnen nicht zufrieden sind. Es würde auch darum gehen, lokaler und kommunaler Politik mehr Einfluss bei der ökologischen Planung der Verwaltung öffentlicher Güter einzuräumen. Kurz gesagt: Wir wollen uns die Demokratie, die uns in den letzten Jahren immer mehr entglitten ist, wieder aneignen.
Die Fünfte Republik ist an ihr Ende gekommen. Diese Wahl ist eine Gelegenheit, sie von Grund auf zu erneuern.
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Manon Aubry ist für France Insoumise im Europäischen Parlament und Ko-Vorsitzende der Linken im Europäischen Parliament.
Manon Aubry ist für France Insoumise im Europäischen Parlament und Ko-Präsidentin der Europäischen Linken.